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Vom Zörgiebel

EIN KAPITEL VOM GUTEN GESCHMACK

Zörgiebel und Schober – zwei ragende Firne republikanischer Welten, und zwischen beiden, voll Aussicht, die Lage der Sozialdemokratie. Wir wollen uns in ihr zu orientieren versuchen.

Also sprach Zörgiebel:

Eine besondere Technik des Straßen- oder Barrikadenkampfes gibt es nicht und die Taktik, Barrikaden zu bekämpfen, ist die denkbar einfachste. Wir haben zuerst versucht, unter Anwendung ungefährlicher Mittel die Demonstranten zu zerstreuen und es gelang tatsächlich zum großen Teil. Wasser wirkt ja bekanntlich auf Tobende stets beruhigend, und unsre fahrbaren Spritzgeräte, die an jeden Hydranten anzuschließen sind, verfehlen ihre Wirkung nicht. Wenn wir zum Gummiknüppel und schließlich zur Waffe greifen mußten, so lag dies an der Hartnäckigkeit der Demonstranten.

Die Barrikaden dachten wir in der Hauptsache mit Panzerwagen zu durchbrechen, doch erwies sich dies als langwierig. Es gelang auch stets den Sturmangriffen unsrer Beamten, die in Schützenlinie ausschwärmten, die Barrikaden auseinander zu reißen und die Kommunistentrupps auseinander zu jagen. – Natürlich hatten wir mit derartigen Kämpfen nicht gerechnet und uns lediglich auf Abwehrmaßnahmen zur Vertreibung von Demonstrationszügen eingerichtet. Aber unsere Schutzpolizei war auf dem Posten.

– Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß sich durch das energische Durchgreifen der Polizei am 1. Mai in Zukunft ernste Zusammenstöße vermeiden lassen. – Besonderen Dank muß ich meinen opfermütigen Schutzpolizeibeamten aussprechen, von denen Offiziere und haften unter Einsatz ihres Lebens in gleicher Weise zu der Unterdrückung der Maifeierdemonstration ihr Teil beitrugen.

Man würde ja selbst im Weltfasching der neuen Freiheit nicht auf die Vermutung kommen, daß der Mann, der so aufschlußreich und fachmännisch klar über die Chancen des Totschlagens zu einem Korrespondenten des Neuen Wiener Tagblatts spricht, ein Sozialdemokrat sei. Als Doppelgänger eines pflichterfüllenden und gegen allen Hohn, Aufruhr, Anwürfe und dergleichen gepanzerte Schober schreitet er zur Tagesordnung, aber gefühlsmäßig noch unbeteiligter; denn unser Hort hatte für die analoge Gelegenheit, rückblickend der eigenen Verdienste zu gedenken, doch hin und wieder eine sentimentale Wendung, die von geringerer Beherrschtheit zeugte, ein Zitat, ein Redeblümchen für die Toten, mochten sie auch ein Vorleben gehabt haben. Schober geht aufs Voll und Ganze, Zörgiebel nur aufs Ganze, und das ist mehr – wiewohl der Endsieg des Berliner 1. Mai an den des Wiener 15, Juli nicht hinanreicht. Zörgiebel, der immerhin dem alten Vorurteil, daß die Preußen nicht so schnell schießen, entgegentrat, hat nicht nur seine Pflicht erfüllt, sondern erzählt auch den Vertretern der bürgerlichen Welt, wie man das macht; und ist ein Sozialdemokrat. Schon die schlichte Feststellung, mit er beginnt: daß es eine besondere Technik des Straßen- und Barrikadenkampfes nicht gibt, hat etwas Verblüffendes. Einen Augenblick schwankt man, aber gleich die Fortsetzung zeigt, daß der Pflichterfüller nicht so sehr den Kampf von der Barrikade, als den gegen die Barrikade meint. Der Pflicht- und Rechtssozialist, der zur Feier des 1. Mai sich auf die Vertreibung von Demonstrationszügen eingerichtet hat und auf das energische Durchgreifen der Polizei am Arbeiterfeiertag stolz ist, der Fachmann, der seinen Offizieren und Mannschaften für die Unterdrückung der Maifeierdemonstration dankt, er unterscheidet sich von unserem Schober alles in allem durch eine geringere Verlustliste und durch totalen Mangel an Rückert. Nun gibt es ja auf Erden unter allen Lebewesen, die sich nach rechts und links zugleich krümmen können, nebst dem Regenwurm nichts annähernd so Erbärmliches wie einen Rechtssozialisten. Aber die Sprache dieses Zörgiebel im Umgang mit einem Repräsentanten der Bürgerwelt übertrifft doch alle Erwartungen, die man in den Ordnungssinn der deutschen Sozialdemokratie zu setzen gewohnt war. Er hat es der österreichischen Bruderpartei, die die Überdauerung sämtlicher Regierungen durch den Schober erleben muß, außerordentlich erschwert, diesem noch Übles nachzureden. Zwischen den Schober und seine Feinde hatte sich immer schon eine großzügige Ordnergestalt vermittelnd eingemischt, ein Schatten, der von der Plusmacherwelt mit jener Zauberformel beschworen wird, die seit Bismarck vakant geworden ist: »Einen Noske braucheten wir halt!« Doch die Leistung des Genossen Zörgiebel, dessen Polizei immer ein Viertelhundert Passanten und Hausbewohner erlegt hat, bietet dem Schober eine so gute Gelegenheit, die Arme emporzuheben, mit denen er alle verfügbare Unschuld der Welt in die Winkelriedbrust auffängt, und schafft ihm ein so schönes Alibi, daß er wirklich einfältiger sein müßte als er ist, um nicht seinem Lippowitz satirische Weisungen gegen seine Widersacher geben.

