Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Demokratisierung und Isolierung

Der Vortrag war, wie die anderen in diesem Heft veröffentlichten Reden, an vielen Stellen von stürmischer Zustimmung unterbrochen worden. Als nach dem Schluß, gemäß dem Sinne, der Vortragende sich dem gleichwohl »nicht endenwollenden« Beifall entzog, machte diesem die Ansprache eines Sozialdemokraten (Fritz König) ein Ende, mit der er die im Saale anwesenden Parteigenossen zu einer Versammlung aufrief. Die in ihr von 147 organisierten Sozialdemokraten beschlossene Resolution ist zunächst ein ehrendes und ehrenhaftes Bekenntnis zum Vortragenden. Inwieweit es seine Forderung erfüllt oder erfüllen kann, wird erst die Entwicklung der Aktion erkennen lassen. Die des Übels – der Entstellung des sozialistischen Weltbilds durch die sozialistische Presse – hat inzwischen merkliche Fortschritte gemacht. In den Wochen nach dem Vortrag wurde in Krupnik förmlich gevöllert. Fast kein Tag ohne ihn. »Heute kaufen Sie umsonst!« »Kommt! – Staunt! – Kauft!« Mit jähem Entschluß »verschleudert« er sein gesamtes Sommerlager, und zum Jugendtreffen waren »Hoserl, Bluserl, Manterl und Hauberln« nicht unpassend und so spottbillig, daß es hinausgeworfenes Geld ist. Am Tag des Aufmarsches gegen den Fascismus eine Annonce mit sturmverwehten Lettern: »Fort mit Schaden! Krupnik muß radikal räumen. Alles muß weg!« Die Revolution im Text dagegen gerüstet aus dem Arsenal der bürgerlichen Rhetorik; in Pathos und Scherzhaftigkeit hypertrophisch von dem Schwall der Wiener Festreportage genährt. Ein Schauspiel, dessen Satire in dem Hohn gipfelt, den die Schmockpresse dafür übrig hat, daß sie ihren ureigenen Rhythmus der Feindgesinnung angepaßt sieht. Kein Wortwimpel der Sangesbürgerlichkeit zu abgenützt, um die Pforte einer neuen Welt zu zieren. Doch aller Jugendglanz, der da eintreten will, wäre nicht strahlend genug, um die Alterserscheinung zu überdunkeln, als die sich dieses Wortführertum aufpflanzt.

Zum zehnten Republiktag hat in der Arbeiter-Zeitung Krupnik ein Bekenntnis abgelegt:

Auf mein Frage:

Wie wird man mit dem Zeitungsleser fertig, der den Kontrast bemerkt vor dem Lassalle: des Vorbild ausgesteckt wird, während hinten der Ausbeuter des Proletariats die Wünsche jeglichen Geschmacks erfüllt und selbst zum Fest das Pathos parodiert

wurde schon am übernächsten Tag, am 1. Mai geantwortet:

Es ist folgerichtig, daß diese Demokratisierung mit meiner Isolierung übereingeht. Nun erhebt sich nur noch die Frage, ob es die jungen Sozialisten in Ordnung finden. Der 1. Mai bringt auch einen Titel: » Arbeiterjugend im Fackelglanz«. Dieser Titel, der Krupniks Parole vorangeht, ziert er nicht einen Bericht über die 500. Vorlesung? Was steht denn da?

Und nun erst kommt das Großartigste des Abends: die formlose Masse gewinnt Gestalt, erst jetzt sehen wir das Gesicht der Jugend, wie glückverheißend jung, wie schön, wie froh, wie zukunftsgläubig diese Jugend ist, unsere Jugend, das Symbol und die Sicherheit unseres künftigen Sieges.

Nein, es ist nur ein Aufmarsch zum Ziel: Luxus für alle! Doch das Pathos des Festes ist nicht so geartet, daß es dem Humor verwehrte, in seine Rechte zu treten. Wenn schon nicht dem tragischen Humor des Kontrastes, der zwischen den Welten Krupnik und Lassalle spielt.

so doch einem andern:

Besonders vor dem Parlament übt sich der Witz der Jugend: »Hier wird ein Bundeskanzler zum Höchstpreis gesucht.«

(was wieder eine Antithese zu den denkbar billigsten wäre), und besonders hervorzuheben ist:

