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Reinhardt und Reinhold

Ich kann nicht leugnen, mein Mißtrauen gegen den Geschmack unserer Zeit ist bei mir vielleicht zu einer tadelnswürdigen Höhe gestiegen. Täglich zu sehen, wie Leute zum Namen Genie kommen, wie die Kellerassel zum Namen Tausendfuß, nicht weil sie so viel Füße haben, sondern weil die meisten nicht bis auf vierzehn zählen wollen, hat gemacht, daß ich keinem mehr ohne Prüfung glaube.

G. Chr. Lichtenberg

Mein Schreiben, dem ich objektiv genug gegenüberstehe, um es sowohl in gebundener wie insbesondere in ungebundener Sprache für besser und angebrachter zu halten als das irgendeines deutschen Zeitgenossen, erscheint mir gleichwohl hinreichend problematisch und als eine mich nur bis zum Augenblick der Unabänderlichkeit mit und dank allen Zweifeln befriedigende Leistung. Worin ich mich jedoch immer einem Maßstab absoluter Wertung gewachsen fühlte, das war die nachschöpferische Gestaltung mit sprachlichen Mitteln und insbesondere die mit den darstellerischen Mitteln des Vortrags. Nicht leicht und gern, aber mit dem unerbittlichen Respekt vor dem Werk – dessen Wertbegriff der Habgier unerreichbar bleibt – schicke ich mich drein, wenn ich in den Belangen Offenbach und Shakespeare von Reinhardt und Reinhold übertroffen bin und mein Theater der Dichtung, auf das ich mir weit mehr zugute tat als auf meine Dichtung, nun erledigt wäre. Wohl mag ich mich rühmen können, den Rausch in der »Perichole« so glaubhaft zum Ausdruck gebracht zu haben, daß mir ein begeisterter Fachmann je zwei Flaschen Malaga, Porto, Madeira, Xeres und Alikante ins Haus schickte: die ich zwar nicht trinken kann, weil ich sonst den Rausch nicht darzustellen vermöchte, die ich aber als anschauliche Form des Beifalls in Ehren halten will und als etwas, was, wie jemand meinte, dem Ensemble der Krolloper nie widerfahren wäre. Wohl mag es mir – und das ist noch mehr – gelungen sein, als Großherzogin einen Hamburger Kaufherrn so zu betören, daß er mir eine Einladung zum Stelldichein in die Garderobe schickte. Aber wenn mir auch unstreitig auf dem Podium – denn im Leben bin ich ganz anders – die Wirkung nicht versagt ist, die einer reicheren Fülle von Schönheit, wie sie Reinhardt zur Schau stellt, »letzten Endes« zukommt, so weiß ich natürlich nicht, ob ich es mit dem Geist, also mit Saßmann, aufnehmen könnte, der am Werke war, um der Offenbach'schen Musik neue Verse anzuschmiegen (wo er nicht wegen der Wirkung die alten stehn gelassen hat). Alles in allem dürfte es sich hier so verhalten, daß die wahre Offenbach-Renaissance, die in dem Entschluß besteht, eine Badeanstalt für sämtliche Geschlechter mit Offenbach'scher Musik aufzumachen, der Schaulust eben doch mehr bietet als meine dürftigen Inszenierungen, deren einziges Requisit das kleine Federmesser in »Perichole« bildet. Ich hatte gehofft, in noch zwölf Jahren damit durch die Mauer meines Gefängnisses zu dringen, aber es geht wohl nicht. Was nun Shakespeare anlangt, so mag sich, wie bei »Wintermärchen« und »Lear«, die Wirkung ergeben haben, daß sich die Leute bei aller Ergriffenheit doch nicht ins Theater versetzt fühlten, wo ihnen eine Mehrzahl von Gestalten unmöglich macht, diese auseinanderzuhalten, und wo sie nur die einzige neuzeitliche Stimme jenes Drillmeisters zu hören glauben, der ihnen den Shakespeare'schen Vers verhunzt. Das soll freilich heuer im Burgtheater, und zwar bei »Lear« und »Richard III.«, ganz anders gewesen sein, wo Herr Ernst Reinhold nach dem übereinstimmenden Urteil der Wiener Kritik hundertfach das vermocht hat, was sie mir bisher nicht nachgesagt hatte und was ich mir infolgedessen einbildete, wiewohl es mit denselben Worten die ausländische Kritik von mir behauptet, soweit sie, ohne eingeladen zu sein, referiert.

