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Goethe-Feier bei den Tschechen

Über und fern der Niederung, in der der politische und nationale Mist abgelagert und von Lumpenkerlen, deren Geschäft es ist, verbreitet wird; von Mist und Zwist unberührt, hat in Prag eine kulturelle Feier stattgefunden, indem vor tschechischen Studenten Goethes »Pandora« vorgetragen wurde. Der Germanist der tschechischen Universität Professor Otokar Fischer leitete den Abend mit einer Ansprache ein, die in deutscher Übersetzung den folgenden Wortlaut hat:

Meine Damen und Herren,

Goethes Pandora, die im Klub der modernen Philologen zum Vortrag zu bringen sich unser Wiener Gast, der Dichter, Ethiker und Kritiker Karl Kraus bereit erklärt hat, ist ein im Jahre 1808 als Fragment entstandenes Festspiel und seine deutsche Wiedergabe auf tschechischem Boden möge als ein Bestandteil der Gedenkfeiern aufgenommen werden, mit denen sich unsere Kulturöffentlichkeit im Gedenkjahr zu dem Kultus des erhabenen Schöpfers und seines klassisch-romantischen Verhältnisses bekennt. Wie der zweite Teil des Faust und wie der Westöstliche Divan ist auch der Pandora-Torso ein Gebilde, in dem das Streben nach einer Synthese der Stile und Zeiten seinen Ausdruck findet; auch diese Veranschaulichung von des Prometheus und des Epimetheus gegensätzlichen Bruderschicksalen ist durch die Tiefe und Weisheit von Goethes Greisenjahren und durch den dualistischen Zug gekennzeichnet, der die Grundlage seiner Persönlichkeit bestimmt. In dem sechzigjährigen Dichter lebt wie einst in dem jugendlichen Stürmer und Dränger titanischer Trotz und prometheisch werktätige und harte Schöpferkraft, der sich aber, mit erhabenerer Ergriffenheit als je zuvor, die epimetheische Anbetung der Schönheit zugesellt, die unserer Sinnenwelt die Seele eingehaucht. Der Sphäre des Prometheus leiht Goethe den werkfreudig hochgemuten Gesang der Schmiede, die Sphäre des Epimetheus aber begabt er mit seiner innigsten Zartheit, mit dem Gefühl scheidender Liebe, mit der Sehnsucht nach verrauschter Jugend und mit der treuesten Gabe seines Gedenkens. Pandora, für welche der von dinghaftem Daseinsinhalt erfüllte Prometheus nicht zu entbrennen vermochte, war einst die geliebte Gemahlin des Epimetheus und gab ihm zwei Töchter, deren eine sie seiner Obhut beließ; sie selbst tritt in dem ausgearbeiteten Textfragment überhaupt nicht auf, steht aber dennoch im Mittelpunkt der Handlung und der brüderlichen Zwiesprache, wird von dem elegischen Epimetheus als die Verkörperung beseligender Verlockung und als Spenderin menschlichsten Fühlens angerufen. Ihr Liebeszauber ist ihrer Tochter Epimeleia verliehen, zu der des Prometheus Sohn Phileros in vernichtender Leidenschaft entbrennt. Die schicksalhafte Liebe der beiden jungen Menschen, deren Väter durch Bande des Blutes und durch Nichtübereinstimmung der Naturen verbunden sind, ergibt den Rahmen der Handlung, der hinreichend Raum gewährt zur Abkontrastierung von Reife und Jugend, aber auch eine Inhaltsfülle zeitgeborener Empfindungen und Sehnsüchte in sich aufnimmt. So wie das Europa von heute, war auch Goethes Welt vor hundertzwanzig Jahren Zeuge erschütternder Stürme, zu einer Zeit, da die Pause zwischen zwei Kriegen als das ersehnte Kommen des Ewigen Friedens begrüßt wurde; so wie heute wir, war auch Goethe von dem Zivilisationstraum von ungestörtem Wirken auf einer befriedeten Erde durchdrungen, und die symbolische Handlung, wie Pandora wiederkehrt und die Menschheit mit ihren Gaben beglückt, wäre in den weiteren, nicht mehr ausgeführten Abschnitten zu einem Hohelied auf die Segnungen der Kunst und in weiterem Sinne der Geisteskultur gediehen.