»Machts keine schlechten Streeru – witze!«

Ja, ja und hundertmal ja, die Zeichen einer gründlichen Revolutionierung der bürgerlichen Geisteswelt mehren sich, Lassalle hätte vorn und hinten seine Freude!
Was vermöchte ich gegen den Reim? Ist ein Ideal verklungen und vertan, so ersteht ein Krupnik-Organ, und auf Lassalle folgt Zerfall. Alles drängt mich, die eigene Sprache nur noch in der der Zeitstrophe zu sprechen. Die Exekution an der Wirklichkeit überlasse ich ihr selbst. Sie trifft immer mitten ins eigene Herz. Denn sie ist eine Welt des Zerfalls und des Zufalls, und dem Zufall bleibt die Mission, sie wieder einzurichten. Wie der Druckfehlerteufel die Zeitung lesbar macht; wie ein technisches Versehen hilft, die Schäden der Technik zu reparieren – wer von mir lesen und leiden gelernt hat, freut sich immer, wie gut alles endet. Was haben wir da erlebt? 1000 bis 15000 Schilling trägt jedesmal die Schmach, ein Sinnbild der bourgeoisesten Welt dem sozialistischen Weltbild aufzumünzen und die sozialistische Sprache den Lockungen des Verderbers zu leihen. Aber die strafende Gerechtigkeit hatte den unbezahlbaren Einfall, direkt unter den Protest:

– »Krupnik-Organ«, wie er sie schmäht –

zu setzen. Was kann ich dafür?
Nun erwächst freilich ein journalistisches Berufsproblem eigenster Art. Doch zuerst müssen wir uns verständigen. Wir sprechen ja stets aneinander vorbei, denn ein sittliches Postulat ist offenbar schwerer verständlich als ein unsittliches Inserat. Ich meinte, daß da allsonntäglich Volksgift anempfohlen wird, anempfohlen wäre, selbst wenn nicht die prostituierte Parole des sozialistischen Tages den Schmuggel listig beförderte. Ich meinte es im Sinne Lassalles, dessen Grabesumdrehung vor diesem Greuel mit Rotationsgeschwindigkeit erfolgt. Darauf wurde mir von parteibefangener Seite geantwortet und wird mir offiziell geantwortet werden, daß der redaktionelle Teil vom administrativen streng getrennt sei. Das ist ungefähr so, wie wenn die für Sodom und Gomorrha Verantwortlichen sagen wollten: wir haben beim Anblick dieser Greuel noch mit keinem Wimperzucken verraten, daß wir durch sie unsere Reinheit, für die uns selbst in Sodom noch ein Plätzchen reserviert ist, anfechten ließen; wir haben Gedankenfreiheit, uns unser Teil zu denken. Freilich wäre darauf zu antworten, daß zur Entgiftung der Gegend, wenn schon nicht die Abschaffung der Greuel, so doch ein tägliches Bekenntnis gegen sie erforderlich wäre, wobei es dem Anstifter überlassen bliebe, sie dann noch weiter zu annoncieren. Bis heute ist außer den gelinden gewerkschaftlichen Notizchen, die über Ausbeutung in Sodom erscheinen mußten – in einer Zwischenzeit, wo nachweislich keine Annoncen erschienen –, nichts geschehen, was die redaktionelle Unabhängigkeit, die ein schöner liberaler Besitz auch beim Weltuntergang bleibt, manifestiert hätte. Es ist nur der schüchterne Protest gegen die »Schmähung« erfolgt: ein Krupnik-Organ genannt zu werden, ein Protest, der leider erheblich durch eine Annonce entwertet wurde, die durch ihr Avancement in die Kunstrubrik, direkt unter die Kunststelle, fast diese zu vertreten schien. Wenn nun der Inserent, der Hauptinserent, auf dem Standpunkt stünde, daß seine Werbung durch die redaktionelle Ablehnung in so unmittelbarer Nachbarschaft entwertet sei, so könnte er den etwa laufenden Inseratenvertrag für null und nichtig erklären, und ich würde nicht Anstand nehmen, ihn darin moralisch und rechtlich zu unterstützen. Deutsche Gerichte haben wiederholt diese selbstverständliche Anerkennung von Treu und Glauben im Handelsverkehr zwischen Zeitung und Händler – in Fällen von Filminseraten, deren Inhalt redaktionell entwertet wurde – ausgesprochen. Der alberne Einwand, daß doch die Redaktion unabhängig sei, wurde mit Recht abgewiesen, weil der Auftraggeber für Reklame und nicht für deren Entwertung bezahlt hatte und weil die Wahrung der idealen Güter der Publizistik nicht die Sorge des Inserenten ist. Die Arbeiter-Zeitung, die auf dem ehrenwerten Standpunkt einer redaktionellen Unabhängigkeit steht – welche sich in der Praxis so auswirkt, daß der Inseratenteil von der Redaktion unabhängig ist –, hat diese Rechtsansicht mit einem Fanatismus bekämpft, der besserer Inserate würdig wäre. Und ich kann heute nur sagen, daß von sämtlichen zeitkritischen Themen, deren Behandlung ich in den letzten Kampfjahren aufsparen mußte, mir kein größeres und dankenswerteres zu winken scheint, als die Darstellung der Jammerhaftigkeit dieser publizistischen Freiheit, der Bedenklichkeit dieser doppelten Buchführung, welche vorn an dem Ideal festhält und hinten das Geschäft nicht auslassen möchte; als der Nachweis der Korruption, der allen bürgerlichen Meinungshandel übertreffenden Korruption, die in dieser antikorruptionistischen Bemessung, dieser Auseinandersetzung der publizistischen Sphären gelegen ist. Wenn meiner Kritik des sozialdemokratischen Zentralorgans, das sich nach Jahren einer relativ sauberen Annoncenpolitik beherzt entschlossen hat, ein Krupnik-Organ zu werden und eines, das dem Proletarierverführer erlaubt, in der erborgten Sprache der proletarischen Weihetage zu werben, um Proletariern den auf Kosten der proletarischen Erzeuger verbilligten Luxuspofel aufzudrängen; wenn meiner Darstellung dieses Zustands, der doch schmachvoller und schmerzlicher ist als wenn der Leitartikel der Neuen Freien Presse von Krupnik bezahlt wäre – wenn mir darauf geantwortet