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Zweihundert Vorlesungen und das geistige Wien

Ich wünsche mir einen einzigen Erfolg. Es möge endlich auch meinen dümmsten Lesern dämmern, daß der Autor, der mehr von sich selbst gesprochen hat als ein Dutzend über die Welt, in Wahrheit weniger seine eigene Sache führte als ein Dutzend von solchem Dutzend. Daß ich bereit war, jeden anderen Fall von geistiger Auseinandersetzung mit der Welt, der eben das, worauf es ankam, besser zur Gestalt brächte für den meinen zu setzen. Aber ich habe in einem Vierteljahrhundert keinen gefunden und niemand, kein Todfeind von mir, hätte ihn gefunden, und es gehört in das Armutszeugnis, welches ich dieser Welt anhefte: daß sie mich zum Prahler gemacht hat, zum Wortführer seiner selbst, zu der Figur, vor der sie sich nicht einmal des armseligsten Beweises ihrer flachen Optik schämen muß. Denn nichts kommt denen, die kein Werk zu vollbringen haben, hinter dem sie bescheiden zurücktreten können, gelegener, als einen, der hinter seinem Werk sichtbar bleibt, der Anmaßung zu überführen, wiewohl er sich doch nur anmaßt, was er ist, und, verzichtend auf jedes Außenmaß, nichts will als mit dem eigenen Werk gemessen werden und ein Beispiel geben, wie Mann und Werk für einander haften. Als wüßte ich nicht selbst, daß ich selbstbewußt bin; auch wenn ichs nicht so oft schon von ihnen gehört hätte. Doch besser als sie weiß ich: daß mein Zweifel stärker ist als mein Glaube, daß der Zerstörer vor sich selbst nicht halt macht, und wieviel einer, der nur sich gelten läßt, an sich auszusetzen findet. Es ficht mich nicht an, ob mein Kunstprinzip der Anfechtung unterliegt. Aber die Berechtigung dazu, sein unerbittlicher Sachwalter zu sein, erbringe ich dadurch, daß ich es am schonungslosesten gegen mich selbst anwende und weiß Gott ein selbstzersetzendes Element bin. Eitel und negativ: die Welt ahnt ja nicht, wie tief in eben diesen Eigenschaften ihre Kritik an mir wurzelt. Denn sie wird doch nicht zugeben, daß sie ein Problem ist? Daß der, der sie betrachtet, eine Aufgabe vollbringt? Nein, sie wird eher bereit sein, sich selbst herabzusetzen, ehe sie den bejaht, der sie negiert. Ihre letzte Finte der Einwand: Was kann an einem sein, der solchen Dreck wie uns angreift? Sie wird dem, der ihr falsches Gold enthüllt, die Nichtigkeit dieses Tuns an der Nichtigkeit ihres Werts beweisen. Und dennoch nicht aufhören, als Gold zu glänzen. Sie, die zu ihrem Fortkommen nichts braucht als Eitelkeit, hat mich beschuldigt, daß ich von ihrem Lebensmittel lebe, und sie weiß nicht, spürt nicht und hundert Erzengel könnten es ihr nicht in die Seele posaunen, daß die willige Aufnahme dieses Vorwurfs die stärkste Probe der Selbstentäußerung ist. Nie bin ich vor dem Schimpf, den ich zeitlebens als den ärgsten empfunden habe, mit dem das Motiv eines Weltkampfs verkleinert werden kann: eine Eigenschaft der Welt zu haben, zurückgewichen. Um wieviel leichter hätte ich es gehabt, wenn ichs getan hätte. Aber ich hätte kein anderes Gegenbild zur Hand gehabt als das meine, um der Welt zu zeigen, wie sie beschaffen ist, also das Außerpersönlichste zu sagen, das es nur geben kann; und solange ich nicht ein Teil von ihr bin und sie nicht anders darstellen kann als indem ich sie mit mir konfrontiere, erfülle ich das Maß einer Objektivität, wie es keinem Lebenswerk eines zeitgenössischen Autors abzusehen sein wird und möge er nie sein Ich zum Subjekt eines Satzes gemacht haben und immer nur die Welt zum Objekt. Ja, ich hätte gar nichts anderes zu ihrer sachlichen Einschätzung von ihr aussagen müssen, als daß sie mir, da ich sie in mir spiegle, Selbstbespiegelung vorwirft, und es wäre ein Bild, so vollgültig wie es kein Ironiker der Distanz zu schaffen vermöchte. Doch solange nicht jener Ausnahme eines Kreters geglaubt wird, daß alle Kreter lügen und er die Wahrheit sage, wird jede dieser Aufstellungen fortzeugend üble Nachrede gebären, denn es ist den Kretern auch wesentlich, nicht zu glauben und wenn sie mit eigenen Augen vor dem Schauplatz jener ruhmlosen Taten der Wortwelt stünden, die, mit unvorstellbarer Konsequenz bis zum Schluß und darüber hinaus getan, noch nie einen Laut der gemeinen Anerkennung geerntet haben, welche zu erstreben doch der ganze Sinn meines Tuns sein müßte, wenn die Welt recht hätte gegen mich.

