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Timons Mahl

Wie das Programm der heutigen Vorlesung zeigt, habe ich die Erwartung der Eigenen Schriften betrogen: falsche Freunde sind zu Timons Mahl geladen. Alle Gegebenheiten, die der Welt und die meiner Gegenwelt, mußten zu diesem Entschlusse führen und verknüpfen sich darin sinnbildlich. Denn was ich zu der Wirklichkeit noch zu sagen habe, könnte ich mit keiner eigenen Schrift eindringlicher sagen als mit der Grabschrift des Timon: »Fluch', Wand'rer, mir, dann flieh, eh dich der Fluch erfaßt.« Nichts anderes habe ich zu Österreich, nichts mehr in Österreich zu sagen. Nicht darum allein steht die Satire ohnmächtig vor der Wirklichkeit, weil sie sie nicht verändern und nicht materiell bezwingen kann – solches war ihr in den Maßen der Zeitgenossenschaft niemals gegeben; sondern: weil sie sie nicht mehr geistig bezwingen kann. Sie wird von ihr erreicht und übertroffen, sie wird eingeholt und abgewürgt von der Spottgeburt, und Phantasie erstarrt vor dem letzten Wunder, das sich nebst denen der Technik begibt: Lächerlichkeit macht lebendig; der Stoff übertreibt die Satire, die ihn geformt hat, die Erfindung beschämend, spottend der Ohnmacht, noch dies Erlebnis einzubeziehen. »Drum kein Laut!« gebietet sich Timon, des Bösen Besserung der Pest vertrauend. Ich will mich den Nichtssagern anreihen, die hier Macht haben, und ich entschließe mich zu dem Ausdruck einer Ohnmacht, einzugreifen in den Tumult der Phrasen, mit denen Wichte und Tölpel, also Politiker, selbst den einzigen und letzten Sachverhalt dieser Gegenwart übertölpeln und betrügen: die Not. »Schief ist alles; nichts grad in dieser fluchbeladenen Schöpfung als offne Schurkerei.« Was sollte ich denn andres sagen? Vielleicht ein Wahlbekenntnis zugunsten jener Sorte, die von dem Zeitpunkt an, als man nach Menschenopfern unerhört zu ihr gestanden hatte, den Umsturz all unserer Hoffnungen verschuldet hat und all das Grausen herbeiführen half, dem sie so lendenlahmen Widerstand leistet? Ein Wahlbekenntnis, das mir kürzlich eine gutmeinende Anhängerschaft abgenommen hat, die da glaubt, ich würde den tragischen Konflikt, in den sie zwischen Wahrheit und Partei geraten ist, mitmachen? Ein Bekenntnis, das ich doch, selbst wenn der Teufel vor den Toren Wiens stünde, niemals ablegen und mir nicht abnehmen lassen könnte zu der Wahl schlechter Vertreter der guten Sache: die dem Pflichterfüller des 15. Juli 1927 am 15. Juli 1930 die Wagentür vor dem Arbeiterheim geöffnet haben! Die umfassende Erkenntnis des Bankrotts der Freiheit, die als Schindluder einer Polyarchie ausgedient hat, das Gefühl von der Unabwendbarkeit eines Troglodytenaufstandes, der das Opfer von zehn Millionen eines Weltkriegs zum Hohn machen wird, gebietet den Verzicht im Sinne jenes Fremden im Timon, eines Fremden, der in Wien keineswegs willkommen wäre: »Weit bleibt jetzt Mitleid hinter Leid zurück, denn Menschlichkeit dankt ab vor Politik.« Und von da weiter bis zu der Absage des Timon, den es aus Mitleid mit den Greisen kalt läßt, wenn Alcibiades Athen schleift und die Senatoren an den Bärten zupft. Und dieser Timon ist überparteilicher als selbst der einfältige Zauberer, der mir seit langem das Gehirn ermüdet, der nichts hat als das Vertrauen und gegen dessen Faszination kein satirisches Kraut gewachsen ist. Da ist Verzicht mein stärkster Reim auf Pflicht. Ich weiß, es ist in der Geschichte schon vorgekommen, daß ein Pferd zum Konsul gewählt ward, und gegen Symbole kann man halt nichts machen. Seit Jahren darauf aus, die Erwartung der Eigenen Schriften zu enttäuschen, habe ich mich diesmal geradezu entschlossen, ihr einen Streich zu spielen. Ich fühle, es ist überaus schmerzlich für einen großen Teil meiner Wiener Hörerschaft, statt des Genusses von Glossen über den Wahlausgang – »verdeckte Schüsseln!« verhieß das Plakat, »ein königliches Mahl, das will ich wetten!« »Ja, er ist noch der Alte!« – also statt dessen mit Shakespeare vorlieb nehmen zu müssen: »Einst warf er mit Juwelen, jetzt mit Steinen!