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Timons eigene Schrift

Einem Vortrag in Leipzig war das Folgende vorangeschickt:

Timon von Athen, Trauerspiel von Shakespeare, nach der Übersetzung von Dorothea Tieck für Bühne und Rundfunk von mir bearbeitet und sprachlich erneuert. Kenner verstehen, daß diese sprachliche Erneuerung den eigenen Schriften zugehört, welche ja nicht immer die Schmach der gegenwärtigen Menschheit betreffen müssen. Ich spreche das Werk in der Zeit der tiefsten Erniedrigung des heroischen Theaters, die bewirkt ist durch den zeitbedingten Mangel an Sprechern des heroischen Verses, dessen Vermögen jetzt als »Pathos« mißverstanden wird, und durch den Unfug einer Regie, die den nichtswürdigen Ersatz durch Nebenkünste bietet. Ich spreche es mit besonderer Beziehung auf das, was der bereits agnoszierte Ferdinand Bruckner gerade hier in Leipzig gegen Shakespeares Werk im Schilde führt und was sicherlich größeren Zulauf finden wird als der heutige Vortrag.

Und nun für Wien:

Vor einem Vortrag des »Timon« muß meine Abneigung gegen die »eigenen Schriften« als bekannt vorausgesetzt werden wie auch die Tatsache, daß sie keineswegs imstande ist, das öffentliche Interesse für Autoren, die ich lieber vortrage, zu steigern. Ich spreche zu einem Publikum, das heute nicht erschienen ist, teils weil es sich durch den »Timon« persönlich verletzt fühlt, teils weil es ihn bereits vom Burgtheater kennt. Wenn ich mit diesem Publikum nichts gemein haben möchte, so am wenigsten die Sympathie für meine Schriften, deren Mißverständnis ihren Erfolg verbürgt. Die Abneigung gegen ihren Vortrag, schon lange in eben den Zeitverhältnissen begründet, von deren Stoff sie bezogen sind, wie auch in der besonderen Art einer Wortverbundenheit, die die physische Vertretung zur Qual macht, indem sie den Autor in die Arbeit zurückwirft – diese Abneigung steigert sich immer mehr durch das Erlebnis, das, was ich doch sicherer kann und unstreitig besser als es andere könnten, nur von einer Minderzahl begehrt zu sehen, die mich in einem Vers von Shakespeare und in einer Notenzeile von Offenbach so gut erkennt wie in einer Glosse. Diese Abneigung steigert sich durch den Zwist, in den ich mit einem Anhang geriet, der mich gebrauchsfertiger gewünscht hat; sie nährt sich geradezu an dem kontrastvollen Erlebnis, das der Zulauf zu den eigenen Schriften bedeutet, deren Vortrag vor solchem Auditorium nicht nur in die Arbeit, sondern auch in den Stoff zurückwirft: an dem Kontrast solcher Zugkraft mit der Erinnerung an die Verlassenheit eines Wintermärchen-Abends. Vollends könnte nun die Erfahrung, wie die fehlenden Hörer dem »Timon« auch als Leser abhanden kamen, zu einem Entschluß führen, der dem Herzpunkt der Dichtung nahekommt. Dieser »Timon«, mit dessen Gastmahl, die begehrten Leckerbissen verheißend, ich einst die falschen Freunde betrügen mußte – solche, die ganz gewiß seiner Entehrung im Burgtheater freiwillig zulaufen –, er hat das Schicksal, auch von jenen Lesern, die angeblich nicht einzig der Materie, nicht bloß der moralischen Beweiskraft der Zeitkritik, sondern auch dem Geist und Sprachwert verbunden sind, im Stich gelassen zu sein. Wäre denn sonst die Groteske zu begreifen, daß den Tausenden Lesern der Fackel, deren Kauflust ich leider in Anspruch nehmen muß, um der würdigen Minderzahl die Lektüre zu erhalten, 150 Käufer der sprachlichen Neuschöpfung des »Timon« gegenüberstehen, von denen ein Teil vielleicht noch der aktuellen Schmach der Burgtheateraufführung zu verdanken ist. Kaum mehr als hundert Leser der Fackel, in der das Erscheinen doch keineswegs verschwiegen war, haben in anderthalb Jahren die so billige Anschaffung einer sprachlichen Arbeit vorgenommen, deren Studium und Vergleich mit den vorliegenden Fassungen ihnen so gut wie eine Sprachlehre den Weg zu den Werten zeigt, die lebenswichtiger sind als aller politische Betrug, der in der Welt der Sprachfäulnis und Phrasenwucherung die Lebenssorge erst hervorgebracht hat. Es ist ein Faktum, mit dem selbst das Schicksal der Buchausgabe jener im Saal bejubelten »Zeitstrophen« nicht vergleichbar erscheint. Der Humbug des Ferdinand Bruckner, der ohne mich überhaupt nicht gewußt hätte, daß es einen »Timon« von Shakespeare gibt, beschäftigt nicht nur sämtliche deutschen Bühnen, sondern dürfte bald auch in keiner Bibliothek fehlen. Denn er hat ehrlose Presse hinter sich, der keine Schandtat am Geiste frech genug sein könnte, eine Presse, die hinterdrein erst die ganze Nichtswürdigkeit einer Menschenwelt zu beglaubigen scheint, der Timons Fluch gegolten hat. Wie sollte sie zwischen meiner Leistung und jenem Bruckner'schen Olymp schwanken, der nicht ungeschickt Züge des späteren Tandelmarktes vorwegnimmt? Und doch würde man fehlgehen, wenn man meinte, daß die Meinenden nicht über den Unterschied Bescheid wüßten. Einmal in einem Vierteljahrhundert geschieht es, daß einer unter ihnen den Zwang nicht mehr erträgt, immer nur die Lüge reden und die Wahrheit verschweigen zu müssen. In Wien freilich würde es ihm nicht gelingen, anders zu tun, und so kann, was ihm am Herzen liegt, nur im Ausland publik werden. Dem Kritiker der Neuen Freien Presse Ernst Lothar wurde es kürzlich leicht, an dem bisher verkannten Wert einer Tänzerin publizistisches Unrecht gutzumachen: schon »eine halbe Unbemerktheit zwang ihm die Feder in die Hand«. Und er hatte immerhin den Mut, einer ähnlichen Empfindung im Hamburger Fremdenblatt Ausdruck zu geben, indem er eine Kritik des Brucknerschen »Timon« mit den Worten schloß:

Man vergleiche mit dieser Neufassung, die Shakespeare verleugnet, die Bühnenbearbeitung und sprachliche Erneuerung, die Karl Kraus dem »Timon von Athen« beispielhaft hat angedeihen lassen, um des Unterschiedes ganz gewahr zu werden: hier ein Bearbeiter, der ein gewaltiges Werk unvergewaltigt neu und groß erweckte, dort ein Nichtbearbeiter, der dem Geist der Ewigkeit Gewalt mit Zeitgeist tat.

Und er hat sogar den Mut, es mir mit dem Bedauern, daß es »verspätet und in der minder sichtbaren Literatur-Rubrik erschien«, zuzusenden, und mit den Worten:

Denn es liegt mir sehr daran, den Anschein zu vermeiden, als hätte auch ich die selbstverständliche Pflicht verabsäumt, einer Timon-Vergewaltigung die Bedeutung Ihrer Bearbeitung entgegenzuhalten. In aufrichtiger Verehrung

Ihr Ernst Lothar

Das ist – abgesehen von dem Beweis persönlichen Mutes, der eine Überzeugung, die die Neue Freie Presse nicht annehmen würde, via Hamburg der Publizität der Fackel überläßt – keineswegs unerheblich durch den Vorsprung, den ein Mitarbeiter der Neuen Freien Presse vor den Lesern der Fackel hat: im Gegensatz zu ihnen hat er den »Timon« gelesen und verglichen. Es macht den Literaturskandal, den die Aufnahme einer Sprachleistung durch die patentierte Anhängerschaft gefunden hat, vollkommen. Und es könnte das Erlebnis selbst für jene Sorte anschaulich machen, die den Herausgeber der Fackel zwar verehrt, aber seine Bücher nicht kauft und deren Anzeige auf dem Umschlag der Fackel verdächtig findet. Was er erlebt hat, ist eine Fortsetzung des Timon-Gedankens in die Flucht vor dem Dichter, ein Zuwachs an Erkenntnis menschlicher Hinfälligkeit, von dem eine gewisse Symbolkraft in Werk und Vortrag zurückschlägt. Es ist eine Erfahrung, deren Bitternis von den Zeitumständen durchaus lösbar scheint und ausschließlich an dem Problem eines Anhängertums haftet, das heute selbst den Druck der eigenen Schriften problematisch macht. Nicht allein der Sprecher, auch der Autor könnte dahin kommen, sie denen vorzuenthalten, die ihre Sprache zu sprechen und zu verstehen vorgeben, kurzum sie in Ländern, wo deutsch gesprochen wird, auch nicht mehr zu schreiben – eine Möglichkeit, die nur noch abgewehrt wird durch die Verpflichtung des Gebenden an einen Kreis von Dankbaren. Denn was hätte man sonst dort verloren, wo längst nicht nur das Kämpfen vergeblich, sondern auch das Lachen unziemlich geworden ist, also innerhalb der Gesellschaft, die mit der ausschließlichen Kenntnis eines einzigen Goetheworts und ohne jede Kenntnis der Worte, mit denen Goethe sein Grauen vor ihr bekundet hat, die Stirn aufbringt, ihn zu feiern!


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