Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Umschau in Wien.

Die Wiener Altstadt hatte 1847 noch hohe Wälle, Basteien, und Tore, wie zur Zeit der Türkenbelagerung 1683, und ein breites Glacis, eine weite einförmige Rasenfläche trennte sie von den großen Vorstädten. Auf zahllosen Fahr- und Fußwegen, die das Glacis kreuz und quer durchschnitten, bewegten sich eilende Menschen, wie wandernde Ameisen, aus den Vorstädten in die innere Stadt und aus ihr in diese. Nur ein kleiner Teil, Brunnenglacis geheißen, war mit Anlagen als Park bepflanzt, der heutige Stadtgarten; er diente den Kindern als Spielplatz, und im Frühjahr tranken die Wiener hier Brunnen zur Kur. Wälle und Glacis sind heute verschwunden, ich fand mich nach 30 Jahren nicht mehr zurecht. Die prächtige Ringstraße umschließt jetzt die innere Stadt; große, den mannigfachsten Zwecken dienende Gebäude, Meisterwerke der Baukunst, erheben sich da, wo einst Wind und Staub ihr lästiges Wesen trieben.

Wir benützten in den ersten Wochen unseres Aufenthalts an den Werktagen jede freie Stunde, um die Merkwürdigkeiten der Stadt zu besichtigen, ihre Beschreibung erläßt mir der Leser gerne. Eine der schönsten Sammlungen, die mich besonders entzückte, die Esterhazygalerie, ist 1865 von Wien nach Ungarns Hauptstadt gebracht worden. – An Sonn- und Feiertagen machten wir Ausflüge in die reizende nahe und weite Umgebung, fast immer von dem schönsten Himmel begünstigt. Eine eigentümliche und billige Gelegenheit zu solchem Vergnügen gewährten die »Linienschiffe«, die draußen an den »Linien«, vor den Toren der äußeren, die Vorstädte umgebenden Wälle die Ausflügler erwarteten. Es waren Bauernwagen, sog. Leiterwagen, 355 mit Bänken; sie standen schon in frühester Morgenstunde bereit und entführten uns zu irgend einem der Dörfer in der Umgegend. Von da aus wanderten wir dann weiter nach vorgesteckten Zielen von Ort zu Ort, durch Feld und Wald, und kehrten meist erst spät am Abend zurück. Ueberall lagerte in Höfen und Gärten, unter schattigen Bäumen und am frischen Wiesenquell, fröhliches Volk und erfreute sich bei Zitherspiel, Gesang und Tanz seines Daseins. Diese Ausflüge gehören zu den schönsten Erinnerungen meines Wiener Aufenthalts.

Wir nahmen unser Frühstück in den Kaffeehäusern, unsere Mahlzeiten in den Speisehäusern der Alservorstadt, ausnahmsweise, je nach Umständen, in andern Stadtteilen. Die Wiener Küche stand unsrer heimischen nahe und mundete uns wohl, ebenso fanden wir die leichten Weine des Landes, mit Wasser gemischt, wie der Wiener sie trinkt, angenehm und zuträglich. Auch lernten wir bald die Küchensprache des Landes, bestellten uns zum Frühstück »Kapuziner« mit »Kipfeln« und zum Mittag- und Abendtische in der ersten Zeit mit Vorliebe Gerichte mit uns fremden Namen, was mitunter zu verdrießlichen Täuschungen führte. »Ungrisches Rebhuhn« erwies sich als gemeine Sülze, »Kaiserfleisch« als »geselchtes« Schweinefleisch, »Jungfernbraten« als »Schweinernes« mit Wacholder. Am schlimmsten fuhr ich an einem der ersten Abende mit »Paprika-Golasch«, zerstücktem Schmorbraten, stark gewürzt mit ungarischem Pfeffer. Wie höllisches Feuer brannte mich mein empfindlicher Gaumen die ganze Nacht, und ich litt unsäglichen Durst.

Die Preise für Wohnung und Kost verhielten sich zu denen in der Heimat, wie die österreichischen Münzgulden zum rheinischen Silbergulden, etwa wie 2 Mark zu 1 Mark und 72 Pfennig. Einige Aufzeichnungen aus meinem Tagebuch teile ich mit, einem und dem andern Leser mögen sie Interesse bieten. Für unsern »Kapuziner«, das heißt, den Kaffee mit »Obers« (Rahm, Sahne), am Morgen mit Kipfeln zahlten wir 10–12 Kreuzer Münz. Das Mittagessen bestand in der Regel aus Suppe, zwei Fleischspeisen mit Beilagen, einer Mehlspeise und einem Seidel weißen Wein. Die Speisen wurden auf der Karte ausgewählt. Essen und Wein zusammen kam für jeden höchstens auf 30 bis 40 Kreuzer Münz. Als Abendessen finde ich 356 einmal genau notiert Selchfleisch mit Knödeln nebst einer Maß Bier, bezahlt mit 23 Kreuzern Münz.