wird, Redaktion und Administration seien streng getrennte Sphären, so werde ich mir nicht einbilden, einen Kampf, den Götter selbst vergebens kämpfen, zur Entscheidung zu bringen. Es wird vielleicht wirklich nicht verstanden, daß es sich hier gar nicht um das Problem der redaktionellen Unbeeinflußbarkeit handelt, die doch, eingefangen in einer Sphäre des Schmutzes, höchstens eine Sehenswürdigkeit bleibt, sondern um die Korruption eines Gesamtunternehmens; nicht um Redakteure, sondern um Sozialisten, um die Korruption einer Idee, um ein Greuel, worin mit offener Pharisäerstirn der Anspruch auf moralischen Kredit mit der Prostituierung einer sozialistischen Gelegenheit gepaart erscheint, ja, es handelt sich ausschließlich um diesen ungeheuerlichen Fall von Vermietung eines Ideals, die als ein Schulbeispiel von Heiligung des Mittels durch den Zweck, also der Unterstützung der Parteikasse durch den Erzfeind, doch nur dann möglich wäre, wenn zugleich dafür gesorgt würde, daß die unabhängige Redaktion jedesmal vor dem Gift warnte, das im Inseratenteil rekommandiert wird. Aber die Redaktion ist wohl dermaßen unabhängig, daß sie sich vom Parteivorstand auch keine Warnung vor Krupnik vorschreiben ließe. Diese Idylle von Meinungsfreiheit, ausgesetzt in eine Sumpfgegend, deren Dünste ihr um keinen Preis etwas anhaben können, ist sicherlich bis heute zu wenig gewürdigt worden. Aber das einzige Problem, das es hier noch geben kann, wäre doch wohl, welches moralische Wirrsal das größere sei: die redaktionell ungestörte Verpachtung der immer weiter vorrückenden Reklamegelegenheit, oder die Behauptung eines Männerstolzes vor Verlegerthronen, die, wenn sie im Vorwort zur Krupnik-Annonce publiziert würde, wenn der Wahrheit gemäß festgestellt wäre: Heute bringen wir ein »Bekenntnis zum Tage«, das einfach ein Sakrileg an unserer Idee ist – nach unentwurzelten Begriffen von Treu und Glauben ein Betrug an dem Kommittenten wäre, der die proletarische Gelegenheit gemietet hat, damit er sie ungestört von Sozialkritik genießen könne! Ich möchte den Unabhängigen den dringenden Rat erteilen, mir mit liberalen Bekenntnissen nicht aufzuwarten. Auf wie illiberale Art die Arbeiter-Zeitung in Fällen, wo ihr die Werbung für eine volksfeindliche Ware verübelt wurde – zum Beispiel für das Geistesgift einer elenden Romanbeilage, auf die wir unsere Leser besonders aufmerksam machten –, wie illiberal sie da den zahlenden Beileger durch eine nachträgliche Warnung vor der Ware, die sie doch dem schlichten Konsumentenverstand empfahl, beschummelt hat; und wie sie es doch wieder verstanden hat, eine Entwertung der Reklame, die für empörte Parteigenossen bestimmt war, vor dem Geschäftsfreund durch kleine Lettern zu verheimlichen – das Material darüber liegt in meinen schon vor dreißig Jahren bewährten Verleumderhänden. Mit diesen war es mir gelungen, allmählich eine Änderung herbeizuführen, da anerkannt wurde, daß meine Verleumdung bloß in den Bahnen der Lassalle und Liebknecht gewirkt hatte. Aber sie war leider zu wenig wirksam, um den besseren Kurs zu halten und der hereinbrechenden Krupnik-Seuche zu wehren. Und da stehe ich denn auf dem Standpunkt einer durch keine Revolution umstürzbaren Grundmoral, welche dem Todfeind des Proletariats, mit dem man Geschäfte macht, auch das Recht einräumt, sie nicht von einer redaktionellen Unabhängigkeit, die er ja nicht zu respektieren hat, durchkreuzen zu lassen, und ich würde es für sittlicher halten, auf Krupnik-Annoncen zu verzichten, Geld, das doch keinesfalls in der Absicht gewährt wird, die redaktionelle Unabhängigkeit zu bestärken, einfach abzulehnen – als von Krupnik redaktionell unabhängig zu sein! Solange seine Annoncen laufen, wäre jedes Wort der Auflehnung moralisch und zivilrechtlich anfechtbar. Wenn die Welt so läuft, daß der Text der Zeitung den Wert eines Stichworts für den Händler erlangt hat und an beliebiger Stelle von ihm unterbrochen werden kann, so ist die redaktionelle Unabhängigkeit eine Illusion, die jener eben noch zur Erhöhung des Reklamewertes gebrauchen mag. Swing's Klinge fährt in jedes Gerede. Ich habe kürzlich ein Feuilleton des Dichters Lissauer im ›Brünner Tagesboten‹ zu Gesicht bekommen, worin er, in der ersten Spalte, kaum begonnen hatte, die Apostelgeschichte zu zitieren:

»... und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an, zu predigen mit anderen Zungen, nachdem der Geist ihnen gab, auszusprechen.«

tönte es sofort mit anderen Zungen hinein. Die zweite Feuilletonspalte brachte den Namen der Firma Bauer in Brünn, die dritte, nach Schilderung »einer Epoche, die mit tausend Mitteln, Reizungen, Lockungen den Menschen zersplittert«: die Adresse. Sicherlich, der Metteur en pages der Zeitungen ist heute ein Dämon. Aber wenn die Welt so läuft, daß auch der sozialistische Text vom kapitalistischen Händler durch eine volksfeindliche Werbung – und in der volksfeierlichen Sprache des Textes – verdrängt werden kann; und wenn selbst die sozialistische Presse vom Vormarsch der Reklame in den Text profitiert, so mag die redaktionelle Freiheit dauernd ungestört bleiben – aber daß sie sich mit der Zeit hinauswerfen läßt, darüber belehrt uns der Lokalaugenschein. Und da die Verhältnisse so liegen, so von einer Administration, die die kapitalistischen Werte abwägt, mit Hilfe des Metteurs eingerichtet werden, da der wahre Umsturz der Gedankenwelt sich im Umbruch vollzieht, so mag der Antikorruptionismus auf sein Prinzip pochen und auf seinem Schein bestehn; wollte er sich aber in dem Winkel, den ihm der Händler gelassen hat, gegen ihn selbst regen, so wäre es höchstens ein Verstoß gegen die guten Handelssitten. Die vom Inseratenteil abhängige, korrupte bürgerliche Redaktion, die, den Kreuzelparagraphen umgehend, dem Händler etwas Ruhm draufgibt, respektiert sie; denn jener wendet sich an das Unternehmen. Auf dem »Trennungsstrich« zwischen Redaktion und Administration, mit dem geprunkt wird, spielt sich die eigentliche Prostitution ab, auf deren Vollgenuß der Kunde Anspruch hat, solange das Unternehmen sein Geld nimmt und sich nicht entschließt, es ihm hinzuwerfen. Kapiert denn diese Erzheuchelei nicht, daß, wenn ein Kloster den Haupttrakt als Bordell vermietet, die neuen Insassen sich von den paar Zellen, in denen noch gebetet wird, eine Pikanterie versprechen? Wehe aber, wenn von dort Flüche ertönten; das wäre unanständig, vertragswidrig und in hohem Maße ein Kündigungsgrund. Die flachdemokratische Auffassung von Antikorruption, die da meint, der gekaufte Text der bürgerlichen Zeitungen sei der Übel größtes – während im Gegenteil jede unbezahlte Zeile der Neuen Freien Presse ein Nationalunglück ist –; die da wähnt, man könne der Meinungskonterbande mit dem Paragraphen beikommen – derlei Ideologie aus der Zeitungsära, wo der Großvater Rothschild die Großmutter Presse nahm, wird zur Groteske vor einem Weltübel, dem selbst die sozialistische Presse zum Opfer gefallen ist, welche nur im Gegensatz zur bürgerlichen die pharisäische Selbstgerechtigkeit aufbringt, Persil am Himmel zu glossieren, mit dem sie auf der nächsten Seite die Leser ködert. Wenn die bürgerliche Presse keine Zeile mehr aufwiese, deren kommerzieller Ursprung nicht nachweisbar wäre: deutlich erkennbar oder verschleiert – ein Unterschied von Tineff-Format –; wenn endlich auch nicht ein Wort mehr der redaktionellen Meinung entstammte, so ständen wir vielleicht vor einer kulturellen Errungenschaft. Denn nichts wiegt doch alle materielle Korruption der Tagespresse gegenüber der geistigen Korruption, die sie im Maß ihrer Unbestechlichkeit verbreitet, und freilich noch weniger gegenüber der Möglichkeit, daß die nach gesetzlicher Vorschrift erkennbare Reklame des Volksverderbers – die der Leser für Empfehlung hält und die ihm in der Sprache der Parteifeier suggeriert wird – eine Sonntagsseite der Arbeiter-Zeitung ausfüllt. Hier, im überblickbar Außerredaktionellen, ist Korruption. Das Inserat im sozialistischen Blatt ist Korruption. Und ich sage, daß dieser kleine Antikorruptionismus, der den Splitter im fremden Aug mit einem Kreuzel versieht, die größte Lüge ist, der die heutige Journalwelt der Kontraste Spielraum gewährt. Masseusen-Annoncen im Neuen Wiener Journal, Schober-Artikel als deren Vorwort – so nützlich jene, so unnütz diese sein mögen (maßvoll und energisch sind beide) – das ist sicherlich ein Kontrast, den keine Phantasie der Unappetitlichkeit so leicht herstellen könnte. Doch es ist ein Kontrast, der die Welt der bürgerlichen Lüge, der heuchlerischen Moral und der verlogenen Würde, darstellt, wie sie von rechtswegen ist. Aber Lassalle und Krupnik, nein, selbst Otto Bauer und Krupnik – das müßte doch jeden Sozialisten zum Revolutionär gegen eine Partei machen, die solche Schmach im wahren Sinne des Wortes eingebürgert hat! Es ist Verfallszeichen, das greller als Persil am Parteihimmel erscheint und gegen das noch keine Glosse im lokalen Teil erschienen ist, nur die schamhafte Verwahrung im Kunstteil, der freilich das Unheil der Annonce auf dem Fuße folgte. Und das Erschreckende an diesen Erscheinungen ist vor dem moralischen das intellektuelle Verfallszeichen, das ihnen wie durch eine höhere antikorruptionistische Kontrolle als Kreuz anhaftet.
Doch was sind wieder solche Selbstbekenntnisse, was ist der Meinungshandel, der an jenem Sonntag mit mir und Offenbach abgekartet wurde, was sind die Dinge, die mich und Krupnik betreffen, neben einem geistigen Dokument, das gleich daneben auftauchte: dem Scherzbrief, den Friedrich Adler zur »Einschränkung der Geburtstagsfeiern« an die Genossen der Arbeiter-zeitung erließ! Das Erlebnis, das die sozialistische Jugend von diesem Mann empfangen hat, als der angeklagte Revolutionär mit seiner Verteidigung den Kampf gegen die »Alterserscheinungen der Partei« führte – verklungen und vertan für den Humor einer Sonntagsglosse der Neuen Freien Presse, worin eine »Rationalisierung der Geburtstagsfeiern« verlangt wird, »eine Hinaufsetzung des stellungspflichtigen Alters für Jubilare«, mit der plausiblen Begründung:

Heute ist jeder Tag ein fünfzigster Geburtstag eines Genossen, beinahe jede Woche das Jubiläum eines Sechzigers und jedes Quartal eines Siebzigers.

Worte, die annähernd einst jener blutige Hohn waren, der der revolutionären Hoffnung noch Raum gab, sind jetzt ein Geschäker mit den Alterserscheinungen, in der camera caritatis für Bonzen, und der Mann, der – lange schon ein Hamlet nach der Tati – in die Mimikry eines politischen Kunktators zurückgewandelt scheint, wird zum Polonius des Parteihofs und verbreitet eine Geistigkeit, wie sie für Männervereinigungen und Alterserscheinungen bemerkbar wird, wenn nach der Funktion des Gesanges der Humor in seine Rechte tritt. Ich kann zwar nicht singen, habe aber Sinn für Humor und habe die Seite der Arbeiter-Zeitung, die mich und Krupnik betrifft, bei der letzten Offenbach-Feier in fünfzig Exemplaren auflegen lassen. Die Seite, die das Dokument Friedrich Adlers enthält, müßte mit noch mehr Recht aufbewahrt werden: sie zeigt ganz die Züge, denen ich die Verbürgerlichung des Gesichts der Sozialdemokratie in meinem Rechenschaftsbericht wie in der Versrede »Nach dreißig Jahren« nachgewiesen habe. Und ich kann nicht verschweigen, daß ich es nach diesem Brief nicht glauben möchte, ich sei um fünf Jahre älter als dieser Jubilar, der sich so scherzhaft die Feier »verbietet«, nämlich verbittet. Dagegen glaube ich es wohl – und es paßt durchaus zu dem Bilde –: daß dieser Revolutiononär im Ruhestand kürzlich meine Wirksamkeit als eine »in Wien längst erledigte« Betätigung des »Läusesuchens« bezeichnet hat.