Und er hat eine ergehen lassen, die ihn annähernd so zu meinem satirischen Bundesgenossen macht wie den Metteur en pages der Arbeiter-Zeitung, der den Einfall hatte, direkt unter die Verwahrung, ein Krupnik-Organ zu sein, die diesbezügliche Annonce zu setzen. Alles was sich in dieser von mir angeschauten Welt begibt, gehorcht ja dem Gesetz, die Einfälle, die ich dazu haben könnte, vorwegzunehmen. Wenn ich die Lage der österreichischen Sozialdemokratie vor dem Faktum Zörgiebel betrachte, so konnte, so mußte mir dazu einfallen: ja da wird doch nichts übrig bleiben, als daß der Berliner Genosse jetzt noch einen Vertreter des Lippowitz empfängt, mit offenen Armen, Bramarbasso im Handeln, Connivente im Reden, und daß sich eine Szene abspielt, als ob nunmehr alles, was Schober auf dem Herzen hat, aus der Mördergrube Zörgiebels zum Vorschein käme, tonfilmisch übertragen, ein gespenstisches Schattenspiel von der laterna magica, die das Bordell des Lippowitz beglaubigt. Das konnte mir einfallen, aber es stand schon im Neuen Wiener Journal. Schobers Tendenz, die freundnachbarlichen Beziehungen zwischen dem 15. Juli 1927 und dem 1. Mai 1929 auszubauen und zu vertiefen, getreu exequiert, voll und ganz, daß kein Rest bleibt. Lippowitzens Sendbote erscheint auf dem Alexanderplatz und kann sich sogleich, wie daheim am Schottenring fühlen. Präsident Karl Zörgiebel

sitzt ruhig, behaglich, friedlich lächelnd bei seiner Arbeit und streckt mir sehr verbindlich eine weiche, aber wuchtige Hand entgegen.

Das tun sie immer, wenn sie die Ordnung hergestellt haben und die Begräbnisse vorüber sind, mögen sich auch noch vereinzelte Elemente in Spitals- und Wasserbetten winden.

Das ist kein Löwe in Uniform

konstatiert der Interviewer

kein ordengeschmückter Krieger, vielmehr ein eleganter Herr und Weltmann ...

Schwankt man noch, welche Möglichkeit unappetitlicher sei: den Sozialdemokraten als Ordnungsstütze oder als eleganten Herrn und Weltmann zu bewundern, schwankt man, welche Führercharge geeigneter wäre, das Proletariat an der Nase zu führen, so erfolgen auch schon die Begrüßungsworte:

»Ich freue mich, daß die Öffentlichkeit in Wien sich für die Probleme der internationalen Polizei interessiert. Was wollen also die Leser des ›Neuen Wiener Journals‹ von mir hören?«

Die Leser des Neuen Wiener Journals, die zugleich den Auswurf einer weiteren Menschheit repräsentieren, wollen nebst den Adressen neuer Masseusen aus der Problematik der internationalen Polizei, die gelegentlich auch das Schieber- und Erpresserwesen umfaßt, selbstredend vor allem erfahren, wie man in Berlin die Ordnung hergestellt hat. Lippowitzens Sendbote fragt darum nach den »Grundsätzen«, von denen sich Zörgiebel leiten ließ. Und nun ergibt sich eine so vollkommene Übereinstimmung mit dem Mann, der maßvoll, aber energisch vorgegangen ist und dafür von Zörgiebels Genossen gekränkt wurde, daß man glaubt, es handle sich um ein Interview in der Wiener Polizeidirektion, bei dem sich unser Schober als Bauchredner produziert hat. Die Frage nach den Grundsätzen wird mit einem schlichten Wörtlein abgetan, das uns so recht anheimelt:

»Grundsätzlich bin ich gewohnt, mir meine Handlungen nicht vorschreiben zu lassen, sondern das zu tun, was im Interesse des Staates und der öffentlichen Ordnung liegt ...«

Gewiß, man dürfte schon die Wahrnehmung gemacht haben, daß der Unterschied zwischen Monarchie und Republik, abgesehen von dem Detail, daß kein Kaiser da ist, ausschließlich darin besteht, daß die Stelle, wo kein Gras wächst, heute statt vom Militär von der Polizei eingenommen wird. Der wesentliche Inhalt der errungenen Freiheit stellt sich als der Vorteil dar daß man auf dem Trottoir nicht mehr vor Offizieren ausweichen muß, sondern durch ein Spalier von Wachmännern gehen kann. Die Orgie von Irrsinn und Stupidität, die sich im militärischen Formenwesen austobte, spielt sich im Territorium der besiegten Mittelmächte jetzt so ab, daß die Waffen, die gestreckt wurden, nur noch jenen Paradezwecken dienen, die die Gefahr des inneren Feindes anschaulich machen. Der morgige Tag, der 15. Juni 1929, wird ja das Schauspiel bieten, wie Lorbeerreiser, an denen alle Ekelvorstellungen eines vertierten Menschseins haften – aus Not und Tod dem Fibelbegriff unversehrt überliefert – die Stirn eines mediokren Konzeptsbeamten umwinden, der als Generalissimus die Front einer verblödeten Stadt abschreiten wird. Die Stirn des Würdenträgers, der nicht imstande war, den Begriff einer Zivilistenehre vor mir zu retten. Entziehung der Tribünen? Schwächliche Auskunft, wenn man zugleich Barrikaden bekämpft. Es dürfte schwerer gelingen, die Wiener um ein Spektakel zu betrügen, als um die Freiheit! Die einzige, die errungen wurde, ist ja doch die des Sandor Weiß! Das Phänomen, daß die leibhaftige Mittelmäßigkeit Spielraum hat für die Demonstration blutiger Zwecke und für ein Gepränge von Symbolen der Gewalt – das ist die untilgbare Schuld einer Partei, die im welthistorischen Augenblick des Jahres 1918, wo sich ihr die bürgerliche Welt kniefällig zum Genickfang darbot, es vorgezogen hat, sich mit ihr ins Inventar von Macht und Würde zu teilen. Nun sitzen die Generalstabschefs in den Polizeipräsidien, und in Berlin ist es vollends ein Sozialdemokrat, der zum Abgesandten des Bundesgenossen den denkwürdigen Satz spricht:

» Es ist ein altes Generalstabsprinzip, daß man sich die Taktik vom Gegner nicht darf vorschreiben lassen.«

Mit einem Wort, ein neues Preußenideal: der Marschall vom »Vorwärts«! Ein sozialdemokratischer Bumbum! Aber welcher Offenbach'sche Hohn wäre zureichend, dieses Avancement einer heruntergekommenen Revolution zu bewältigen? Freilich, in einem Punkte dürfte Schober von dem Interview, das seine endgültige Rechtfertigung besorgen sollte, enttäuscht gewesen sein. Zörgiebel zeigt der Revolverpresse, die heute überall die Interessen der Polizei vertritt, sein Arsenal:

»Die Ausrüstung der Polizeimannschaften bestand nur aus Revolvern und Gummiknütteln, Karabiner habe ich nicht mitnehmen lassen.«

Sonst aber weist er auf die vorbildlichen Maßnahmen vom 15. Juli 1927. Natürlich will der Schmock auch erfahren, ob sich »keine Überraschungsmomente« ergeben haben. »Der Mann, der über Berlin wachte, denkt einen Augenblick nach.« Das tat Schober nie! Der Interviewer hat inzwischen Gelegenheit zu Folgendem:

Ich betrachte die zurückgelehnte breite Gestalt. Empfinde die personifizierte Ruhe und Sicherheit. Dann schüttelt Zörgiebel das Haupt:

Derlei pflegt auch Schober zu tun.

»Überrascht konnten wir nicht werden ...«

Hinsichtlich der Panzerwagen scheint er jedoch anderer Ansicht zu sein. Er spricht davon, daß »eine gewisse Relativität der Kraftanwendung« am Platze sei, während Schober solche Einsteinschen Bedenken bekanntlich nicht kennt, wiewohl er wieder Zörgiebel um das Sprichwort beneiden könnte, das diesem hiezu eingefallen ist.

» ... Man darf nicht«, lächelt Präsident Zörgiebel, » mit Kanonen auf Spatzen schießen!«

Fürwahr, eine lustigere Metapher dürfte einem, der mit Revolvern auf Menschen geschossen hat, noch nicht eingefallen sein! Zörgiebel will das Maß der Kraftanwendung jeweils der Psychologie des Schupo-Mannes überlassen, und da ist er in der Lage, dem Vertreter des Lippowitz die folgende sachliche Aufklärung zu geben. Das Verhalten des Polizisten sei »von subjektiven Empfindungen bestimmt«:

»Wohl muß er Feuerdisziplin halten, aber ob er glaubt, fünfmal schießen zu müssen statt dreimal, das bestimmt sich nach seiner geistigen und körperlichen Disposition und nach der subjektiven Einschätzung der Gefahr, in der er sich befindet oder sich zu befinden glaubt. Wie überall, so gibt es auch hier Grenzen, die außerhalb jeder menschlichen Voraussicht liegen.«

Ob da die Grenzen nach unten oder nach oben gemeint sind, so daß der Polizist auch öfter als fünfmal schießen kann – es ist ein Wort von seltener Erkenntnisfülle. Kein Wunder, daß der Schmock zum Schluß entzückt feststellt, man verstehe jetzt,

warum die Jünger der Polizeiwissenschaft aus drei Kontinenten zur Berliner Alma mater des Polizeiwesens pilgern.

Natürlich, auf den eigentlichen Almen matres wird bloß mit Stöcken geprügelt, aber in den Polizeidirektionen kann man noch was lernen. Schober, dessen Hochschule mehr eine Pflanzstätte der Bildung ist, dürfte bei diesem Interview trotz aller Übereinstimmung doch ein gewisses Gefühl des Neides nicht losgeworden sein besonders bei der Stelle, wo auf einen Tasterdruck Zörgiebels Flämmchen aufleuchteten, die den Standort der Polizeireviere bezeichnen. »Sie ham halt a Urganisation«, sagt der österreichische General resignierend von den Preußen; Flämmchen haben wir noch nicht. Aber sonst dürfte er doch mit Befriedigung auf sein Ebenbild weisen, dessen Vollkommenheit sich noch in der Verabschiedung darbot. Mit offenen Armen empfängt Schober, aufgerichtet wie ein Unwahrzeichen von Wien. Und zum Abschied kann Zörgiebel dem Besucher diesbezüglich noch etwas Hübsches mitteilen. Eine konnivente Verletzung des Amtsgeheimnisses, eine Originalnachricht, die man einem Vertreter des Lippowitz schon schuldig ist. Tout comme chez nous, sagt Veilchen. Zörgiebel, voll Lobes über die seitens seiner Person entfaltete Tätigkeit, spricht davon, daß er pflichterfüllend auch aus seiner Wohnung telephonisch Befehle erteilen könne.