Aber dieses Gebiet eines geistigen Privatlebens wollen wir nicht betreten, dessen verborgene Eigenschaften zwar werkaufregend sind wie die Glut eines Prometheus, des noch, nicht schon wachenden, und sich doch einmal in den Erfolg umschmieden, daß ihr flammender Atem in die Seele der wenigen übergreift was ja mehr ist als wenn er das Wasser der vielen bewegte. Nein, wir wollen das Gebiet betreten, wo sich die Energie, »mit Guß und Schlag auszubilden«, in unmittelbare Werkwirkung, zweckhafter und dem Prometheus gefälliger, umsetzt: das Erfolgsgebiet des gesprochenen Wortes. Und hier, im Angesicht der persönlichen Wirkung, würde der Verdacht gegen einen Lebenskampf, daß er aus persönlichem Grund zu persönlichem Zweck geführt werde, einen schweren Stand haben, wenn er den Mut hätte, den Stand zu beziehen, und nicht die Feigheit, der Probe auszuweichen. Müßte ich diesen Verdacht, der landläufig ist und darum nie zu stellen, in diesem Saale vertreten, ich müßte ihn wohl erst darüber beruhigen, daß einer, der zum zweihundertsten Mal spricht, zur Sache spricht, wenn er persönlich wird, und vielleicht sogar pro mundo, was er pro domo spricht. Aber das Land, das meinen Horizont für den seinen hält, ist unbesiegbar in einem Vorurteil und tauscht keine Tradition für ein Erlebnis. Der Doppeladler der Banalität, unter dessen Ägide ich mein Werk begonnen habe und dessen Schnabel nach der einen Seite mit dem Argument meiner Eitelkeit, nach der andern mit dem meiner negativen Anlage gewetzt wurde, ist unter veränderten Daseinsbedingungen als Phönix erstanden und kein Tag vergeht, wo ich nicht hundertfach Gelegenheit hätte, diese Argumente entgegenzunehmen, deren wahre Bescheidenheit und Nullität doch wie kein anderes Symptom des geistigen Zustands meiner Umwelt mich dazu berechtigen würden, eitel und negativ zu sein und meinem Herrgott zu danken, daß ich nicht bin wie jene. Und manchmal stehe ich wirklich mit etwas wie andächtiger Bewunderung vor dieser Zeit- und Ortsgenossenschaft, die mir ihre beispielgebende Selbstlosigkeit vor Augen führt, indem sie an mir tadelt, daß ich so kleine Gegenstände wie sie der Beachtung für würdig halte. Und wenn ich doch mein Lebtag eigentlich nichts anderes tue und besorge als wörtlich abzuschreiben, was sie sprechen und tun, so sagen sie, ich sei ein Niederreißer. Es genügt offenbar, daß ich auf die Welt gekommen bin, sie anzuschauen, so fühlen sie sich schon getroffen – und da soll einer nicht selbstbewußt werden! Gebärden sie sich, als ob sie etwas wären, und stelle ich sie beileibe nicht hin, wie sie sind, sondern nur wie sie tun als wären sie, so sagen sie, sie hätten doch schon immer gewußt, daß sie nichts seien, und wie ich mich nur mit so etwas abgeben könne. Ich habe es also schwerer mit ihnen als sie mit mir, ich nehme nur an den Taten Anstoß, sie schon an den Zitaten, und wenn es eines Beweises bedürfte für deren völlige Wirkungslosigkeit, die ich wahrlich mit zerknirschter Bescheidenheit erkenne, so wäre er wohl damit erbracht, daß sie, nachdem ich es nachgebildet, noch immer nicht aufhören, das zu sein, was sie sind, nein, sich für das auszugeben, was sie nicht sind, um immer wieder, wenn ichs ihnen sage, mir zu erwidern, sie wüßten es so wie so, das sei doch nichts Neues und von einer Zeitschrift wie die Fackel wolle man Neuigkeiten erfahren. Ich mag ja nicht davon sprechen, daß die stärkste Polemik (deren Autor dem Verdacht des Größenwahns die Stirn bietet, wenn er behauptet, in der polemischen Literatur der Deutschen vergebens nach einem Pendant zu suchen) nicht imstande war, irgendeines der sachlichen und persönlichen Übel, die sie betroffen, geschmerzt und vor der Welt entblößt hat, unmöglich zu machen, vielmehr dazu beigetragen hat, sie vielfach erst möglich zu machen. Denn hier steht eine Interessensolidarität auf, nach deren Gesetz alle, die in die gleiche Lage kommen könnten, zum Schutz des jeweiligen Opfers alles aufbieten, um keine Lücke im Weltbild merken zu lassen, eine Art Unfallversicherung, die sogar über den Schaden hinaus Entschädigung gewährt. Aber anders wäre in einer feinfühligeren Welt die Reaktion auf Satire. Die Akustik eines Zeitalters für künstlerische Wirkung ist keiner Übereinkunft, keinem gesellschaftlichen Plan unterworfen, und nichts vermag besser darzutun, daß sie abgestorben ist, daß wir einfach in einer Welt der Apparate leben, die diese Naturkraft nicht mehr haben, die keinem psychischen Antrieb mehr gehorchen und geradezu aus solchem Mangel konstruiert sind – nichts kann es besser dartun als das Fazit meines künstlerischen Wirkens, das ein Dummkopf ganz zutreffend mit den Worten formuliert hat: »Verspielt und vertan«. Macht Polemik heute möglich, so verschafft Satire das Ernstgenommenwerden. Lächerlich wird nur der Glaube, daß sie die ihr gemäße Wirkung haben könnte. Personen, die ich in szenische Gestalten und in die Romanfiguren meiner Glossenwelt transformiert habe, treten nach dem ersten Chok frohgemut aus dem Satzbau, in den ich sie einfing und der doch zumeist ihr eigener war, kehren zurück ins brausende Leben, das ihnen ganz und gar gehört, und werden daselbst von den Leidensgenossen oder Anwärtern des gleichen Schicksals mit Akklamation empfangen. Denn man hält auch die Satire für Polemik und assekuriert sich hier wie dort.