Schon dieser knappe Abriß von Goethes Werk und Vorhaben deutet an, daß es in der Pandora um alles eher zu tun ist denn um eine altgriechisch-dekorative Allegorie, daß im Gegenteil in dieser Dichtung das heißeste Blut pulst, das sehnsüchtigste Gefühl spricht und zugleich über ein ganzes Jahrhundert hinweg eine von kulturschöpferischem aktuellen Inhalt erfüllte Botschaft vernehmbar wird. In einer Sprache, die mit ihrem Wechsel der Zeitmaße, ihrer Abstufung der Lebensalter und Temperamente, ihrer wehmutsvollen Schönheit und Wirkungsgewalt geradezu herausfordert, daß sich an den Vortrag dieser dramatischen Symphonie ein über dramatische Sprechgewalt verfügender und für Goethes strenges Ethos hellhöriger Künstler wage. Des Inhalts der Dichtung als auch ihrer Form inne zu werden, ist von Bedeutung in dem Augenblick, da wir uns anschicken, Karl Kraus gerade bei der Lesung von Goethes Pandora zu vernehmen. Denn es ist gewiß kein Zufall, daß seine Wahl auf diese lange Zeit hindurch verkannte Schöpfung Goethes gefallen ist. Ein Kritiker, dem völlig fremd ist die pauschalmäßige Anhimmelung des vermeintlichen Olympiers, und erst recht der Jubel über seine geflügelten Worte und manche durch ein Übermaß an Zitiererei banalisierte Gedichtstelle, entschließt sich umso freudiger zu Entdeckung und Rehabilitierung, hebt umso inbrünstiger das vollblütige Menschentum und die Gefühlsbezauberung des großen Dichters hervor, betont umso prägnanter, was an den Gebilden des überzeitlichen und vermeintlich unzeitgemäßen Denkers und Dichters mit ewiger Zeitgemäßheit begabt ist und daher doppelt nottut in der schwülen Unrast unserer Tage. Indem wir Karl Kraus als den Sprecher von Goethes Pandora begrüßen, werden wir uns mit Dank bewußt, daß es der gleiche Karl Kraus ist, der als einer der ganz wenigen und einer der ersten ein teilnahmsvolles Verständnis hatte für die erdgebundne Tragik der Pandora Frank Wedekinds, werden uns mit nicht geringerem Dank bewußt, daß es derselbe Karl Kraus ist, der so oft den Willen und die Kraft bewährt hat, der Zeit voranzueilen und gegen den Strom zu schwimmen, auf seine eigenste Gefahr und mit dem persönlichen Risiko, daß seine Bedeutung verzeichnet, daß sein Name totgeschwiegen werden wird.

Bekennen wir uns nun zu dem Schriftsteller und Vortragskünstler, von dem die deutsche Öffentlichkeit oft und oft so beredt zu schweigen versteht, so haben wir dazu freilich noch ein paar besonders zwingende Gründe. Die tschechische Germanistik ist sich ihrer Aufgabe bewußt, durch Forschung, Kenntnis und Methoden mit den zentralen Stellen ihrer Fachdisziplin zu wetteifern, bewußt einer Aufgabe, die aber gleichzeitig die völlige Unabhängigkeit sowohl in Dingen der ästhetischen Einreihung als auch der kulturpolitischen Wertung gebietet. Wie oft geschieht es doch, daß wir bei deutschen Schriftstellern vom nationalen wie vom europäischen Gesichtspunkt aus eine gewisse reservatio mentalis bewahren müssen, die durchaus nicht zuläßt, daß wir uns mit ihren Standpunkten identifizieren; wieviel Trennendes müssen wir uns in fast allen Fällen gestehen, wie markant treten vielfach die unüberbrückbaren Unterschiede besonders in der Beurteilung des Kriegsphänomens hervor! Wie in so vielen anderen Dingen ist Karl Kraus auch hierin eine Ausnahme. Er ist einer der wenigen deutschen, einer der ganz wenigen österreichischen Literaten, denen die Hand zu drücken der tschechische Schriftsteller auch zur Zeit unseres Mai-Manifestes hätte als Stärkung empfinden müssen. Die in seinen roten, zum Sinnbild der Fackel sich bekennenden Heften geführten langwierigen Waffengänge verdichteten sich mitten im Weltkrieg und während der schweren Schikanen der Wiener Zensur und des Generalstabs zur schroffsten Satire gegen den Krieg, zur schonungslosesten Karikatur der führenden Mächte in der Monarchie und im Reich. Diese Szenen in den »Letzten Tagen der Menschheit«, die für diese Saison vom Verlag Druzstevni Prace in tschechischer Ausgabe vorbereitet werden, machen uns eine und zwar die wichtigste Berührungslinie zwischen seinen Interessen und der tschechischen Art des Sehens klar. Ein anderes von den vielen Momenten, die uns seine Tätigkeit und Erscheinung so überaus wichtig machen, beruht darin, daß Karl Kraus, vom Wort ausgehend, die menschliche Sprache, die Dichtersprache in ihrer vollen Wirkungskraft, ja Erhabenheit restituieren will. Fanatischer Gegner der Zeitungsphrase und der täglichen Sprachverschmocktheit, glaubt er an einen Zusammenhang nicht allein zwischen Ausdruck und Logik, sondern zwischen einer von innen her gereinigten Sprache und einer in den Wesenstiefen verankerten Sittlichkeit. Er glaubt an die Möglichkeit einer Umgeburt der Theaterkunst, sobald affektiertes Getue und Deklamatorentum ersetzt sein werden durch den Vortrag eines erlesenen, zur höchsten, aber auch durchaus natürlichen Tragfähigkeit gebrachten Wortes. Dies die theoretische Grundlage seiner rezitatorischen Bemühung und Leistung, deren Ursprünge in seinem einstigen Studium der Schauspielkunst [Anmerkung von Karl Kraus: Diese Behauptung beruht zum Glück auf einem Irrtum, der schon öfter aufgetaucht ist. Ein Studium der Schauspielkunst – welches auch nicht eine Stunde lang betrieben wurde – hätte jede Möglichkeit des späteren Vortrags der »Pandora« im Keim erstickt.] zu suchen sind und deren Analyse hier untunlich ist. Die Zuhörer mögen sich selbst ein Urteil bilden. Doch darf nicht verschwiegen werden, daß es das auditive Erlebnis von Karl Kraus' lebendem Wort, daß es der Eindruck war, den er von einer solchen Wiedergabe der Pandora durch Karl Kraus empfing, was den Prager Schriftsteller Paul Eisner zu der tschechischen Übersetzung dieses Werkes bewogen hat, zu einer Obersetzung, die wir dann in die tschechische Gesamtausgabe Goethes übernommen haben.