»Ein Befehl, der Sie interessieren dürfte«, reicht mir der Präsident die Hand zum Abschied, »habe ich kurz vor unserer Unterredung gegeben. Ich will Ihnen etwas mitteilen, was jetzt in der Öffentlichkeit noch nicht bekannt ist, ja nicht einmal meinem lieben Pressechef: ich habe soeben das Erscheinen der ›Roten Fahne‹ auf die Dauer von vier Wochen verboten.«

Schober mag bedauern, daß er niemandem eine so hübsche Mitteilung hinsichtlich der Fackel machen kann, und er mag sich höchstens der Illusion überlassen, daß sie, die sehr oft auf die Dauer von vier Wochen nicht erscheint, in dieser Zeit von ihm verboten sei. Aber rücksichtlich der Arbeiter-Zeitung hat er eine solche Maßnahme nicht nötig. Da reicht der Coup mit diesem Zörgiebel-Interview, der ihm in der Tat gelungen ist, vollkommen aus, und die mittlere Verschlagenheit, über die er verfügt, mochte noch in der Sicherheit triumphieren, daß die Arbeiter-Zeitung mit keinem Wort auf den äußersten Hohn reagieren konnte: wie der Berliner Genosse im lumpigsten Organ der Wiener Bourgeoisie die Rehabilitierung des Erzfeindes der Wiener Arbeiterschaft vollzieht. Aber dieser Schober weiß ja, daß ihm nichts widerfahren kann, ob er nun mit Tanks oder mit journalistischen Kanonen auffährt; denn er paradiert vor Spatzen, und die auf dem Dach von Lüge, Fälschung und Felonie pfeifen, hindern ihn nicht, zur Tagesordnung zu schreiten. Als der Eingeweihte sämtlicher Parteigeheimnisse, als der er seine Machtposition länger als der Bekessy behaupten kann, wußte er ja immer genau, wie die Taktik einen Kampf reguliert, der ihm in Wahrheit nie gefährlich werden konnte. Und wir andern wissen noch dazu, daß eine gemeinsame Antipathie, die Bundesgenossenschaft derer, die ihre Würde und meine Bürde tragen, schließlich doch stärker ist als das Gedenken an neunzig Tote!