Nehmen wir die Schalek. Sie ist gewiß ein geringfügiger Gegenstand der Betrachtung, geradezu einer, den man schlechthin « Gegenstand« nennen könnte, wenn man sowohl dem Niveau wie dem Jargon der Auffassung entgegenkommen will, die in der Kunst den Begriff des Gegenstands und nur diesen anerkennt. Aber wenn ich bedenke, daß ich eine Szene aus ihr gemacht habe, in der ich mit den eigenen Worten ihrer Kriegsplaudereien den unsagbarsten Schauder, den wir erlebt haben, zur Gestalt bringe, daß ich nur mit jedem Nerv bebend diese Szene dem Ohr vermitteln kann, und daß die Heldin dennoch der beglaubigt fortwirkende Teil der Menschheit geblieben ist, an die sie sich nach wie vor wendet, so schaudert mir wahrlich noch mehr als vor dem Erlebnis des lorgnettierten Kriegsgreuels. Und nichts was ich je, im Tragischen oder obenhin Heitern, in der Richtung der Satire geschrieben habe, hat eine andere Fortsetzung in das Seelenleben der Gegenwart gefunden. Ja, ich kann wohl sagen, daß es eine solche Massenerzeugung von Rohstoff aus dem Kunstprodukt noch nie gegeben hat wie in diesen Tagen, wo die Neue Freie Presse den päpstlichen Segen und die Reichspost das Nachsehn hat, und wo die Originale nur Plagiate an mir sind, die mir zuvorkommen. Und da man schon bei der nachbildenden Art, in der ich Satire treibe, schwer genug Natur und Kunst auseinanderhalten kann, so tritt das gespenstische Wirrsal ein, daß man glaubt, alle diese Leute schrieben für die Fackel und nur das, was sie dann doch in der Neuen Freien Presse schreiben, wäre von mir. Aber die Leser, die in solcher Verwirrung leben, die haben wenigstens eine Wirkung von mir empfangen. Das Trostlosere ist die völlige Unverbundenheit der beiden Welten, der einen, in der die Satire entsteht und wirkt, und der umfänglicheren, die der natürlichen Wirkung zum Trotz nicht aufhört, die Objekte oder Anlässe der Satire ernst zu nehmen. Stellen wir uns also getrost auf ein völliges Mißlingen ein, das ich, uneitel wie ich da bin, zugebe, auf den Sachverhalt eines Nebeneinander, auf ein Verhängnis der Unwirksamkeit, das weder dem polemischen Angriff noch der künstlerischen Abziehung der Gestalt von dem irdischen Getriebe irgendeinen Eindruck auf dieses ermöglicht. Und wenn es mir gelänge, den Acheron zu bewegen, die Teufel dieser Erde werde ich nicht erweichen – kann ich von mir sagen.

Aber gerade diese Trennung der Sphären gewährt mir, die andere mit jener Klarheit zu erkennen, die sie mir durch keinen Widerstand abhandeln wird. Und wenn es ihr möglich wäre, mich auf dem Gebiet meiner literarischen Betätigung kleinmütig zu stimmen und vor die Frage zu stellen, ob denn nicht vielleicht meine Betrachtung die Schuld trage und das Bild schiefer sei als die Wirklichkeit – doch mich wandelt innerhalb meines Wortwirkens wahrlich ganz anderer Kleinmut an und ganz andere Zweifel machen mich bescheiden –: ein Gebiet gibt es, auf dem ich sie ihrer Unzulänglichkeit an mir mit Beweiskraft überführen kann, das Gebiet des gesprochenen Wortes, das doch die Probe jener unmittelbaren Wirkung ermöglicht, die den Wert als Macht einsetzt und also von dieser Welt ist und ihres Verständnisses sicher – das Gebiet, aus dem sie mit der ganzen verlegenen Feigheit, mit der sie sonst vor meinem Dasein verweilt, einfach davongerannt ist. Auch hier noch will ich ihr nach dem Maß der menschlichen Schwäche eine Ausflucht gönnen. Ich stehe heute zum zweihundertsten Mal vor Ihnen. Zu welchem Demonstrator der eigenen Macht müßte ich werden, wenn ich mit der gelassensten Objektivität diese in keinem Kulturzentrum erlebte Tatsache würdigen wollte und eben mit der stellvertretenden Verpflichtung für sämtliche geistigen Instanzen, die sie unbeachtet lassen. Es würde, wollte ich nur als einer der Munde, die darüber zu sprechen hätten, und für alle, die es schweigen, mit leidenschaftsloser Sachlichkeit, mit einer Aufzählung der äußeren Erfolgstatsachen mich vernehmen lassen, eine wahre Orgie der Selbstbespiegelung. Sie bleibt mir erlassen; denn wenn das gedruckte Wort sich über das vorausgesetzte Mitwissen und Mitfühlen der Anhänger getrost erheben mag und immer wieder die bekannte Handlung zwischen mir und der Gegenwelt zum neuen Werk erhöhen – das gesprochene, vor den förmlich Stoffbeteiligten gesprochene, muß ihnen in der Tat nicht sagen, was sie nicht nur wissen, sondern woran sie selbst gewirkt haben. Wenn das gedruckte Wort auch ohne Leser würde und wäre, die Hörer gehören zum Vortrag, der ohne sie nicht wäre, nicht wegen des fehlenden Ohrs, sondern wegen des fehlenden Elements. Aber nicht um Sie handelt es sich, sondern um die, die nicht hören. Nicht was diese zweihundert Vorlesungen waren, aber was die Gesellschaft ist, die um sie wissend sie floh, weil sie in ihrer unvernichtbaren Tatsache den Ausdruck der eigenen Ohnmacht erkannte – das bleibt zu sagen übrig. Und den Drang, diese Fülle von Absenz auszuschöpfen und das publizistische Phänomen dieser Tatsache darzustellen, den Antrieb, über das große Schweigen zu reden, wird dem, der es nicht abzuändern trachtet und der eine kulturhistorische Pflicht auch dann erfüllen muß, wenn sie ihn selbst betrifft und sie kein anderer erfüllt – solche Herzenslust kann ihm die Mißgunst als Selbstbespiegelung, doch nicht als Selbstgespräch verkleinern.