Aber wenn die ausländischen Genossen, die er so über mich zu orientieren bemüht war, die Freundlichkeit hatten, Läusesuchen als eine nützliche Arbeit zu verteidigen, so sage ich, daß sie mir nicht genügt und daß ich den ganzen schäbig gewordenen Pelz abschaffen möchte und mit ihm den ganzen Lagerbestand von Luxuspofel, den das Proletariat einfach nicht mehr zu tragen hat! Gewiß, ich weiß, es hat tiefere Bedeutung, es ist gemäß der Zeit und ihrem Fluch, daß mit der Demokratisierung, die Krupnik leider Gottes gelungen ist, meine Isolierung überein geht, so sehr, daß ich zwar, unabänderlich wie ich bin, entwicklungsunfähig, noch immer die Wahrheit spreche, daß aber gegen den anerkannten Wertmesser der Wahrheit heute nichts übrig bleibt als der Schutz der Lüge. Bis zu meinem letzten Federzug werde ich die Entschlußkraft haben, schreibend gegen diese Entwicklung zu wirken. Ob auch sprechend bis zu meinem letzten Atemzug? Das sei meiner Hörerschaft anheimgegeben, der ich ei sagen muß, daß ich genötigt wäre, sie in meinen Aspekt der Hoffnungslosigkeit einzubeziehen, wenn sie, nach jenem Appell im Rechenschaftsbericht, nach der Resignation in der Versrede auch ferner nicht imstande wäre, ihren Anteil anders als im Beifall zu manifestieren. Ich kann ohne die Vergegenwärtigung eines Anhangs die Wahrheit bekennen; aber ich kann sie nicht mehr physisch vertreten, wenn mir dauernd kein anderes Echo zur Gewißheit wird als der Schall, den vielleicht auch einem geringeren ethischen Bedürfnis die Erregung des Augenblicks sichert – jene »elementare Wirkung«, die mir von einer Seite nachgesagt und gegönnt wird, die die Fäulnis der von mir beklagten Zustände machtpolitisch geborgen weiß. Und ich möchte den Hohn dieser Sorte nicht herausfordern, die manchmal so unabhängig ist, die Zustände im Vertrauen auf deren Unabänderlichkeit mit mir zu beklagen. Der sozialdemokratische Kunstrichter – ein Mann, vor dessen Gesicht einem wahrlich alles eher als die Vorstellung eines Revolutionärs zuteil wird – hat sogar einen bürgerlichen Plauderer gerühmt, weil dieser den Mut gehabt habe, gegen die »Schande des Kunstkommerzes« aufzutreten, was bekanntlich wir von der Kunststelle an jedem Abend des Wiener Theaterrepertoires tun, während einem zu so einer Wirksamkeit die Fackel gar nicht einfallen muß. Oder doch: denn der bürgerliche Plauderer brachte in seinem Vortrag Beispiele, »die keineswegs bloß die Lachmuskeln erschüttern«. Und der sozialdemokratische Kunstrichter rühmt, daß auch »die Feigheit einer Kritik« eins abbekam, »die immer das gesagt haben möchte, was sie nicht gesagt hat, und nie sagen will, was sie wirklich gesagt hat«. Ist somit jedes Wort dieser Vortragskritik zu unterschreiben – so vor allem die Rüge an das Publikum.