Solcherart auf einem Umweg zu Goethes Dichtung zurückkehrend, erlaube ich mir, ehe ich Herrn Karl Kraus ersuche, die prosaische Darlegung durch das Wort des Dichters abzulösen, noch eine Bemerkung: Wenn Karl Kraus hiemit zum erstenmal in einen tschechischen Geisteskreis einkehrt, betritt er nicht einen Boden, der ihm fremd wäre. Im Gegenteil. Er kehrt wieder. Kehrt wieder zu seinem Ausgangspunkt. Der Dichter der Letzten Tage der Menschheit hat seine ersten in einer rein tschechischen Stadt verlebt, in der Stadt Jicin, und es waren, wenn ich so sagen darf, die besonderen Verhältnisse der österreichischen Vorkriegszeit, die bewirkten, daß er in einem andern als dem tschechischen Sprachbewußtsein aufwuchs, daß wir dergestalt um unsern Satiriker gekommen sind; heute trennt uns von ihm die Sprache, doch verbinden uns mit ihm in vielerlei Betracht Wegrichtung und Ziel. Wir wünschen nur, es möchte nach dieser ersten Heimkehr bald zu weiteren Besuchen daheim kommen; und für heute, meine Damen und Herren, wünschen wir, das Vernehmen von Goethes Festspiel möge Ihnen zu einem Fest werden.

Dieses wurde von der tschechischen Presse – ›Ceske slovo‹, ›Lidove noviny‹ und dem sozialdemokratischen Parteiorgan ›Pravo Lidu‹ – mitgefeiert; vom ›Prager Tagblatt‹ in einer Gesamtwürdigung der Vorlesungen. Die deutschnationale Presse schwieg, ebenso die der deutschen Sozialdemokratie, nachdem ein Zustand hergestellt war, durch den jede Unstimmigkeit zwischen Czech und Deutsch entfernt erscheint und eine Art sozialnationalen Burgfriedens herbeigeführt, der durch kein Wort der Anerkennung mehr getrübt werden dürfte. (Daß der Vortragende auf sie als Erfolgsbeweis wenig Wert legt, versteht sich so von selbst wie daß der Mann, der sie bisher aussprechen durfte, geistig und sittlich ein Schock der Bonzen und Schlieferl in die Tasche steckt, von denen tragischer Weise, oder sagen wir letzten Endes, die Wertung geistiger Dinge abhängt. Kulturgeschichtlich wird es ein Denkzeichen des organisierten Pharisäertums bleiben, das – hüben, drüben und dazwischen – die Machthaber der bürgerlichen Welt wegen Gesinnungsknechtung bekämpft hat und kürzlich die Schamlosigkeit hatte, den Satz in Sperrdruck, zu bringen: »Es ist ein Hohn, von bürgerlicher Preßfreiheit zu sprechen«.) In dem deutschen Regierungsblatt ›Prager Presse‹ (12. November) erschien über den Vortrag der ›Pandora‹ – dessen Beachtung, aus dem kulturpolitischen Gesichtspunkt, ungleich beachtenswerter ist als alle Würdigung sonstiger Auslandsvorträge, die seit Jahren nur in besonderen Fällen vermerkt wurde – der folgende Aufsatz des tschechischen Übersetzers der ›Pandora‹, Paul Eisner:

Karl Kraus liest Goethes Pandora

Veranstalter: die Arbeitsgemeinschaft tschechischer Philologen. Ort: der Vortragssaal der Städtischen Volksbibliothek, Grund und Boden der Prager Stadtverwaltung. Den Saal füllt drangvoll tschechische und deutsche Jugend, die Zukunft von Land und Staat. Otokar Fischer, der singuläre Ordinarius, der ein Dichter ist und dem die Tschechen die fünfzehn Bände des für sie endgültig verdolmetschten Goethe zu verdanken haben, betritt das Podium. Er spricht von Goethes Pandora, nennt sie gleich dem Divan und dem »Faust« eine hoheitsvolle Schöpfung von Goethes synthetischem Dualismus, hebt die Aktualität von Pandorens Sendung hervor, kommt von dem Werk auf dessen Entdecker und Nachschöpfer zu sprechen. Nachdrücklicher Hinweis auf eine andere »Pandora«, auf die vernichtende Gottheit, als die sie sich dem großen Frank Wedekind offenbart hat; und Worte des Dankes an den eifernden Fürsprech und Verwirklicher durch das gesprochene Wort, der auch diese Pandora als der erste in ihrem Eigentlichsten erkannt und im Wort verkörpert hat. Bekenntnis der tschechischen Geistigkeit zu Karl Kraus, Hinweis auf die »Letzten Tage der Menschheit« und ihre dichtnahe tschechische Ausgabe. Karl Kraus und sein Apostolat für das zu lauterer Reinheit umgeborne Wort in Schrift und Klang, seine theatralische Sendung, die geistes- und völkerpolitische Bedeutung seiner Persönlichkeit. Erinnerung an den ostböhmischen Geburtsort, die tschechische Stadt Jicin, dazu die Feststellung: daß die Tschechen in Karl Kraus vielleicht bloß durch äußere Umstände politischer und kultureller Anziehungskraft um ihren Satiriker gekommen sind. Eine Salve beifallklatschender Händepaare beschließt den tschechischen Teil des Abends.

Dann spricht Karl Kraus vor vierhundert zu Bildsäulen verwandelten Menschen das Werk, das er vor so viel Jahren der Erlebnisohnmacht, der stumpfen Ahnungslosigkeit des akademischen und historisierenden Betriebs entrissen, neugeboren, einer Nation und mehr als bloß einer einzigen geschenkt hat. Der von Titanischem abhandelnde Abschiedsgesang eines Titanen an Jugend, Schönheit, Liebe wurde diesmal in unfaßbar vollendeten Polyphonien von Klang und Klage kraft eines geistigen Nachschöpfungs- und sprecherischen Deutungsprozesses ohnegleichen zur unentrinnbar erschütternden Erlebnisgewalt. Ein einziger Mund sprach die Worte, die so vielen Mündern zugehören und randvoll gefüllt sind mit Pandorens Gaben – Sinnen und Sehnsucht, Glück und Qual, Sturz zum Tartarus und segnendem Geisterhauch aus Elysium: und man hörte, sag, erlebte Pandoren ganz. Den Weckruf des Prometheus, das Lied der Schmiede, Elporens Geflüster, die aufgewühlte Klage des Phileros, des Epimetheus Schmerzversunkenheit, die Krieger, Eos und ihr apotheotisches Gesicht – die ganze unvergleichliche Feerie, durch ein unvergleichliches Wollen und Vermögen beschworen, gestaltet, verkörpert, kraft eines Wortmysterien zelebrierenden Hirnes und Mundes untilgbar auf eine Seelenbühne gezaubert und ein jegliches Wort, eine jede Partikel mit einer jenseitigen, aus Räumen ewiger Gültigkeit gleich Stichflammen in unsern Tag sengenden Elementargewalt begabt (etwa die letzten Worte des Prometheus, die diesmal noch stärker als sonst mit der jupiterisch erhabenen Wucht eines politischen Vermächtnisses trafen).

Und nun eine Dithyrambe von Erscheinung und Wirkung des Vortragenden, dessen Eitelkeit das Opfer bringt, ihre Wiedergabe zu unterdrücken, aus Rücksicht auf die Nerven der landsmännischen Meinungsfälscher, die zu feig sind, jemals sich der Gelegenheit sachlicher Überprüfung auszusetzen. Nur noch dies möge sie verdrießen:

– Der erste zweisprachige Abend von Karl Kraus wird unvergeßlich bleiben. Der Abend wurde ausdrücklich als eine Veranstaltung des Goethe-Jahres bezeichnet: es hat in Prag keine schönere gegeben.


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