Ich habe den Angehörigen der andern Welt, die da mit weniger Neugierde an meiner Vortragstätigkeit beteiligt sind als die Erdenbewohner an den Vorgängen auf dem Mars (der aber zum Unterschied von mir Annäherungsversuche macht), eine Ausflucht gelassen. Ich bin noch weit mehr als sie selbst durchdrungen von der Unvorstellbarkeit des Falles, daß einer von ihnen einer Vorlesung aus meinen eigenen Schriften beiwohne, die doch in der Regel eine aus ihren eigenen Schriften ist. Als Kenner und Hüter der Gesetze, auf denen die Wirkung innerhalb eines Auditoriums zustandekommt, als einer, der diese Strömungen zwischen Podium und Publikum mit dem Ton, ja mit Hand und Blick regulieren kann, weiß ich um die Gefahren, die dem dargestellten Wort, und wäre es noch so stark, von der Ablenkung durch jene akustischen Fremdkörper drohen, zu welchen vor allem die optischen Augenmerke gehören. War in der Monarchie etwa die Möglichkeit, daß ein kunstsinniger Erzherzog, baumlang, in einem Saal Platz nehme – die ja für mich keineswegs zu befürchten war –, das stärkste Beispiel für solche Gefahr, so hätte für meine Vorlesungen jederzeit das persönliche Erscheinen eines der vielen, deren bloßer Name ein satirisches Inventarstück bildet und gleich die heiterste Assoziation erweckt – so hätte diese persönliche Begegnung des Stoffs mit der Satire eine vollkommen unerwünschte Sensation bedeutet. Ich hatte eine solche noch weniger zu fürchten als den Besuch aus dem Erzhaus, und das ist in Ordnung. Daß das ganze geistige Wien, vom ersten Dichter bis zum letzten Reporter, an der Tatsache dieser Vorlesungen vorbeilebt und nur weiterschafft, um ihr Programm zu bereichern; daß selbst Neugierde, wo sie vorhanden wäre, in Schranken gehalten würde durch den Selbsterhaltungstrieb, der doch nicht zuläßt, daß noch die leibliche Materie in den Mahlstrom dieser satirischen Wirkung gerissen werde, versteht niemand besser als ich. Daß sie von der Tatsache als solcher in ihren Drucksorten, mit deren Inhalt sie die öffentliche Meinung auszudrücken und nicht zu betrügen glauben, keine Notiz nehmen, verstehe ich eo ipso, da sie das Glück, bei ihrer Hinrichtung nicht persönlich anwesend zu sein, doch nicht dadurch verringern werden, andern dazu zu verhelfen. Auch wenn ich von der grundsätzlichen Weigerung, sie mit Freikarten zu versorgen, Abstand nähme – daß sie diesen Saal nicht betreten können, solange die Tarnkappen in der Garderobe abgegeben werden müssen, und selbst wenn sie sie aufbehalten dürften, ihnen unbehaglich zumute würde, begreife ich ganz und gar. Also da werden wir, um mit Nestroy zu sprechen, uns schon zusammenseparieren. Ich bin – mag ich auch manche Worte in Versen geschrieben haben – ein Niederreißer und wenngleich diese meine Praxis eine größere Kunstleistung bieten dürfte als sämtlicher in der Wiener Literatur vorrätige Aufbau – daß die Aufbauer und eben als solche von mir Niedergerissenen nicht Lust und Nervenkraft haben, die unkeuschen Blicke eines Auditoriums auf sich zu lenken, das Gegenteil sich nur vorzustellen, geschweige zu erwarten oder gar zu wünschen, wäre schon eine Gemütsroheit. Ich kann von der Schalek nicht verlangen, daß sie dabei ist, wenn ich sie im Chor der Offiziere auftreten lasse, ich kann vom Hans Müller nicht erwarten, daß er gute Miene zum Kriegsarchiv mache, ich könnte nicht unbefangen Darwin und Haeckel und Richard Wagner und Ibsen und Bruckner, und Edison und Marconi, Feuerbach und Nietzsche, Marx und Lassalle an Franz Joseph vorbeidefilieren lassen, wenn Herr Salten im Saal sitzt; und wie sollte ich Karpath zumuten, daß er Decsey einen Platz verschaffe, wenn es ausverkauftissimo ist und ich Seeigeleies vorlese? Dies alles sei ferne von mir! Aber innerhalb des Gebiets, auf dem ich das Versagen der offiziellen Mächte an mir dartun will, gibt es noch eines, zu dem mit Haltung Distanz zu wahren ihnen kein Motiv bleibt als die blanke Wut. Das sind jene Vorträge, in denen ich nicht mein eigenes Wort bediene und nicht den geringsten Spielraum habe, andere als positive Fähigkeiten zu beweisen, zu welchen man doch wohl die Gabe der Darstellung und die Bereitschaft, dem fremden Dichterwort zu huldigen, wird rechnen müssen. Jene Vorträge, zu denen ich mein eigenes Publikum erst im Lauf der Jahre völlig bekehrt habe, welches vielleicht noch heute nicht glauben wird, daß sie mir selbst die genußvolleren, erholungsreicheren, die einzig erwünschten sind, weil solche, die mich zu keiner anderen Verantwortung als zu der der Leistung verpflichten, der unbedingten Hingabe an das zu gestaltende Wort, und nicht über die Anforderung an mein Können hinaus mich zwingen, Eigenstes, Innerstes noch einmal aus dem seelischen Zusammenhang und, was beklemmender ist, unter die Kontrolle des Wortgewissens zu nehmen. Denn es werden mir ja wenige unter meinen überzeugten Hörern nachempfinden, daß ich im scheinbar ungehemmten und auch innerlich fortgelebten Vortrag noch mit der längst verhallten Zeile beschäftigt bin und daß endlich beruhigte oder erst erwachte Zweifel festgelegten Textes im Sprechen wieder die Attacke beginnen, weil sie sich eben die Reproduktion zur Gelegenheit nehmen, der noch nie eine häusliche Vorbereitung, Leseprobe oder auch nur Durchsicht, bloß die Arbeit an der Gruppierung für das Programm vorausgegangen ist. Als mein angespanntester Leser bis zum Augenblick der Druckvollendung, nach welcher ich noch keine Zeile von mir außer coram publico gelesen habe, nehme ich willig einen solchen Zwang nur auf mich, wenn es die Redigierung fürs Buch, also die Rückverwandlung ins Manuskript gilt. Unwillig gehorche ich ihm für die doch sachlich tief empfundene Notwendigkeit, Kampf und Kunst auch persönlich und zu unmittelbarer Wirkung auszutragen. Vor dem tiefen Mißgefühl dieser Unterwerfung, über die das sichtbare Behagen an der Wiederholung des satirischen Erlebnisses täuschen könnte, wahrt mich befreiend der Vortrag des fremden Textes, dem ich, wiewohl ihm gleichfalls noch nie eine andere Vorbereitung als die der Bearbeitung vorausgegangen ist, nichts schuldig bleibe, ohne daß er andere Rechte an mich geltend machte als die des Textes an seinen Darsteller.