»Die Predigt hat gefallen«, heißt es im Lied, »'s bleibt alles beim alten.«

Aber das will ich nicht mehr! Besonders wenn es sich um den Erfolg und die Wirksamkeit jener meiner Predigten handelt, die sich gegen die Verderblichkeit der sozialdemokratischen Kunstpolitik wenden, und um den Nachweis, daß sie durch Heuchelei von ihren bürgerlichen Bestrebungen abzulenken sucht: von ihrer Beteiligung an der Schande des Kunstkommerzes, den diese Gesellschaft zu verurteilen wagt, wenn ihr ein bürgerlicher Plauderer Mut macht – verbindungsbereite Würdenträger und Kommerzgefallene der Revolution! Was ich will, ist: daß endlich einmal zu meinem eigenen Widerstreben, die Tatlosigkeit an Geleistetem und dankbar Anerkanntem schmarotzen zu lassen, sich die Empfindung derer, die all das sehen und mich doch hören, bekundet! Daß der Widerwille an dem geistigen Fett zutagetritt, das als Überzug materieller Errungenschaften die Kulturkämpfer wehrlos macht: selbst jene gegen den Kanaillengeist der Bürgerpresse zu schützen, welcher doch das Wasser beschmutzen möchte, worin heute Proletarierkinder gebadet werden! Was ich will, ist die Brandmarkung dieser geistigen Bürgerschaft sozialdemokratischer Tendenz, die für die Erkämpfung kultureller Werte gar nicht erst in Betracht kommt, weil sie schon jeden sozialpolitischen Rückschlag zu verantworten hat. Was ich will, ist das endliche Bekenntnis der Inkompatibilität, zugleich mit mir und mit einer Sorte verbunden zu sein, an der das identische Übel hassenswerter erscheint als im Feindeslager, wo es doch zuständig ist! Der dereinstige publizistische Wortführer der Sozialdemokratie hat nur zu sehr recht, wenn er in seiner Schrift »Im Schützengraben des Klassenkampfes« sagt:

Der Feind ist nun die ganze bürgerliche Gesellschaft, der bürgerliche Geist in allen Gestalten. Ihn gilt es zu besiegen, wo immer wir auf ihn treffen – und am ersten in uns selbst.

Er meint wohl: am ersten Mai – wo sein Aufsatz über »Kriegsbücher« erschien. Dieser Oskar Pollak war, als er das goldene Wort fand, offensichtlich noch unter dem Eindruck der Tat, die er in der sozialdemokratischen Monatsschrift ›Der Kampf‹ gegen mich begangen hat und die ihn doch weit eher als künftigen Chefredakteur der Neuen Freien Presse beglaubigt. Er schrieb einen Artikel über »Kriegsbücher«, ließ bloß eines von damals gelten, nämlich das von Barbusse – »keine künstlerische Leistung, sondern eine befreiende Tat, die erste, die einzige« –, bemerkte, daß »erst jetzt, zehn Jahre nach Kriegsende wieder Kriegsbücher erscheinen«. Um dann ausdrücklich, in einer Zwischenbemerkung«, festzustellen:

Es gibt kein österreichisches Kriegsbuch, das diesen vergleichbar wäre.

Und abschließend zu sagen, selbst sie könnten der neuen Generation keinen tieferen Eindruck machen, denn immer wieder taumle eine ins Trommelfeuer

weil sie es sich vorher nicht vorstellen konnte

und die Menschheit lebe, um zu vergessen, vergesse, um zu leben. Und noch an ihre »letzten Tage« will sie sich nicht erinnern, wo diese Gedanken im Monolog des Nörglers vorkommen. Dies, während am gleichen Tag in der »Friedenswarte« eine Besprechung des Remarque'schen Kriegsbuches zu dem Ausspruch führt:

Tat, das sind: »Die letzten Tage der Menschheit« ... das große Kunstwerk, in dessen Mosaik dieser Monolog (der Monolog des Nörglers) nur ein Stein ist, bedeutet genauestes Abbild zugleich und schärfste Anklage.