« Und wiewohl ich ja diesen Schmerz nicht teilen kann, so habe ich doch ein gewisses Verständnis für die Situation, in die wir da geraten sind und zu der ich korrekter Weise den geeigneten Ausweg empfehlen werde, für die Situation, die dadurch entstanden ist, daß ich nun einmal mit dem redlichsten Willen den Wienern nur das Spektakel bieten kann, sie darum zu betrügen. Aber man möge mir glauben, daß mir die Zeit- und Ortsumstände die Lust genommen haben, mir eben über diese Gedanken zu machen, mindestens solche, die ich imstande wäre, physisch und mit sichtbarer Hohnfalte der Belustigung einer Raumgemeinschaft darzubieten. Was ich mir so am Schreibtisch zu den Dingen, die mich umgeben, weiterhin denken mag, ist sozusagen meine künstlerische Privatangelegenheit, deren publizistische Gestalt jeder annehmen oder verschmähen kann. Es bleibt, ohne Furcht vor Starhemberg, nur abhängig von Macht und Gunst der deutschen Sprache, zu der ich ja bessere Beziehung zu unterhalten glaube als die überwiegende Mehrzahl der Heimverführer, der Sprache, die ganz gegen meinen Willen und meinen Wunsch mir jede Macht im Staate ausliefert, ja mich wehrlos macht gegen den Zwang, mir zu jedem Dummkopf etwas einfallen zu lassen. Aber ein ganz anderes und keineswegs unentrinnbar ist die äußere Nötigung, die einer bedenklichen Anhängerschaft, den Gestaltungen, denen sie nichts entnimmt als den Stoff, eine mir jetzt verhaßte Wirkung abzugewinnen, deren Fazit nichts, sein könnte als entweder – und dies ist der edlere Fall – die Erkenntnis auswegloser Gräßlichkeit oder der Betrug einer Erheiterung an Hanswursten, die uns ja doch unüberwindlich regieren. Ich will nicht sagen, daß niemals wieder die Zeit kommen wird, wo es mich drängt, meine Grundansicht, daß im kleinsten Schmierfink der Weltuntergang sei und nur das ganze moralische und logische Greuel, von dem wir umklammert sind, verächtlich – wo es mich also drängt, solches nicht nur einer Leserschaft, sondern auch wieder einer Hörerschaft zu sagen. Heute möge sie mir glauben, daß ich, wenn nicht das Wunder meiner Begegnung mit Offenbach eingetreten wäre, dieser Verschmelzung zweier Gelächter, vor ihr überhaupt nicht mehr erscheinen könnte; denn nur noch versgebunden, klangverpflichtet, strophenfertig vermag ich ihr die Halunken und Idioten vorzuführen. Was sich zwischen diesen und mir in Prosa begeben könnte, verhindert mich Schamgefühl öffentlich zu sagen. Nicht Zufall der Gelegenheit ist es, was mich zu dem Entschluß geführt hat, die repräsentativsten Gestaltungen innerhalb des Gebiets, das die mir peinliche Bezeichnung der »Eigenen Schriften« hat, nach und nach der Schallplatte anzuvertrauen und so die Technik für die üble Nachrede, die ich ihr halte, zu rehabilitieren, – sicherlich zu meinem materiellen Schaden, ja auf Kosten meiner Eitelkeit, die mir gestern wieder ein Trottel vorgehalten hat, zwar anonym, aber da er bestimmt heute hier sitzt, erkennbar daran, daß er rot wird. Er wirft mir vor, daß ich jene Coupletstrophen wiederhole, was ihn an Primadonnenallüren erinnert, aber da hat er natürlich recht, ohne zu verstehen, daß meinem Podium Bühnenluft so organisch und rechtmäßig zukommt, wie ich der Einbeziehung von Lehre und Predigt in die Beifallssphäre widerstrebe. (Nebenbei soll er zur Kenntnis nehmen, daß sein Tadel meiner Konstruktion »hinreichend Wagemut haben, um ein Brieflein an den Verlag zu richten« eine dem Wustmann entlehnte Dummheit ist. Das Wort »um« ist nicht zu streichen, wie der Trottel befiehlt, sondern er ist als Ganzer zu streichen; auch er hatte hinreichend Wagemut, um ein Brieflein an den Verlag zu richten, aber da jener nicht bis zur Angabe der Adresse hingereicht hat, muß er auf diesem Weg die Antwort bekommen, und etwas Sprachlehre schadet ja auch den andern nicht.) Meine eigenste Schrift entfalte ich dort, wo ich als Nachschöpfer verschollener oder mißhandelter Bühnenwelten die aufbauende Arbeit leiste, die die Zerstörer an mir vermissen, und vollends dort, wo sich meine Sprache mit der mir wahlverwandten Musik verbindet, welche nunmehr erst, aus der früheren Verbindung scheidend, die richtige eingegangen ist. Daß, mit der Ausnahme des Berliner