Werden wir uns nun, einmal für ein Dezennium, der hier zuwegegebrachten Leistung in den höchsten Regionen des geistigen Schaffens reiner und positiver als alles was sämtliche Bühnen und Podien dieser Landschaft heute geben können, bewußt! Nicht um den Wert der Gabe zu messen – dessen bedarf's vor den Empfangenden, den Teilnehmern nicht –, nein, um uns den Unwert einer verschworenen Gewalttätigkeit vorzustellen, die, wissend, daß hier jahraus jahrein mit einer seelischen und leiblichen Unerschöpflichkeit, für die in ihren Reihen kein Beispiel aufzubringen wäre, der wahrhafteste Kunstbesitz im Gebiet des gesprochenen Wortes, der einzige in dem ihrer Stadt, dargeboten wird, eben solchem Beginnen den Boykott in jeder Form angesagt hat. Nicht daß sie es totschweigen; nicht daß sie nicht den Finger rühren, um ihr großes Publikum, welches sie redend und schweigend belügen, auf diese Möglichkeit, ohne Taschenraub zu Kunstwerten zu gelangen, aufmerksam zu machen; nicht daß sie alles dazu tun, um diese Verständigung, diese Verbreitung zu hindern – nein, das Schmählichste von allem ist der schon heroische Verzicht auf jede selbst im elendesten Schreibhandwerker noch nicht erstickte Lust, einen künstlerischen Eindruck auf sich wirken zu lassen, ist die Preisgabe eines Informationsdranges, der keinen Humbug im Kunstgebiet unversorgt läßt, ist die Selbstverleugnung der persönlichen Neugierde, welche doch da und dort vorhanden sein muß. Wahrlich, über das, was sich in meinem Rayon an künstlerischen Ereignissen begibt, ziehen sie es vor, auf dem Davonlaufenden zu sein! Noch nie – mit ganz spärlichen, kaum von der Erinnerung kontrollierbaren Ausnahmen – noch nie haben die Angehörigen dieses geistigen Wien, Dichter, Literaten, Journalisten, auch nur einer dieser 200 Vorlesungen, einer von jenen, wo ihnen, bei Shakespeare und Nestroy, Goethe und Hauptmann, bei Raimund und Altenberg, bei den deutschen Lyrikern, doch kein Haar gekrümmt werden konnte, beigewohnt, nicht einer einzigen dieser hundert Gelegenheiten, bei denen ich meiner Eitelkeit und meinem Zerstörerdrang im Dienst am fremden, so vielfach erst von mir zur Geltung gebrachten, wenn nicht von mir erst entdeckten Dichterwort frönen konnte. Und mußten doch nicht einmal fürchten, daß sie durch den Ankauf einer Karte zu diesen Abenden, deren ganzer Ertrag bis zu vielen hundert Millionen Zwecken zufloß, für die sie alle zusammen noch keinen Heller geopfert haben, die Tasche des Todfeindes unterstützen. Welche Schmach in alle Nachwelt, auf die ich, wie mir einer aus ihrer geistigen Gegend am Weihnachtstag schrieb, mir keine Hoffnungen machen soll, auf die aber immerhin durch meine Vermittlung sie selbst gelangen werden! Denn eine Hohnfalte meines Gesichtes hat ausgereicht, sie zu begraben und daß ihr Andenken daraus fröhliche Urständ' feiere. Welche Schmach in alle Nachwelt, der jene Tatsache allein und mehr als die Dokumente der zeitlichen Nichtswürdigkeit, die ich ihr überliefere, Aufschluß geben wird über die Beschaffenheit des Wiener Geisteslebens in diesem ersten Viertel des Jahrhunderts, zu dessen letzter Vollendung ich Ihnen am heutigen Tag nur eben das Glück wünschen kann, welches die Geistigkeit der Insel, auf der wir uns begegnen, bis heute von dem Pesthauch dieser Seelenlosigkeit abgesondert hat! Glauben Sie mir, ich fühle weniger Abscheu als Erbarmen mit dieser sich selbst ausstoßenden Sorte, die da wähnt, mich ausgestoßen zu haben, die vor ihren Leserschaften die geistige Autorität verkörpert und deren Angst vor den wirkenden Mächten der eigenen Koterie, deren Furcht, es könnte ihr eine Lüge entwunden werden, ihr verbietet, sich ein Erlebnis zu verschaffen, nach dem sie manchmal verlangen mögen und vor dem, selbst wenn sie in diesen Saal gezwungen würden und wenn man Säue vor Perlen würfe, aller Haß schweigen müßte. Mein Erbarmen könnte mich dazu hinreißen, ihnen, unter der Bedingung, daß sie davon nicht in ihren Zeitungen sprechen, freien Eintritt zu gewähren, ja ich gedachte schon, einen Saal mit Inkognito-Logen oder versteckten Ausgängen zu mieten, wo, wenn ihnen Goethe keine Sicherheit gewährleistet, doch zum Schutz ihrer Abhängigkeit und zur Wahrung ihres Anspruchs, unerkannt zu bleiben, alles aufs Beste eingerichtet wäre, die Gelegenheit selbst vom Feind nicht eingesehen und für den Zutritt, den Aufenthalt und auch den Abtritt mit aller Diskretion gesorgt. Aber ich weiß, sie würden trotzdem nicht kommen. Denn sie haben weniger Mut als selbst der Beruf, dem die Preßfurcht eingeboren ist, die Schauspielerschaft, die die Gelegenheit etwas zuzulernen doch schon gelegentlich, wenn auch selten genug, nicht ungenützt vorübergehen ließ. Die Literatur entsagt grundsätzlich der Möglichkeit, Dichterwerke in einer Gestaltung zu erleben, die ihrem kritischen Sinn die Vereinigung sämtlicher Ensembles der bestehenden Theaterbetriebe vorenthielte. Sie werden nie Nestroy rehabilitiert sehen, nie Lumpazivagabundus und Lear, Hannele und Helena hören und schauen, sie werden sterben – man stelle sich das vor –, ohne die »Weber« anders als in der Regie des Herrn Karlheinz Martin kennengelernt zu haben, anstatt sie von der wahren Raumbühne des Geistes und der entfesselten Leidenschaft zu empfangen. Sie werden nie die in der Geschichte der theatralischen Entwicklung unerlebte