Was habe ich da gehört? Ich »weiche von der Wahrheit ab«, wenn ich in den Vorwurf des bürgerlichen Totschweigens die sozialdemokratische Presse einbeziehe? Sie hat mich ja immer gewürdigt, wenn »ein Anlaß« war? Aber ich meine die Zeit, da ich Anlaß hatte, nicht zu würdigen. Und ich weiß nicht, was es dringlicher erscheinen ließe, den Bürgergeist »in uns selbst« zu bekämpfen: wenn man Krupnik annonciert oder mich zur Annoncierung der »Letzten Tage der Menschheit« zwingt. Am dringlichsten: sich so lügen zu hören! Nicht die Tat des Herrn Oskar Pollak als solche, die an mir begangene Tat, sondern die Wesenheit, die sich in ihr ausspricht, sollte jedem Sozialisten um eine Partei bange machen, zu deren Meinungsführer ein Mann auserlesen ist, dessen Ranküne zu einem so erbärmlichen Falsifikat getaugt hat. Ich empfinde die Vorstellung als unerträglich, daß junge Menschen mir anhängen und zugleich widerspruchslos Genossen dieses Pollak sein, wehrlos einer Partei zugehören sollen, der solches Unheil droht und die solche Geistigkeit unter ihre Fittiche nimmt. Ich hatte viele von »allen«, die ich einst aufrief, der Sache zugeführt, die äußerlich von der Partei vertreten wird, der sie nunmehr mit allem glühenden Glauben an die Sache verpflichtet sind. Ich habe an diese Gläubigen, die der Glaube an mich nicht beirren soll, den Appell gerichtet, innerhalb der Partei gegen das Übel zu wirken, das den Glauben bedroht. Es mag zwar schon vorgekommen sein, daß man, um sein Christentum zu retten, aus der Kirche austrat. Nichts sei ferner von mir, als solchen Abfall zu propagieren, wenngleich ich doch sicherlich des Verdachts überhoben wäre, daß Propaganda einem gegenteiligen Ideal gelte. Aber was ich verlangen kann, ist, daß die revolutionäre Jugend, deren Anteilnahme mir vom sozialdemokratischen Organ zugestanden wurde, von ihrer Gesinnung den denkbar disziplinwidrigsten Gebrauch mache! Mein Auditorium hat als Leserschaft erlebt, daß mir das Übel mit einer Gewalttätigkeit der Meinungsmache geantwortet hat, die vollkommen kongruent ist mit den Denkformen einer bürgerlichen Welt, aus der wir den Glauben in die andere gerettet haben; mit einem Feldzug der Lüge, der nur durch Quantität Aussicht hat, über die Wahrheit obzusiegen. Ich habe seit damals kaum einen Ton darüber vernommen, wie meine Freunde sich zum Übel und zu dessen Reaktion – die ja nicht meinetwegen wesentlich ist, aber das Wesentliche offenbart – zu verhalten gedenken. Ich muß befürchten, daß die Ohnmacht jedes einzelnen, der in der Sphäre wirkt, bloß ein Teil meiner eigenen Ohnmacht ist. Wohl bin ich, da ich vor jedem einzelnen doch die Macht voraushabe, sie zum Ausdruck zu bringen, verpflichtet, ihm solchen Trost, wenn's einer ist, weiterhin zu gewähren. Aber dazu wird das geschriebene Wort ausreichen müssen, solange sich die Ohnmacht der Hörer nicht anders als bisher betätigt. Und ich meine, sie wird es wenigstens zu ihrem Bekenntnis bringen müssen, damit nicht, wenn wir an dem Punkte angelangt sind, wo wir keine Hoffnung mehr haben, meine bösartigen Verkleinerer recht behalten, die da sagen, daß meine Eitelkeit den Beifall für Gedanken sucht, deren Inhalt die erkannte Verzweiflung ist. Dann wäre wieder Hoffnung! Das Problem des Vortrags aus »eigenen Schriften«, die eben eigene Schriften sind – während ich mir als Gestalter fremder Kunstwelten trotz mancher gesanglichen Schwierigkeit völlig, unproblematisch vorkomme –, dieses Problem wird durch den traurigsten aller Kämpfe, zu denen mich der Fluch der Zeit verdammt hat, keineswegs erleichtert. Das Erlebnis, daß in die letzte Lücke, die in den Kampfreihen der gegen mich gekehrten Bürgerwelt noch offen war, die Sozialdemokratie eingetreten ist, wird mich als polemischen Schriftsteller nicht zur Abrüstung bringen. Aber als Sprecher des Wortes, durch das ich helfen soll, bin ich unnütz geworden, wenn mir kein anderes Echo zur Hilfe hilft als das des Beifalls, keines, das die Pensionäre der Revolution aus dem Behagen scheucht, mit dem sie notieren können, daß die Predigt gefallen hat und alles beim alten bleibt, oder selbst diese Wahrnehmung totschweigen. Der Konflikt, in den diejenigen geraten, die mir und zugleich einer Partei anhängen, deren Geistigkeit mich so erfaßt und von mir so erfaßt wird, hat – für oder gegen mich – ausgetragen zu werden! Daß es mit Offenbach, von dessen Spiel mich keine Hörerschaft trennen könnte, auch nicht eine, die die Beschmutzung durch Fachbüberei widerspruchslos ertrüge –; daß es mit mir selbst bei einer Leserschaft noch lange nicht verklungen und vertan sein wird, kann ich hoffen und will ich versprechen. Doch einer Not gehorchend, von der ich keineswegs sagen könnte, daß sie nicht dem eignen Trieb entspricht – also ganz und gar dem problematischen Wesen der eigenen Schrift zugehört –, muß ich bis zur Entscheidung der Beteiligten auf das verzichten, was meiner Eitelkeit selbst von jenen zuerkannt wird, die meiner Ohnmacht vor ihrer Wirklichkeit sicher sind und der Ohnmacht meines Anhangs sicher zu sein glauben: auf die geradezu elementare Wirkung, die ich auf mein Publikum durch Polemik und Satire erziele.


 << zurück weiter >>