Wenn mich nicht immer wieder ein Gefühl, das gleichermaßen aus Ekel und Erbarmen zusammengesetzt ist, lähmte, ich hätte längst die Halbschlächtigkeit, die dieses Gedenken verunehrt, an den Pranger gestellt, an dem sie wie nichts Bürgerliches im heutigen Österreich zu stehen verdiente, die Gesinnung, die die wirksamste Waffe im Schoberkampf, tausendmal wirksamer als alle Parteipolemik: das Schoberlied, zuerst behindert und dann vor den Augen des Feinds entwertet hat. Aber damit die sozialistische Jugend erkenne, welcher Grad des Selbstwegwurfs im politischen Leben erreichbar ist, wenn es gilt, eine gute Sache um der schlechten Sache willen preiszugeben, so erfahre sie, was sie noch nicht weiß. Im Zentralorgan wurde – das weiß sie – aus dem Artikel eines Mitarbeiters hinterrücks der integrierende Satz beseitigt, durch den dem Fall Stefan George das Beispiel eines Zeitkämpfers entgegengestellt werden sollte. Die Arbeiter-Zeitung hat, anstatt die gegen mich wühlenden Schlieferl und Tinterl unschädlich zu machen, deren Praktiken gedeckt, und nicht bloß aus Gründen jener Parteidisziplin, die als eine wahre vis major alle sittlichen Verpflichtungen auflöst, sondern um einer journalbürgerlichen Kameraderie willen, die den Zunft- und Bürogenossen wie ein Talisman gegen alle Anfechtungen der Moral wie der Logik schützt. Sie hat zur Rechtfertigung des Manövers den schäbigsten Standpunkt der kapitalistischen Zeitungswelt bezogen, die abgetakelte Usance des bürgerlichen Preßmetiers gegenüber dem kleinen geistigen Arbeiter, der sich im Gegensatz zum namhaften Autor jede Vergewaltigung gefallen lassen müsse, wenn er nur honoriert wird. Sie hat sich nicht gescheut, meine Darstellung der stilistischen Arbeit am fremden Vers als das Selbstbekenntnis einer analogen »Übung bei der ›Fackel‹« zu verwerten, und sie hatte den guten Einfall des schlechten Gewissens, die stärkste Verdrehung einer Sachlage mit dem Aviso einzuleiten: »Wohlgemerkt und gegen jeden Versuch einer Verdrehung gesichert«. Sie hat eine Angelegenheit, durch die das Treiben der Schlieferl und Tinterl einmal festgestellt war, aus dem Fonds großbürgerlicher Argumente zu dem Nachweis umgedreht, daß meine Eitelkeit ein Sätzchen der Anerkennung reklamiert habe, welches mir der Autor in speichelleckerischer Absicht zuwenden wollte und das ihm zu streichen geradezu Ehrenpflicht einer Redaktion war, die etwas auf sich hält und nichts mehr von dem, den sie einst als den Wertmesser aller moralischen Beschaffenheit gepriesen hatte. Aber Gott ist sein Zeuge, welches Übermaß von Zurückhaltung er aufgewandt hat, um angesichts einer ihm fühlbaren Bedrängnis, angesichts des tragischen Mißbrauchs, der hier im parteilichen und redaktionellen Dienst mit Menschlichem geschieht, die sittlichen und geistigen Abgänge nicht zu bemerken, aus denen diese polemische Fülle geschöpft wird. Die Arbeiter-Zeitung – und nur sie spreche ich an – hat mit allen Mitteln der Unwahrhaftigkeit, mit dem Appreturverfahren für Sachverhalte und Tonfälle, mit der Entstellung von Tatsachen und Texten, mit der lächerlichen und unwürdigen Bloßstellung des wehrlosen Mitarbeiters, der Verdächtigung seines Rechtsbeistands und der offenen Terrorisierung der Zivilgerichte, aus dem hysterischen Fanatismus des Bedürfnisses, daß die Stimme das Gewissen übertöne, Unrecht das Unrecht ersticke – sie hat den Fall, in dem sie vor der kapitalistischen Justiz recht behalten muß, durchgekämpft, wie jene andern Fälle, in denen sie vor einer uninformierten und uninteressierten Leserschaft die Oberhand behält. Und wenn mich nicht, wie gesagt, jenes sonderbar gemischte Gefühl lähmte, so würde ich unter Enthauptung eines Rattenkönigs von bürgerlichen Gesinnungsdefekten ihr so auf den Mund schlagen, daß ihr Hören, Sehen und Schreien vergehen sollte. Denn dabei wollen wir es nach »Auseinandersetzungen«, wo sich doch nur auseinandersetzt, was nicht Bestand hatte, keineswegs bewenden lassen, daß die Gaben nun so verteilt bleiben sollen, wie sie da ohne Wahl und ohne Billigkeit verteilt wurden: daß die Schlieferl und Tinterl weltanschauliche Ringer sind, die eben manchmal Jiu-Jitsu-Griffe anwenden müssen, wenn sie »mit dem Problem Kraus ringen«, während solche, die ihre Person für die Sache eingesetzt haben, als »Schlieferl und Gschaftlhuber« fortleben, vor denen man den einsamen Künstler bewahren muß. Denn, wie »uns längst aufgefallen ist«, sie drängen sich an ihn heran und er, eitel wie eben die einsamen Künstler sind und wie auch der nichtorganisierte Schopenhauer war, pflegt bekanntlich »aufzuhorchen«, sobald ihm nur jemand »versichert, er stehe zu ihm«, und er hat noch nie die halbe Arbeitsnacht damit verbracht, solche Verehrer abzuwehren. »Wir haben uns immer gewundert« (versetzt die Arbeiter-Zeitung als posthumes Klampfl) »mit welchem Eifer sich Schopenhauer, der doch auch ein Menschenverächter war, bei Frauendorfer erkundigte, ob er nicht über ihn etwas in der Zeitung gelesen habe«. Die Parallele ist verblüffend, wenn man bedenkt, daß ich Publikationen über mich, wenngleich nur im Annoncenteil der Arbeiter-Zeitung, sogar herbeiführe. Freilich bringt es der Wandel der Zeiten mit sich, daß die Eigenschaft, die mich schon immer mit Schopenhauer verbunden hat, ehedem die der Welt war, von der es damals hieß, sie räche sich durch planmäßiges Totschweigen, weil ich eben »mit Schopenhauer sagen könne: Überhaupt, wo ist eine Eitelkeit, die ich nicht gekränkt hätte? Man dient nicht der Welt und der Wahrheit zugleich«. Das war ohne Zweifel richtig, und wie man sieht, empfiehlt sich die Eitelkeit zu jeglichem Gebrauch. Doch wie immer der einsame Künstler zu solchen stehen mag, die die Eigenschaft in ihm selbst nährend, indem sie zu ihm stehen – entschiedener als diesem Andrang widersetzt er sich einem Parteischutz, der ihm dagegen offeriert wird, und einer Parteihilfe, um zu erkennen, wer ihm sachlich im Kampfe dient und wer ihn darin behindern oder verraten könnte. Und schon gar nicht wird er es dabei bewenden lassen, daß ihm am Schlusse zur Entschädigung die »Künstlerschaft« bleibt und sozusagen die »funkelnde Sprache«, während die Wahrheit denen zugehört, die sie von berufswegen nicht haben und nur über den Mechanismus verfügen, durch den sie täglich von neuem erstickt werden kann. Nein, mit so dürftiger Zuweisung wird sich seine Eitelkeit nicht abspeisen lassen, die eben anders »gewählt« und anders »sich entschieden« hat als die Bescheidenheit eines Herwegh, der da gegen Freiligrath wünschen konnte: »Und meinen Lorbeer flechte die Partei