Tatsache überprüfen, daß ein Menschenmund alle diese Gestalten mit aller sie umgebenden Vielheit und Vielfältigkeit zu Gehör, nein zu Gesicht gebracht hat. Selbst nicht die feindselige Absicht der Kontrolle, ob denn dies alles wahr sei, was ihnen da seit Jahren das Gerücht zuträgt; nicht die Lust, mit Kompetenz einen verhaßten Prahler zu entlarven, der sich da vermißt, auf Programmen die Entsühnung dramatischer Werke von Burgtheateraufführungen zu verheißen; nicht einmal die Neugierde nach der absonderlichen, aus sich selbst wirkenden Tatsache der Publizität dieser Vorlesungen, der »vollen Häuser«, die ohne ihre Mitwirkung zustandegekommen sind, nichts, nichts, nichts, kein edler und kein gemeiner Trieb wird sie stacheln, einmal dem Schauspiel so vielfacher Erwartung, so vielfacher Erfüllung beizuwohnen. Nein, sie glauben alles, was man ihnen davon sagt, und eben darum bleiben sie fern. Kein Gedanke würde mir eine ärgere Pein verursachen als daß die Gesellschaft diese Veranstaltung in ihren Mündern und in ihren Rubriken führte gleich dem Kunstkram, zu dessen Aburteilung sie metiermäßig zu haben ist, und wenn es ihre Pflicht wäre, auf meinen Verdruß nicht Rücksicht zu nehmen, ich würde sie ihnen, um Ruhe zu haben, noch abkaufen. Nein, sie sollen, solange ich lebe, das Schweigen nicht brechen. Aber die korporative Entschlossenheit, einem geistigen Erlebnis aus dem Weg zu gehen, macht sie, wenn sie es nicht schon durch ihre Existenz wären, schuldig des Hochverrats an der Wahrheit, und kein Pfuiruf dränge stark genug von dem Podium des Selbstbewußtseins in das unsichtbare Parterre dieser Menschenfurcht! Es sollen nicht darstellerische Kunstwerte als solche, zugunsten des einen oder des andern, verglichen werden, wenn ich zu der Vorstellung auffordere, daß diese Zunft sich verschworen hätte, aus irgendeinem Grunde, der mit der Darstellung der Gioconda nichts zu tun hat – sagen wir, weil einer einmal aus dem Hotel hinausgeworfen wurde –, die Erscheinung der Duse nicht allein aus ihrer kritischen Tätigkeit, nein aus ihrer menschlichen Empfänglichkeit, nein aus dem zeitgenössischen Bewußtsein auszumerzen. Aber sie können nicht mehr anders. Sie würden jedem Fluch im »Timon«, den ich spreche, persönlich nehmen, jeden Satz im »Lear« als eine Anspielung empfinden, die »Pandora« als einen Angriff auf die Neue Freie Presse, und im Sinne der kosmischen Zusammenhänge zwischen den Höhen der Kunst und den Tiefen der Zeit hätten sie ja wahrscheinlich recht. Es möchte kein Hund so länger leben.

Aber ihre Absenz ist doch nur eine kleine Entschädigung für den großen Schmerz, den sie durch ein Faktum erleiden, welches durch sich selbst und nicht durch die Gnade besteht, die von ihrer Macht verliehen wird. Hundertfach verschärft durch das hundertfältige Erlebnis, daß diese Macht in ihrem eigensten Gebiet zur Wirkungslosigkeit verdammt ist und nicht nur nicht imstande, mit der ihr zu Gebot stehenden Quantität dem Schein der Qualität aufzuhelfen, sondern nicht einmal fähig, von ihr etwas an die Quantität abzugeben, an das Geschäft. Denn es stellt sich immer klarer heraus, daß Kitsch und Schund stark genug sein können, um das Publikum, zu dem die geistigen Autoritäten sprechen, auch ohne deren Empfehlung zu gewinnen. Das ist bei dem Amüsiergewerbe der neuen Operetten und »Revuen« der Fall und bei all dem Genre, zu dessen Ausübung eine angeborene Minderwertigkeit gehört, etwa wie mir einmal ein Athlet von seinem Metier bekannte: »Dazu muß man von Natur prostituiert sein«. Wenn die Manager dieser Fertigkeit noch mit Freikarten und Annoncen zahlen, so ist das hinausgeworfenes Geld, weil auf solchen Leim die Fliegen auch ohne Zucker fliegen. Aber jegliche andere Kunstbetätigung der Mittelmäßigkeit, die scheinbar der publizistischen Nachhilfe bedarf, kann sich deren Kosten ersparen, weil sie völlig wirkungslos bleibt. Die Konzert- und Vortragssäle stehen leer und die sogenannten Künstler bezahlen ihre Impresarios dafür, daß sie die Bezahlung einer Presse vermitteln, die mit täglicher Reklame dem Zustand nicht abzuhelfen vermag. Einer der Auguren (den ich aber bitte, einen Augur nicht für einen Argus anzusehen, oder gar für den Proteus, mit dem er ihn verwechselt haben dürfte), also Herr Salten weiß diesen Zustand als Sanierungssymptom zu deuten und sagt, es sei gut, daß die Zeit der ausverkauften Theater und Konzertsäle vorbei sei, denn es sei die Zeit der Inflation gewesen:

Die Leute ... drängen sich nicht mehr zu jedem Schmarrn. – Wir nähern uns ja in manchen Belangen, so nach und nach, halbwegs den Umständen und Bedingungen wieder, die einst, in Friedenstagen, geherrscht haben, und wir müssen Gott sei Dank dazu sagen. Der Pianist, der eine bekannte Dame mit der Scherzanwendung in sein Konzert lud: »Kommen Sie doch, sonst sind wir dreizehn«, hat die Situation, die heute, wie in den Theatern auch in den Konzertsälen herrscht, nicht allzusehr übertrieben. Geigt der Hubermann oder Prihoda, singt Battistini oder Selma Kurz oder Julie Culp, mit einem Worte, wenn eine Größe ersten Ranges auf dem Podium steht, dann gibt es einen ausverkauften Saal, sonst aber gähnende Leere oder Wattierung mit Freikarten, wie im Theater. Der Geldstrom rauscht eben nicht mehr in so hohen Wellen wie einst, als noch alle Welt vom Börsentaumel besessen war.