Eines Tages statteten wir dem berühmten »schwarzen Kamel« in der Altstadt einen Besuch ab, neugierig auf allerlei uns unbekannte Leckerbissen und Weine, die hier in besonderer Güte geboten wurden. Ein seltsames Servitut lastete auf der Wirtschaft. Die Speisen durften nicht auf einem Tischtuch, sondern nur auf einem Wachstuch vorgesetzt und keine Servietten gegeben werden, statt ihrer diente weiches, weißes Papier. Wir ließen uns Bologneser Mortadella und Gorgonzolakäse geben und tranken dazu alten Vöslauer, Tokaier und Cyperwein. Mein Anteil an der Zeche betrug 54 Kreuzer Münz.

Zweimal stiegen wir zu einem Abschiedstrunk mit Landsleuten in den Esterhazykeller hinab. Man nahm zu der Orkusfahrt Brot und Käse mit. Im Keller waren keine Stühle gestattet, man behalf sich zum Sitzen mit Holzklötzen zwischen den Faßgestellen. Als wir in das Licht des Tags zurückkehrten, tanzten die Straßen vor Freude uns wiederzusehen.

Im Winter machten wir sogar eine Fahrt unter die Erde, die ins Elysium führte, eine lange Reihe zu vergnügtem Treiben aufgeputzter Kellerräume, aus dem letzten führte eine Eisenbahn ans Ende der Welt, nach Australien.

Wie die Welt im Elysium, hörte die Wiener Gemütlichkeit bei den Kellnern auf, sie rupften, soviel sie nur konnten, die mit dem schlimmen Münzwesen Oesterreichs nicht vertrauten Fremden. Ihre Unredlichkeit wurde durch die doppelte Währung in »Schein und Münz« kräftig unterstützt. Der Kellner stellte die Rechnung in »Schein« aus, auch Wiener Währung genannt, der Gast zahlte in Konventionsmünze, »Münz« kurz genannt; jene verhielt sich zu dieser wie 5:2. Verlangte z. B. der Kellner 50 Kreuzer Schein, so zahlte man 20 in Kupfer oder Silber. Man mußte deshalb die Note stets im Kopfe umrechnen. Es war erstaunlich, wie rasch die Kellner dies auszuführen verstanden und nie zu ihrem Nachteil. Hierin, wie beim Addieren der Zeche und beim Herausgeben von Münze, erwiesen sie sich als Meister im Prellen.

Eine Menge Kupfergeld lief im kleinen Verkehr um und 357 beschwerte die Taschen. Es gab Kupfersechser im Werte von 6 Kreuzern Münz, größer als die silbernen Maria-Theresia-Taler, die in Baden als Laub- oder Kronentaler umliefen und 2 fl. 42 Kr. rheinisch galten. Neben diesen großen Talern liefen bei uns kleine österreichische Silbertaler zu 1 fl. 20 kr. um, auch vereinzelt noch Vierteltaler, genannt »Silberkäsperle«, endlich in großer Menge die österreichischen Silberzwanziger und Silberzehner, die 24 und 12 Kr. rheinisch galten und Sechsbätzner und Dreibätzner hießen. Man rechnete im Kopfe noch immer mit Batzen, obwohl es längst keine mehr gab; der Batzen bedeutete 4 Kreuzer rheinisch, etwa 11 Pfennige der heutigen deutschen Markwährung. Während alle österreichischen Silbermünzen bei uns Geltung hatten, wurde das österreichische Kupfergeld nicht angenommen.

Ganz neu waren für mich die Trinkgelder, die man in Wien den Zahlkellnern entrichtete, etwa zwei Kreuzer Münz nach Tische; diese Unsitte bestand am Rheine noch nicht.

Wir trafen noch eben rechtzeitig in Wien ein, um vor dem Schlusse der italienischen Oper Rossinis Barbier von Sevilla zu hören. Im Winter bescherte die deutsche Oper zwei Neuheiten, Flotows Martha und Meyerbeers Hugenotten. Es charakterisiert die damaligen Zustände in Oesterreich, daß Titel und Text der Meyerbeerschen Oper bei Hof und Geistlichkeit Anstoß erregten und in »Welfen und Ghibellinen« umgewandelt werden mußten. Eine der bedeutendsten Sängerinnen an der deutschen Oper war die aus Baden-Baden gebürtige k. k. Kammersängerin Anna Zerr, begabt mit einer prächtigen, umfangreichen Stimme; die Martha war eigens für sie komponiert.Bad. Biographien, Bd. 2, S. 357 u. f. Sie verscherzte 1851 Titel und Stelle, weil sie so unvorsichtig gewesen war, bei einer Gastreise in London, auf Bitten der Herzogin von Kent, der Mutter der Königin, im Salon des Lord Stuart zum Besten der ungarischen Flüchtlinge mitzuwirken.