Sie ist im Gegenteil geneigt, feierlich zu verzichten, nachdem sich alle Begeisterung nach zehn Republikjahren als auswechselbares Literatenlob herausgestellt hat. Ließe meine Anschauung von der Welt die Absonderung des artistischen vom sittlichen Wert geschehen, so möchte ich die künstlerische Fähigkeit eher in dieser Zurechtmachung von psychischen und realen Sachverhalten erkennen und mir lediglich die Gabe vorbehalten, mich nicht blöd machen zu lassen! Denn was sich hier abgespielt hat, sind in Wahrheit Ereignisse der Menschennatur, die in ihrer unerschöpflichen Vielgestalt eben auch die Erfahrung zuläßt, welcher Unredlichkeit noch die leibhaftige Ehre fähig sein kann, sobald sie in Kollision mit meiner unerbittlichen Forderung gerät. Diesen Zustand einer Hinfälligkeit vor der letzten sittlichen Entscheidung mache ich seit den Tagen mit, da eine ganze große Partei in die schmachvolle Abhängigkeit von einem individuellen Erpresser geriet, welche sie schwer, aber doch leichter ertragen hat als den Zwang des individuellen Revolutionärs, der an sie keine andere Forderung hatte als daß sie ihren Idealen treu bleibe. Und diese Hinfälligkeit wird noch sinnfälliger seit der fragwürdigen Befreiung, welche, ein jähes Aufraffen in dem Moment persönlichster Bedrohung, doch erst die kulturelle Versäumnis anschaulich machte; seit den Tagen, wo im Nachhinein als Sodomsgreuel zusammengefaßt erschien, was bis dahin als »die Methoden des Herrn Bekessy« kaum berührt war. Wie kein anderer habe ich mitfühlend die Bedingtheit erlebt dieses aufreibenden Wirkens zwischen der erkannten Wahrheit und einer gesetzten Möglichkeit und nur zu oft der falschen Sprachmusik das Klirren der Parteifesseln abgehört. Gewiß, die Aufopferung für die Parteireligion hat auch dort noch etwas Respektables, wo die tägliche Verpflichtung, schmutzige Wäsche zu reinigen, den Unterschied zwischen dem geistigen Arbeiter und der Waschfrau problemfrei macht; und ich habe selbst noch Verständnis für die Toleranz, mit der eine persönliche Sauberkeit alles, was im Umkreis geschieht, gewähren läßt bis zur verkehrten Parole: Kinder stehlts, der Vater geht beten! Der Entschluß jedoch, jeglicher Erkenntnis der Wahrheit und allem Bekenntnis zu meinem Maß, kurz den Verpflichtungen zu entsagen, die immerhin eine wertvolle Wesenspartie auszufüllen schienen, und dies nicht um der großen Sache willen, gegen die ich mich vergangen hätte, sondern um der kleinen Personen willen, die sich gegen mich vergangen haben, da ich der Sache diente – diese Wendung scheint mir so sehr einer seelischen Katastrophe gleichzukommen, daß mich Mitleid mit einer polemisch resoluten Wehrlosigkeit, Ekel vor den kniffigen Bedrängern, die sie doch nicht zufrieden stellt, so lange als möglich bestimmt, die öffentliche Gefahr auf eine private Misere herabzusetzen. Was höre ich da? Mir sei mit der Polemik »zu viel Ehre erwiesen« worden? Wie werde ich der Ehre von Individuen habhaft, die den Schützer zu dem Opfer zwingen, sich seines bessern Wissens um mich zu entäußern; die das ruchlose Kriegsmittel verwenden, die leibhaftige Schutzwürdigkeit voranzuschicken; die beim Gegner Empfindungen in den Kalkül ziehen und selbst keinen Dank haben für die Strapaze, mit der die Ehre die Unehre zu decken unternimmt! Zu viel Ehre? Zu wenig an dem Effekt, zu wenig in der Gegend, aus der er bestellt ward! Ich wünschte, daß die verantwortlichen Verderber eines Menschenwerts, die getarnten Kommisgestalten, denen das künftige Heil der sozialistischen Jugend anvertraut ist und die den Verrat an der Sache mit dem Einsatz der fremden Person betreiben, endlich hervortreten, um mir die wahre Auseinandersetzung zu erleichtern, den eigentlichen Kampf für eine Sache, die sie mit jeder Faser ihres bürgerlichen Wesens, mit jedem Feder- und Atemzug verleugnen! Was sich heute im Vordergrund abspielt, ermöglicht mir höchstens die Entschädigung der deutschen Sprache, die unaufhörlich dort vor den Kopf gestoßen wird, wo man so rührend bemüht ist, durch Drucksperrungen Verstöße gegen sie festzustellen, die im Kreise meiner Mitkämpfer wahrgenommen werden. Aber die Sprache des Kampfes steht in einem naturhaften Zusammenhang mit der Wahrheit, und ich spreche es mit der höchsten Achtung vor einer mißbrauchten Menschlichkeit aus, daß sie, wo sie einmal frei ausströmen darf, einer fehlerlosen Sprache fähig ist, während die Hemmung des Parteigebots und vollends die des Zunftinteresses sie zu einem Wüten zwingt, durch das mit allen Banden der Gesittung und Vernunft auch die der Syntax gelöst erscheinen. Wo eifernd etwa gleichmäßig abhängige Sätze ohne äußere Verbindung koordiniert werden, liest man in Subordination hinein und das ganze Satzgefüge weist auf eine Abhängigkeit, die durch den Impetus einer verzweifelten Logik dem eigenen Wahrheitsdrang widerstreitet. Dieses ergreifende Naturspiel, wie sich – in einem Schrifttum, das seinen ethischen Bedarf eben doch nicht bloß mit den Griffen des Metiers bestreiten kann – die Sprache selbst rächt, wenn sittliche Wesenheit einem äußern Diktat gehorcht; wie sich die Sprache mit dem Sprecher auseinandersetzt, und wie sich der eigenste Wert eben an dem Unvermögen im Ausdruck des schlechten Gedankens beweist, das könnte ich in einem Dutzend Kapiteln zur Sprachlehre vorführen. Denn die Einsicht: ob einer echt und wahr, ob er oberflächlich und verlogen ist, das erkenne man daran, »wie er zu Karl Kraus steht« sie ließe sich im Fassungsraum einer und derselben Persönlichkeit bestätigen, und Sprachkritik wäre der Behelf, um das Echte und Wahre noch an der Abirrung anschaulich zu machen. Mit der Analyse eines Stils, der so ganz und gar der Mensch selbst ist, indem jener verlegen stottert, weil dieser nicht lügen kann wo er muß – wäre geradezu eine Ehrenrettung vollzogen, die mir ein Herzensbedürfnis bleibt, mag ich auch bis dahin allen Unbilden der psychischen Witterung ausgesetzt sein.