Auf meine dreißig- bis vierzigmal im Jahre gefüllten Säle, auf die ja die Verstimmung der Börse so wenig Einfluß hat wie die der Presse, scheint Herr Salten hier nicht angespielt zu haben. Aber selbst er, der allerdings kürzlich auf meine Eitelkeit angespielt hat, wird es mir glauben, daß mir nichts weniger nahe geht als dieser alleräußerlichste Ausdruck meiner Vortragswirkung und daß ich in ihr einen ganz andern Erfolg als den des Kassenausweises schätze. Aber kein anderer als eben dieser fasziniert ja die Welt, zu der Herr Salten spricht, und es wäre doch einmal interessant, wie sie sich zu der Tatsache stellt, daß, was eingestandenermaßen in ihrem Machtbereich der Quantität nicht gelingen kann, hier ohne die leiseste Aufbietung ihres Apparats zustandekommt, und daß der Niederreißer, auf den Herr Salten kürzlich angespielt hat – denn so weit dürfen sie notiznehmen – eben das vermag, was sie als die positivste Leistung schätzen, aber nicht vermögen. »Häuser machen«, also aufbauen. Daß die von Herrn Salten genannten Künstler ein- oder zweimal in der Saison ihren, abzüglich der Journalistenplätze, ausverkauften Saal haben, ist ein Resultat, das sie wahrscheinlich einer wochenlangen Presse- und Plakatreklame verdanken und das ihre Impresarios vielleicht auch mit weniger Kosten, an deren Aufwendung sie verdienen, erzielen würden. Aber wie geht es nur zu, daß die Presse selber die gähnend leeren oder wattierten Säle all der andern Künstler zugibt, für deren Empfehlung sie doch an jedem Tag Unsummen, nie einbringbare, aus ihren Taschen zieht? Es ist wahr, die Leute drängen sich nicht zu jedem Schmarrn, auch wenn sie noch so oft durch Kreuzelnotizen auf ihn gestoßen würden. Und daß dem so ist, hat einer mit einer Eindringlichkeit erfahren müssen, deren Beispiel in der Geschichte der Wiener Vortragssäle fortleben wird. Denn wenn Herr Salten meint, daß die Aufforderung des Pianisten, in sein Konzert zu kommen, weil wir sonst dreizehn sind, nicht übertrieben sei, so sind seine eigenen Versuche, vor das Publikum zu treten, ein Beweis dafür, daß zwar nicht eine solche Aufforderung, aber die approximative Schätzung, daß es dreizehn sein werden, sehr übertrieben ist. Die Anekdote muß erzählt werden, denn ihr Witz besteht eben darin, daß sie nicht erfunden ist. Nachdem ich zugunsten der hungernden Russen einige Vorlesungen gehalten hatte, deren materielles Ergebnis die Schufterei der Wiener Presse beschämte, welche den Leitern der russischen Nothilfe jede Notiz verweigert hatte, fühlte sich das Komitee angeregt, auch andere Künstler und Schriftsteller zu einer Betätigung aufzufordern, deren Wirksamkeit für den edlen Zweck zwar nicht vorweg gesichert war, aber von der Mitwirkung der publizistischen Gunst erhofft werden konnte. Mit Ausnahme des Herrn Richard Strauß ließen sie sich nicht vergebens bitten. Das Ergebnis war eine Vermehrung der russischen Hungersnot, an der Herr Salten insoferne den hervorragendsten Anteil hatte, als seine Vorlesung im Künstlerhaus abgesagt werden mußte, weil die Ankündigung in der Presse, die in diesem Fall, wenn nicht wegen der hungernden Russen, so doch wegen des Vortragenden, spontan und kostenlos erfolgte, ein geradezu sensationelles Resultat gezeitigt hat: es waren zwei Stehplätze verkauft worden. Eine Rarität, die doch allein schon einen Massenbesuch der Vorlesung gelohnt hätte. Wohl um das Aufsehen nicht zu vermehren, haben sich die beiden Verlustträger bis heute nicht zum Empfang der Eintrittsgebühr gemeldet, und der Veranstalter hofft, daß es durch meine Vermittlung geschehen werde; denn es war kein anderer als jener, der in der Mithilfe an den wohltätigen Werken, denen meine eigenen Vorträge gewidmet sind, so viel Selbstlosigkeit beweist und dem ich das Arrangement eines Salten-Abends für einen so guten Zweck wie den der russischen Nothilfe keineswegs verwehrt hatte. »Kommen Sie doch, sonst sind wir dreizehn« wäre also in diesem Fall schier eine Renommage gewesen. Nein, freuen wir uns, daß wir zwei solche Kerle haben! Aber ich fürchte, als Besitzer der Stehplätze, die sie so vorsichtig waren sich rechtzeitig zu sichern, bestehen sie auf ihrem Schein und werden sich nicht melden. Es heißt, sie stehen noch heute und warten auf die Vorlesung, bis sich die Sage um sie spinnt. Um Mitternacht, wenn ich nachhause gehe, sehe ich sie zuweilen um das Künstlerhaus herumschleichen, das ja an und für sich der Sagenbildung zugänglich ist, gesenkten Hauptes, sie sind traurig, und harren der Erlösung, daß ihnen einmal Herr Salten begegnet, an den sie eine alte Forderung haben. Neulich, als ich sie sah, mußte ich an die beiden Grenadiere denken, die in Rußland gefangen waren. Sie hörten die traurige Mähr, daß die Vorlesung abgesagt sei, und weinten zusammen wohl ob der kläglichen Kunde. Der eine hat Weib und Kind zuhaus, die ohne ihn verderben, der andere trägt weit besseres Verlangen, nämlich nach der