Viele Schauspieler, Dichter und Schriftsteller waren gekommen, um dabei zu sein, wenn es einer unternimmt, allein den »Lear« zu beschwören.

Schon das kann man mir nicht nachrühmen, zu dessen Beschwörungsversuch sie ja um keinen Preis, also wenn man ihnen noch aufs Billett draufgezahlt hätte, gekommen wären. Einer von ihnen schreibt, Reinhold gebe

noch in der Einzelheit den Lebens- und Schicksalsraum des ganzen Dramas. Eine einmalige, eine unheimliche Leistung. Wer sie vollbracht hat, in dem muß viel Kraft, Wille und Anschauung für das lebendige Theater verborgen sein. Der darf darum nicht im Abseitigen gehalten werden, seine schöpferische Macht muß unser an Persönlichkeit so armes Theater zu spüren bekommen.

Das klingt ja nun wirklich wie das, was jetzt allerorten, außerhalb dieses Ortes, zu dem Plan gesagt wird, das Theater der Dichtung in ein Ensembletheater zu verwandeln. Und vermutlich wird es wie alle ekstatischen Töne, die man über jenen hört, irgendwie damit zusammenhängen. Freilich muß ich, auch ohne Reinhold gehört zu haben, zugeben, daß er manche Wirkungen vor mir voraushat. Er erschien »auf einer besonders geschaffenen Bühne, die in Purpur schimmerte«, und ein Kritiker (der nicht weniger als dreimal referiert) zählt zu seinen stärksten Szenen:

die Erscheinungen der von grüngrauem Licht umspielten, erstaunlich individualisierten Geister, die Richard im Traume erscheinen und ihn mit ihrem Fluche beladen: »Despair and die!« – »Verzweifl' und stirb l« – und ihr segnendes Hinneigen zu Richmond. Nach diesen Szenen wälzte sich ein dunkler Klumpen, als Silhouette auf rotglühendem Hintergrund sichtbar, schreiend und gräßlich aufstöhnend, ein Gepeinigter auf einem Schreckenslager –

Scheint hier somit zu der sprecherischen Wirkung noch eine szenische hinzugekommen zu sein, die sich mit den Mitteln des Architektensaales überhaupt nicht herbeiführen ließe, so ist dieser Vortragende auch mit zwei natürlichen Fähigkeiten entschieden im Vorsprung: englisch und aus dem Gedächtnis zu sprechen. Damit, und alles in allem, steht es nun so. Vielleicht ist es Neid, vielleicht eine Art Verfolgungswahn, der sich aus der isolierten Stellung eines Mannes erklären mag, der keine Freikarten hergibt und darum die ihm von der Presse entgegengebrachte Sympathie, die sich nur nicht turbulent äußern kann, beständig verkennt; vielleicht ist es Beziehungswahn aus Mangel an Verbindungen – aber ich habe das starke Mißtrauen, daß es sich (während Reinhardt auch von selbst die Herzen gewinnt) im Fall Reinhold um ein General-Bestemm handelt. Ich stelle mir – in der Einbildung, die sie mir sicher glauben – es so vor, daß eine bestimmte und ausdruckswillige Quantität von Begeisterung für mich vorliegt und, da ihr eine gewisse Reserve auferlegt ist, irgendwo hinaus muß. Da kommt einer, der zum erstenmal das tut, was ich seit Jahrzehnten gewohnt bin: ein ganzes Drama vorzutragen, und dem schlägt dann die notgedrungene Verdunkelung zum »Phänomen« aus. Ich erlebe es ja auf manchem Gebiet meiner Tätigkeit, viele Ausüber profitieren von dem, was im Gefühlsleben der Presse durch mich »verdrängt« ist, und ich erschließe es im besonderen Falle daraus, daß einem Dilettanten des Podiums, der in Deutschland grassiert, von Salten ein Feuilleton gewidmet wurde, das ganz ähnliche Farben auftrug und so ziemlich das enthielt, was über mich in Wien geschrieben würde, wenn es dürfte. Es ist aber auch durchaus möglich, daß mein Verdacht unberechtigt ist, daß ich die Lorbeeren, die eine rachsüchtige Literatenschaft meiner Leistung entzieht und auf die ich noch weit besser pfeifen als singen kann, ganz zu Unrecht in einen Konnex mit dem Verdienst des Herrn Reinhold bringe, und daß ihm faktisch die Worte gebühren:

Ja, das alles war einmalig und unvergeßlich. Ich glaube, kein Mensch außer diesem fabelhaften Reinhold kann ein solches Panorama lebensvoller gestalten, solcherart shakespearisch vor uns entrollen.