Rundfunks, sämtliche Machthaber eines impotenten Zeittheaters meine praktischen Möglichkeiten fürchten, ist die weit gelindere Enttäuschung, als die an meiner eigenen Hörerschaft, welche, indem sie meiner Shakespeare-Bearbeitung und meiner Offenbach-Erneuerung, indem sie dem »Theater der Dichtung« die Gefolgschaft versagte, die heißbegehrten »Eigenen Schriften« mir zur Pein gemacht hat durch die Vergewisserung, daß sie an ihnen ja doch nichts weiter als den Stoff schmeckt, mit der billigen Freude an der Agnoszierung der Objekte, bestenfalls die Gesinnung oder sozusagen den animus injuriandi, den der Hörer teilt und nur nicht in gleichem Maße ausdrücken kann. Meine »Worte in Versen« sind berühmt, aber nicht bekannt, und daß meine Verdeutschung der Madame l'Archidue und gar die nun vollendete der göttlichen Perichole mehr sprachlichen Nährwert enthält als eine Generation deutscher Lyrik, mehr Anreiz bietet zu Nachweisen der Sprachlehre als selbst ein Jahrgang der Fackel diesem Thema widmen könnte, bis zu den vertiefteren Mysterien des musikgebundenen Worts – von all dem wissen und wollen nur die wenigsten wissen. Mir selbst erscheinen aber die Dinge, mit denen ich mir da eine antipathische Zeit vertreibe, ungleich wichtiger als alles, was sich in der österreichischen Politik begibt, ganz abgesehen davon, daß sie mehr zur Förderung der Lebensfreude beitragen. Und weil jenes so unbedankt bleibt, während dieses so häßlich ist, bin ich beim Timon des Shakespeare angelangt, dem ich ja doch auch eine große Genugtuung schuldig bin. Hätte ich zu diesem Vortrag, wie er stattfinden wird, eingeladen, so wären 150 dem Rufe gefolgt, wie damals zum erhabenen und lieblichen Wintermärchen; 150 unter den tausenden Wiener Lesern der Fackel, denen es als erste Aufführung angekündigt war und die mir zu glauben und zu folgen vorgeben. Muß ich auf solche Hörer verzichten, so verzichte ich auch auf solche Leser! Und so sollten denn, da heute 900 erschienen sind, folgerichtig 75o den Saal verlassen, wenn sie nun merken, daß es ein falsches Gastmahl gibt. Ich lasse diesen, weil ich zwar ihre Erwartung betrügen, aber sie selbst nicht materiell schädigen wollte, zwei Minuten Zeit sich zu entscheiden und nach Belieben den Betrag für die Karte an der zur Geldausgabe geöffneten Kasse (die der große Zudrang zu den Eigenen Schriften gesperrt hat) zurückzuverlangen. Ein rechtlicher Anspruch bestünde nicht, da ich »Timon von Athen« in meiner Bearbeitung und insbesondere sprachlichen Erneuerung – nebst der aktuellen und zitathaften Anwendung, mit der ich das Drama als vielfaches Gleichnis in mein Lebensprogramm einstelle – sehr wohl in die Reihe meiner Eigenen Schriften aufnehmen könnte, deren Bezeichnung ihm gewiß im Rahmen einer Gesamtausgabe zukäme. Auch ist es immerhin als Gabe an meine Wiener Hörerschaft und nicht als Verkürzung aufzufassen, wenn ich sie an eben der sprachlichen und sprecherischen Leistung noch unmittelbarer teilnehmen lassen will, die ich soeben in Deutschland etlichen Millionen Hörern vermittelt habe. Ersatzansprüche würden kaum zurecht bestehen, doch bin ich bereit, sie sofort zu befriedigen; eine etwaige Mehrforderung für Fahrt und Garderobe glaube ich durch die Darbietung dieser Rede, die doch ganz gewiß zu den »Eigenen Schriften« zu zählen ist, getilgt zu haben. Und nun bitte ich, bevor ich den Ausklang der Gluck'schen Ouverture ertönen lasse und bevor die Jammerhaftigkeit dieser Gegenwart, von der ich aussagen sollte, in heroischeren Dimensionen kund wird, so schnell als möglich die Entscheidung sichtbar zu machen: wie viele Hörer mir die Unehre antun, für mich gegen Shakespeare zu entscheiden. »Nie werde euch ein bessres Mahl zu teil ... !«, ruft ihnen Timon nach; »was, gehst du fort? Nimm deinen Trank erst mit – auch du, und du –«. Und der sucht seinen Rock, jener seine Kappe. »Timon ist toll!« »Ich spür's in den Gebeinen.« »Einst warf er mit Juwelen, jetzt mit Steinen.« Aber das nächste Mal wird er es, ganz ohne Vorwand der begehrteren Gabe, noch einmal in Wien mit Shakespeare versuchen!


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