Vorlesung zugunsten der Russen, die er aber gleichfalls betteln gehn ließe, wenn sie hungrig sind. Beide wären aus Treue gegen Salten entschlossen, den Kaiser, den Kaiser zu schützen! Wenn ich noch hinzufüge, daß die Begebenheit in der Zeit der Inflation spielt, wo die Leute sich doch zu jedem Schmarrn gedrängt haben, und nicht erst in der Zeit der Sanierung, so mag man ermessen, wie es um die einzige Kulturmission, die dieser Presse noch geglaubt werden könnte: Säle zu füllen, in Wahrheit bestellt ist. Sie ist nicht einmal imstande, das Publikum zu betrügen. Sie kann nur die Künstler betrügen, denen sie unter der Vorspiegelung, jenes noch zu können, Reklamegelder abknöpft. Sie versagt selbst als Propaganda der künstlerischen Tatsachen, als Reklamegelegenheit, als Litfaßsäule, sie versagt in ihrem ureigensten publizistischen Bezirk. Sie lebt nur vom Betrug der Schwachen, denen sie ihre Macht einredet, und sie mästet sich von der Furcht der Wissenden, daß sie, wo sie schon nicht nützen kann, doch schaden könnte. Aber daß sie ihren Lieblingen, ihren eigenen Autoren, deren Namen sie täglich auch gratis unter die Leute bringt, nicht zu helfen vermag, ist die weit blamablere Entblößung ihrer Scheinmacht als daß meine Gegenwelt des ganzen Plunders ihrer Reklame entraten kann, um zu bestehen, um nach Belieben den größten Saal der Stadt bis auf die letzten zwei Stehplätze zu füllen, ohne ihren Lockruf, ohne die Unsummen, die er kosten würde, auf die schlichte Programmnotiz hin, die bloße Schleife im Schaufenster des Kartenbureaus, ja auf Gerücht und mündliche Überlieferung hin, die einfach jene, die hören wollen, zu der Frage nach der Gelegenheit aufruft. Es muß doch etwas gegen die Reinheit des Spiegels beweisen, der den Leuten meinen Solipsismus vorspiegelt, daß ich für meine Vorlesungen sogar meine eigene Publizität nur im Nachhinein, für die Notierung ihrer Tatsache, in Anspruch nehme, aber die so ergiebige wie billige Annoncengelegenheit der Fackel fast durchaus verschmähe; und wenn eine Ankündigung gelegentlich in der Arbeiter-Zeitung erfolgte, war es klar, daß der Veranstalter nicht den Zweck der Werbung im Auge hatte, sondern bloß der Verständigung würdiger Interessenten über einen Termin, den sie nicht versäumen wollten. Man kann, ohne einer Übertreibung schuldig zu werden gleich dem Vorgeben, daß dreizehn bei der Veranstaltung eines Wiener Autors zugegen seien, ohneweiteres sagen, daß mit den Personen, die in meinen Sälen keinen Platz mehr erhalten, die der Wiener Literatur gefüllt werden könnten. Aber selbst die wollen nicht vorliebnehmen, denn die Zeit der Inflation ist eben vorbei. Man versteht, daß ich das Ereignis einer »Zugkraft«, die mich als äußere Erfolgstatsache bei Gott selbst nicht zum heutigen Anlaß feierlich stimmen würde, ausschließlich aus dem Grund erörtert habe, weil es weit und breit keinen kulturellen Umstand geben könnte, aus dem sich die Problematik der Presse in ihrer eigentlichen Funktion so sinnfällig herausstellt – so kraß, daß selbst die Werbekraft meines Programms für einen beliebigen Liebling stärker wäre als die der ganzen ihm zugänglichen Reklame –, und weil doch nichts so sehr in das Gebiet meiner Diskussion gehört wie die Entdeckung des Verfalls der käuflichen Autorität.

Doch wenn es je eine kulturelle Besonderheit gegeben hat, die der öffentlichen Darstellung wert und würdig war, so ist es nicht das äußere Maß meiner Wirkung, sondern das Ereignis der innersten Teilnahme, dieses Wunder einer aus sich selbst bewegten, nie ermüdenden, oft genug opferwilligen und unter Ausschluß andern Kunstgenusses bewährten Anhänglichkeit an ein geistiges Erlebnis, dem sie die Treue geschworen hat, die ich ihr mit dem Dank der Leistung vergelte. Wenn es ein Schauspiel in diesem elenden Jahrhundert gab, das der Betrachtung wahrlich wert war, so war es die Begeisterung dieser Jugend, war es der immer wieder ergreifende Anblick dieses Zudrangs der Seelen, der hoffenden und hoffnunggewährenden, zu dieser Inselwelt, auf der doch nichts als die Verzweiflung an der umgebenden Schmach und Lüge laut wird. Aber nie wird solchem Schauspiel, das alle musischen Begebenheiten dieser Außenwelt überstrahlt, aus ihr ein Lobredner erstehen, nie ein anderer als eben der, den noch die Dankbarkeit in den Verdacht der Eitelkeit bringen wird. Wir wollen stolz diesen Verdacht teilen, stolz auf den Beweis, daß wenn es überhaupt ein geistiges Wien gibt, es in diesem Saal, zwischen dem Tisch auf dem Podium und dem letzten Stehplatz, versammelt ist, stolz auf die Berechtigung, diesen Namen einer geistigen Fälscherbande entreißen zu können, am stolzesten aber darauf, daß wir, um uns zu begegnen, nicht ihrer Förderung brauchen, und um uns in glücklichster Wechselwirkung zu erleben, frei sind von der Anwesenheit jener, die nicht hören wollen, weil sie zu fühlen fürchten.


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