Gegen einen Glauben, der sich der Korrektur durch Erfahrung zu erwehren weiß, ist ja nichts einzuwenden. Aber der Zweifel wurzelt in dem Umstand, daß keiner dieser Urteiler, in deren Bewußtsein ein Theater der Dichtung doch existent ist, die Gelegenheit benützt, entweder dessen Unzulänglichkeit zu behaupten oder wenigstens das Geständnis abzulegen, daß es ihm unbekannt sei. Herr Liebstöckl, der an das Walten einer höheren Gerechtigkeit glaubt, weil sein Handwerk ihn an der irdischen verzweifeln läßt, geht einen Schritt weiter und scheut nicht die Fiktion, als sei sein Urteil bereits der Kenntnis aller vorhandenen Möglichkeiten, es zu bilden, abgewonnen. Nach einer berechtigten Zurückweisung des Beer-Hofmannschen Gelüstes, die beiden Teile des »Faust« zu einem Theaterabend zusammenzuziehen, betrachtet er den Fall Reinhold, um die Überlegenheit des Solovortrags gegenüber dem Theater zu beweisen, deren Problem freilich nicht das Geringste mit der dramaturgischen Frage zu schaffen hat, und gelangt zu einem Schluß, der mit allem, was jemals außerhalb Wiens über das Theater der Dichtung gesagt wurde, übereingeht:

Ein Wunder hat man erst kürzlich erlebt, da Herr Reinhold im Burgtheater »Richard III.« sprach. Da war außer einem gespenstig erleuchteten Tisch mit dunkelrotem Überwurf niemand anderer sichtbar als Herr Reinhold allein. Wenn er den Richard sprach, zog er bloß die linke Schulter höher, das war alles! Trotzdem stand die Szene lebendig im gesprochenen Wort – Wir haben also den Fall erlebt, daß ein einziger Mann ein einziges Drama spielt und weit und breit kein Regisseur zu sehen ist als der Sprecher selbst! Wenn es bei uns noch einen Menschen gäbe, der ein ähnliches Wunder mit Goethes »Faust« bewirken könnte, ließe sich dieser ganze verkürzte, ins Prokrustesbett gezwängte »Faust« glatt ersparen. Leider: es gibt ihn nicht!

Die glatte Ersparung wäre zwar nur dann möglich, wenn der Vortragende zur analogen dramaturgischen Pfuschertat entschlossen wäre, da einem ungekürzten »Faust«, fünf Vortragsabende entsprechen. Aber daß es den Menschen nicht gibt, der diese leisten könnte, wenn ein Auditorium mitkäme, oder der mit dem Helena-Akt und dem fünften des zweiten Teils ohne einen andern Behelf als den eines Tisches (selbst mit Nachlaß der gespenstigen Beleuchtung) das von einer Christenseele ersehnte Wunder bereits bewirkt hat – da müßte, wie ein Witzwort meint, der Liebstöckl lügen, wenn er die Wahrheit sagen wollte. Er wird schon nicht. (Und mir ist, als ob er nicht hätte: denn wenn mein Gedächtnis nicht so trügerisch ist wie sein Urteil, so hat er einst, als ungeladener Beschauer, eben das Wunder attestiert, das mit dem Helena-Akt bewirkt wurde. Und ich lasse mir das Attest – vom 21. 1. 1924 – ausheben:

Eigenartige Eindrücke empfing ich von einer Vorlesung, die Karl Kraus im Gewerbeverein hielt. Mit einer Indisposition kämpfend, bewältigte er ein Riesenprogramm: zwischen wertvollen und merkwürdig schönen eigenen Dichtungen (»Worte in Versen« und »Traumstück«) stand die Helenaszene aus dem zweiten Teile des »Faust«, mit wesentlichen Kürzungen, die gleichwohl Atem und Glut dieses unerhörten und unvergleichlichen Intermezzos keineswegs beeinträchtigten. Neu war für mich, der Karl Kraus zum ersten Male lesen hörte, insbesondere seine Art, die schwierigen, scheinbar nur für den Leser geschaffenen Chöre durch mitverwobene Musik aus zweierlei Quellen (die überaus modulationsfähige Stimme des Sprechers mischte sich mit einer nach seinen Angaben gesetzten Klavierbegleitung) in tönendes und leuchtendes Leben zu tauchen; die mystische Anmut der Verse empfängt dadurch gleichsam Flügel, deren rhythmisches Schlagen und Rauschen die Sinne gefangen nimmt und die Phantasie beschwingt. Karl Kraus ist eine in sich geschlossene und gefestigte Persönlichkeit; seine Weltanschauung ist nicht die meine, und seine Hassenskraft, obwohl aus ethischen Motiven entsprungen, weht oft wie etwas Fremdes an mir vorbei ... aber die übergroße Armut unserer Zeit an Charakteren, Temperamenten, starken Geistern und Sprachgestaltern weist einer Erscheinung von solcher Intensität sicherlich ihren Platz und ihre Bedeutung zu. Hinter dem Fackelträger Karl Kraus steckt wohl ein zweiter Karl Kraus, der ein Lichtbringer sein könnte, wenn ihm der erste gestatten würde, zu erkennen, daß das Wesen des Feuers die schöpferische Wärme ist und nicht die verzehrende Flamme; er hält das verschlossene Buch mit den sieben Siegeln in seinen nervösen Fingern, die nicht wagen, es zu öffnen ...

Immerhin schien das des »Faust« geöffnet und schiene es heute noch mehr. Wer »zum ersten Male« in eine Vorlesung kommt, sagt die Wahrheit und lügt erst nach sieben Jahren wieder.) Vielleicht gelingt das Wunder, daß ein einziger Mann ein einziges Drama spielt, Herrn Reinhold noch besser als mir; mindestens mit Shakespeare, da er es ja mit Goethe, Niebergall, Raimund, Hauptmann, Wedekind, Gogol, Nestroy und Offenbach noch nicht versucht hat. Doch selbst die Presse wird mir das Mißtrauen, das ich gegen ihr Urteil im Allgemeinen und ganz besonders in diesem Falle hege, nicht verdenken, vielmehr glauben, daß ich, wiewohl auch nicht völlig unbefangen, selber besser als sie imstande wäre, mich zu überzeugen. Ich werde also Herrn Reinhold zuhören, wenn er wieder den »Lear« spricht, von dem ich ja – im Gegensatz zu Richard III. – jeden Buchstaben in- und auswendig kenne. Inwendig ist wichtiger. Die freie Rede wie das Englisch wird mich zwar nicht beirren, aber ich vermute, daß es die andern Hörer beirrt, sowohl die, die es nicht verstehen, wie die, die es verstehen, und solche, denen bloß die Gedächtnisleistung imponiert. Mir ja nicht: der sie im Vorhinein für Unfug und für ein Manöver der Ablenkung hält. Ich will versuchen, trotz meiner eigenen, etwas andersgearteten Übung und meinem schwer entbehrlichen Glauben an sie, urteilsfähig zu bleiben. Sollte jedoch mein Urteil Zweifeln ausgesetzt sein – weil ja auch einer geringeren Eitelkeit als der meinen hier Objektivität abgesprochen würde –, so bliebe nur die Entscheidung durch ein Kunstgericht, das sogar aus Wiener Kritikern bestehen könnte, wenngleich sie in diesem Falle weit befangener wären als die Partei. Für diesen Zweck müßte aber Herr Reinhold darauf verzichten, englisch und auswendig zu sprechen. Englisch kann ich nicht und ohne Text treff' ich's nicht, wiewohl ich's auswendig kann. (Sonst hätte ich fast gesagt- das ist keine Kunst, englisch und ohne Text treff' ich's auch.) Denn es kommt darauf an, das sichtbare Buch so unsichtbar zu machen, daß nur die Gestalten sichtbar werden, die daraus hervortreten. Scheinwerfer brauchen wir nicht; sie könnten vom Sein ablenken. Purpur werde vermieden. Das Buch ist unerläßlich. Dann wollen wir, wenn Herausforderung und Heroldruf hörbar wurden, entscheiden lassen, wer Edgar und wer Edmund ist; und wer beides.


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