Das Schauspiel im Burgtheater galt für das erste in Deutschland, nirgends wurden klassische Stücke besser aufgeführt. Auch dieses Theater zierten zwei Landsmänninnen aus Baden, die geistvolle Amalie HaizingerBad. Biographien, Bd. 1, S. 332. und ihre anmutige Tochter aus erster Ehe, Luise 358 Neumann, später Gräfin von Schönfeld, »ein gar lieber Narr«, wie unsere Wiener Bekannten meinten.

Erst später gelang es uns, Nestroy zu sehen. Er trat in einem seiner Stücke im Karlstheater auf, mit ihm spielte Scholz, dessen komische Kraft kaum ihresgleichen hatte. Scholz erschien am Ende des ersten Aktes, er hatte nur über eine Mauer auf der Bühne hereinzuschauen und ein paar Worte zu rufen: »Ha! da ist er!« Sobald sein drolliges Gesicht erblickt wurde, brach das Publikum, ehe er noch den Mund auftat, in ein riesiges Gelächter aus, das nach dem Fallen des Vorhanges noch lange anhielt.

Nach dem Theater machten wir eines Abends in ungewöhnlicher Weise die Bekanntschaft eines der Primärärzte am allgemeinen Krankenhause. Wir waren begleitet von einem jungen befreundeten deutschen Kollegen, der die Sucht hatte, Zitate in die Unterhaltung einzuflechten, namentlich aus den Schriften Lichtenbergs, für den er schwärmte, aber auch aus medizinischen Werken. Das Theater hatte uns heiß und durstig gemacht, und wir kehrten deshalb am Schottentor in einer Wirtschaft ein, wo man gutes Bier schenkte. Das Lokal war stark gefüllt, mit Mühe fanden wir an einem kleinen Tische, woran ein Herr in reiferen Jahren bereits beim Bier saß, drei freie Plätze. Wir begrüßten ihn, er dankte uns ruhig und ernst, wir setzten uns nieder und unterhielten uns über die gehörte Oper. Unser Freund verteidigte eben eine gewagte Behauptung und zitierte zur Bekräftigung des Gesagten wieder einmal seinen Lieblingsschriftsteller. Da fiel plötzlich der Herr in die Unterhaltung mit den Worten ein: »Entschuldigen Sie, das Zitat ist nicht ganz richtig, den Ausspruch hat nicht Lichtenberg getan, sondern Jean Paul Richter.« Unser Freund machte ein saures Gesicht, wagte jedoch nicht zu widersprechen. Wir wandten uns jetzt zu medizinischen Dingen, und es währte nicht lange, so zitierte er in einer anatomischen Frage Rokitanskys Handbuch. Zu unserm Erstaunen unterbrach ihn der Unbekannte, der immer mit gleichem Ernste unserem Gespräche zuhörte, abermals: »Sie erlauben, Rokitansky hat das nicht gesagt, sondern sein Schüler, Professor Engel in Zürich.« Diesmal nahm unser Freund die Berichtigung nicht schweigend hin, erregt erwiderte er: »Mein Herr, Sie mögen in der 359 schönen Literatur gut zu Hause sein, aber in medizinischen Dingen lasse ich mich nicht meistern, ich bin Doktor der Medizin.« »Ich auch,« sagte der andere gelassen, »ich bin Primararzt an dem allgemeinen Krankenhause.« Wir stellten uns gegenseitig vor, sein Name war uns bereits bekannt, wir wußten, daß er einer großen Abteilung für innere Kranke vorstand. Unser Freund machte gute Miene zum bösen Spiel und drückte dem Herrn Primararzt seine Freude aus, eine so angenehme Bekanntschaft gemacht zu haben. Wir erbaten uns alle drei die Erlaubnis, ihn am nächsten Morgen bei seiner Visite begleiten zu dürfen, was er zusagte.

Wir waren pünktlich auf die Minute in der Abteilung des Herrn Primararztes, die einige hundert Kranke verpflegte. Darunter waren Skorbutische in Menge, die uns ungemein interessierten. Der Skorbut war uns bis jetzt unbekannt geblieben, und in Wien herrschte er gerade epidemisch. Die Visite ließ uns keine Zeit, die Kranken genau zu betrachten; sie war ein Dauerlauf, ein medizinisches Wettrennen des Primararztes mit seinen Assistenten, wer am ersten durch die Säle komme; nur bei einigen besonders schweren Fällen wurde etwas ausgeschnauft. Nach der Visite, der Herr Primararzt hatte sich empfohlen, war einer der Sekundarärzte so gütig, uns mit einigen seiner Kranken noch etwas genauer bekannt zu machen. 360

 

 


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