Und mit solchem Wissen um das Sprachgeheimnis würde ich der Arbeiter-Zeitung schon beweisen, wie recht sie mit dem Zugeständnis hat, daß die Nennung meines Namens in einem sprachkritischen Zusammenhang mit Stefan George immerhin am Platz wäre. Aber sie war auch dort keine absurde Zumutung, wo der Verfasser bloß den Wunsch hatte, ihm das Beispiel eines Zeitkämpfers entgegenzustellen. Was die Arbeiter-Zeitung in voluminösen Artikeln, Schriftsätzen und Eingaben zur Bagatellisierung einer Sache, die wirklich »nur die Kreise des Herrn Kraus« interessieren mag, herbeigewälzt hat – es würde, von mir reproduziert und aufgelöst, eine Geschichte des geistigen und moralischen Verfalls einer Partei ergeben, durch die die Verbürgerlichung des sozialdemokratischen Denkens zu erschreckender Anschauung käme. Die förmliche Gier, kein bourgeoises und journalistisches Argument zur Anfechtung eines geistigen Rechts ungenützt zu lassen, beruhigt sich nur zu dem breiten Hohn, der jedes Kommerzgemüt anspricht: »Gegenstand! Und wegen so was« – des Anspruchs auf den Gedanken, den einer ausdrücken wollte – »müssen sich fünf Gerichtsinstanzen herstellen!« Das Achselzucken einer Weltanschauung, die bloß die greifbaren Interessen als die berechtigten erkennt, derselbe Habitus, der, zur Abwehr der Kulturpest aufgefordert, die Auskunft hatte: »Wir haben andere Sorgen!« Aber die Lüge dieses Betriebsstandpunktes bestand darin, daß die Sozialdemokratie Wahrlich die Sorge hatte, wie sie den Erpresser loswerden sollte, den mit der bürgerlichen Welt geteilt zu haben, ihr als unauslöschlicher Makel anhaften wird! Und das Ausmaß der Lüge wurde erkennbar an der Vehemenz, mit der sie sich eines Tages die Sorgenlast vom Herzen schob und dem Gewissensmahner folgte, der ihr zugeredet hatte, sich endlich zu der Sorge zu bekennen, die sie in Wahrheit hatte. Es gibt zwei Briefe des Bürgermeisters an mich, von deren Bekenntnisinhalt er sich heute als Ehrengast des Pen-Klubs zwischen den Herren Castiglioni und Salten erholt. Aber es gibt noch einen dritten Brief an mich, worin er mich nicht mehr zur Verjagung der alten Gespenster beglückwünscht, sondern hofrätliche Formeln findet, um sich an der Verjagung der neuen Gespenster nicht beteiligen zu müssen, und wo er es wagt, sich vor dem Mann, den er als den Sendboten der Wahrheit angesprochen hatte, auf eine Unwahrheit auszureden. Nun, den Schober zu verjagen, ist uns beiden nicht gelungen. Aber wenn wir schon dieses Mißlingen gemeinsam haben, so kann doch ich wenigstens sagen, daß ich alles getan habe, damit er auch der Literatur erhalten bleibt!

Und jetzt möge man das letzte Stadium einer politischen Anstrengung erkennen. Man erfahre, daß der Arbeiter-Zeitung im Kampf kein Opfer der Gesinnung groß genug ist, wenn es gilt, sich eines unbequemen Bundesgenossen zu entledigen. Ernsthaft hat sie sich in Artikeln und Schriftsätzen bemüht, das Walten eines pflichttreuen Feuilletonredakteurs als gemeinnützig hinzustellen, dem es gelungen ist, die Geburtstagsfeier für Stefan George von meiner Anwesenheit rein zu halten. Unter allem, was sie für diese Maßnahme an verzweifelten Argumenten geltend gemacht hat – so um den schönen Satz herum: »Und nun erwäge man dieses Bezirksgericht!« –, in diesem ganzen Fuchsbau einer Winkeladvokatik bildet die beste aller Ausflüchte der Gedankengang, daß man in einem Artikel zu Ehren eines Lyrikers Beispiele für den Zeitkampf wie die Namen Bekessy und Schober entbehren könne, ein Argument, das dem Vorbild des Erstgenannten als des Bahnbrechers journalistischer Wirbeltaktik doch weit mehr Ehre erweist als dem Stefan George. Denn wenn man schon jene Namen als Beispiele für den Zeitkampf entbehren konnte, so war doch darum das Beispiel des Zeit kämpfers nicht zu eskamotieren, das der Autor eben dem Fall George entgegenstellen wollte. Und zur Deckung dieses Handgriffs dient eben die »Methode«, auch ein Glied der begrifflichen Kette zu eskamotieren, indem man mit den sonstigen Gliedern vernehmlich klimpert und einer Gerichtsinstanz nach der andern plausibel macht, wie unpassend der Bekessy neben Stefan George gewirkt hätte. Solchen Mißeindruck zugunsten Schobers verhüten zu wollen, hat man sich für den Obersten Gerichtshof aufgehoben. Denn was liegt uns an dem Schein, vor dem höchsten Forum der Bürgerlichkeit den Kampf selbst preiszugeben, wenn es gilt, gegen den unbequemen Mitkämpfer jenes Recht zu behalten, dessen Anspruch für einen Sozialisten entehrend, dessen Zuerkennung für ihn beschämend ist! Und nun wird der sozialistischen Jugend wohl nichts übrig bleiben als zu vermuten, daß ich einen Sachverhalt erfinde, wenn ich die folgende märchenhafte Begebenheit erzähle.

Die Arbeiter-Zeitung hat eine Revisionsbeantwortung an den Obersten Gerichtshof gelangen lassen, bei dem man gewiß eher Sympathien für die Bekämpfung der Prostitution als für die des Herrn Schober voraussetzen darf und dem man doch vorweg in besserem Licht erscheint, wenn man den diesbezüglichen Kampf tunlichst auf die politische Rubrik einschränkt. Sie hat sich also entschlossen, diesen Obersten Gerichtshof zu »erwägen«. Ihm mit einem Ruck der Gesinnung einleuchtend zu machen, welche Zumutungen die Gegenpartei, die konsequent und überall den Schober bekämpfen will – nämlich dieser Kraus, der hinter der Sache steht und der alles macht, ohne persönlich hervorzutreten – der Arbeiter-Zeitung, nein, dem Obersten Gerichtshof selbst stellen möchte: daß er ihr auftragen solle, einen Satz noch einmal zu drucken, wo der Name Schober vorkommt! Die Arbeiter-Zeitung hat sich entschlossen, eine Aufwartung vor der bürgerlichen Welt zu machen, die man selbst Sozialdemokraten nicht zugetraut hätte, auch wenn sie längst als Stützen der Gesellschaft beglaubigt, als Garanten der Ordnung eingebürgert sind. Denn nach zivilrechtlichen Ausführungen kommt wörtlich die Wendung:

Schließlich sei noch auf folgende Momente verwiesen: die Fortsetzung des politischen Kampfes außerhalb der eigentlichen Politik wird politischen Zeitungen ständig zum Vorwurfe gemacht.

Wäre es nicht wirklich schon unter dem Gesichtspunkte des guten Geschmackes zu vermeiden, die Polemik gegen den Präsidenten Schober in der Literatur-Rubrik gelegentlich der Geburtstagsfeier eines Lyrikers zwischendurch fortzusetzen?

Ist das nicht erschütternd? Der Dichter steht auf einer höhern Warte – sagt die Partei, den Schober von der Zinne betrachtend, vom Ziergiebel! Diese den Ordnungssinn ansprechende, versöhnliche Regung, diese geradezu Rückert herbeizitierende Geste könnte sogar einen Präsidenten zum Satiriker machen – wenn er es nicht schon nach dem Berliner 1. Mai geworden wäre, nach dem Erlebnis, daß er einen Genossen zum Genossen hat. Man versuche, es auszudenken. Das ästhetische Feingefühl der Arbeiter-Zeitung, ihr anerkannt guter Geschmack, den nicht nur Krupnik befriedigt, sondern auch Stefan George, verwehrt es ihr, die leidige Polemik, die, wenn sie schon hin und wieder sein muß, doch in ein ganz anderes Ressort gehört – in das der »eigentlichen« Politik –, »zwischendurch« in die allen Händeln entrückte Literaturrubrik zu tragen, wo nur Schäferspiele vorgeführt werden. Nicht jede Zeitung hält so rein! Zwischen Lasalle und Krupnik eingebettet, gewiegt in den Schlummer des Bewußtseins, daß doch schon zehn Jahre seit dem Umsturz und zwei seit dem 15. Juli verflossen sind, bildet die Literaturrubrik der Arbeiter-Zeitung die Stelle, die Kunststelle, wohin kein Mißton des Zeitkampfes dringt, und wenngleich ich dort einmal versehentlich für den doppelten Nobelpreis vorgeschlagen wurde, so hat doch die Geburtstagsfeier eines Lyrikers frei von jeder Beziehung zu mir zu bleiben. Wir halten Burgfrieden! Der Gerichtshof möge – falls sich ihm nicht der Magen umdreht, wie uns Revolutionären die Gesinnung – überzeugt sein, daß die Polemik gegen den Präsidenten Schober ihre Grenze am guten Geschmack des Literaturredakteurs hat, und er soll einem Gegner doch nicht Recht geben, der immer Händel sucht und selbst in der Literaturrubrik gegen den Präsidenten Schober polemisieren möchte! Zwischendurch! Der Oberste Gerichtshof möge erwägen (und die Arbeiter-Zeitung erwägt ihn in dieser Richtung), daß der Name schon wieder genannt werden müßte, wenn die Arbeiter-Zeitung nicht siegreich aus diesem Zivilprozeß hervorginge. Der Oberste Gerichtshof wird doch nicht einen weniger guten Geschmack haben wollen als die Arbeiter-Zeitung? – Es gibt Worte, die mit Flügeln auf die Welt kommen und für die man hinterher allen prozessualen Gewinn opfern möchte, um sie wieder einzufangen. Es gibt Worte, die einen verlorenen Prozeß in größerer Sache bedeuten. Es gibt Worte, die schon als Stigma dem auf der Stirn sitzen, dem sie eingefallen sind. »Verklungen und vertan« – man möchte es zurückrufen, wiederhaben. Das Wort vom »guten Geschmack« wird das von den »anderen Sorgen« überdauern und diese vermehren. Es grenzt an die Tat des Schuftes Kerr, der dem Berliner Zivilgericht erzählt hat, daß ich jenen durch Plakate herabzuwürdigen versucht habe. Nein, es übertrifft sie. Denn der Berliner Schuft hat doch bloß gegenüber den Millionen Toten des Weltkriegs eine moralische Verpflichtung, aber nicht gegenüber den neunzig Toten des Polizeikriegs. Die Arbeiter-Zeitung aber bekennt, daß sie durch ihren guten Geschmack verhindert ist, in der Literaturrubrik eben dieses Gedenken fortzusetzen. Ich, der bereit ist, mit dem Gedenken des einen Hans Erwin Kiesler sämtliche Literaturrubriken und vor allem die nichtswürdige der Arbeiter-Zeitung zu sprengen, spreche die Erwartung aus, daß der schlechte Geschmack, den die sozialistische Jugend von diesem Bekenntnis empfangen mag, sie zwingen wird, ihn durch ein tausendstimmiges Pfui! auszuspucken.


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