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Hüben und Drüben

... da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins.

... da obsiegte hüben und drüben das Gefühl, daß Österreich ein Teil Deutschlands ist.

... Nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

... treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben ...

Und wenn die Welt voll Hakenkreuzler wär' – an deren Erschaffung ja der Sozialdemokratie, hüben und drüben, das Hauptverdienst gebührt –: wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist. Ohne den geringsten Anspruch der Möglichkeit, solche Klarstellung an ein Forum heranzubringen, worin etwas von den beklagenswerten Massen Platz hätte (ohne es zu wünschen, weil ja an den Fristgedanken des Bonzendaseins leider auch der letzte sozialpolitische Bettel geknüpft ist, den das Bürgertum gewährt) wird es doch nachgerade unabweislich, an eine kleine Schar wohlmeinender und gutgläubiger Jugend eine Frage zu stellen. Sie betrifft nicht solche, die der Zugehörigkeit zu dieser Partei lediglich den Sinn erteilen, einen Rest sozialer Errungenschaft außerhalb ihrer nicht verteidigen oder nicht beanspruchen zu können. Sie betrifft nur solche, die sich darüber hinaus noch immer mit einer seelischen Hoffnung gebunden fühlen. Diese Jugend ist es, der die Frage gilt: ob sie es noch immer für vorstellbar erachtet, die Zugehörigkeit zu dieser Partei und die Anhänglichkeit an den Namen eines bekannten »Einzelgängers« in veritabler Vereinigung zu umschließen. Ob sie nicht endlich merkt, daß sich zwischen ihm und dem, was er als getünchten und umso scheußlicheren Schmutz der Bürgerwelt erkennt, eine Unvereinbarkeit ergeben hat: anstoßend wider ein sittliches Fühlen und Denken, welches in der Sphäre geistiger Unerbittlichkeit etwas Widerstandskraft gegen Entmannung erworben haben muß und gegen Versuche, sich das logische Einmaleins hinwegdisziplinieren und hinwegpharisäern zu lassen. Erkennt sie nicht doch einmal, daß die politische Jammergestalt, der sie ihr Ideal anvertraut hat, ganz und gar, nein voll und ganz der abgetakelten Welt zugehört, der es widerstrebt? Wie es an jedem Tag zur Phrase entehrt wird von einem Macht- und Würdepopanz, der aus Urväterhausrat politischen Lugs und Trugs die Mittel schöpft, sich durch die Generation zu fristen; dem Disziplin als Schutzvorrichtung dient gegen die Erkenntnis seiner Hinfälligkeit; der den Glauben einem System der Zucht unterworfen hat, mit dem verglichen alle Satzung und Dienstvorschrift, aller Komment der Generalstäbe, Burschenschaften und Bürgerklubs eine Revolution der Geister bedeutet! Sieht sie es nicht, wie diese Obmänner eines Menschheitsvereins im Zwiespalt von Tat und Bekenntnis wohnen, lebend von dem, was sie verleugnen, Heuchler bis zum letzten Hauch! Wie ihre Taktik ganz die ist jener Selbstgerechtigkeit, die als oberste Instanz die deutsche Sache im Weltkrieg vertrat; ganz das beruhigte Gewissen: tue unrecht und scheue niemand; die Haltung der verfolgenden Unschuld; die Fähigkeit, Niederlagen zu erringen, die Wahrheit »umzugruppieren« für beide Berichte, beide Lügen: um hinter der Anklage, oft hinter der Fiktion feindlichen Tuns es selbst zu verüben! Hört sie nicht diesen Tonfall eines Zurechtlegertums für jede Halbschlächtigkeit und jede ganze Lumperei, von keinem andern Fonds bezogen als von der Phraseologie altliberaler Burschenherrlichkeit, ohne doch eine Faser von deren moralischem Inhalt zu bewähren? Spürt Jugend nicht die Vertröstung in dem Schwall von Sonnensängen, nicht den Verschub in der Parole »Wir sind jung, und das ist schön!«, die der Ieibhaftige Marasmus ungeduldigen Erben gewährt? Biedermanns Trug ob derlei in der Region der Turniere leben möchte, wo man »mit offenem Visier« leitartikelt und »Ihr Herren!« sagt, oder ob's »Hooruck – nach links« geht und statt des Kampfs die Beziehung zu einem Handwerk vorgetäuscht wird, bei dem sich die Proleten anstrengen und die Komptoiristen schmunzeln. Doch welches Geschäft immer zur Abgabe dürftiger Metaphern hilft – das einzig Wirkliche und Wahre: die Lüge, quillt dieser Geistigkeit aus allen Poren. Und die vorrätigste aller Metaphern, die von altersher verderblichste: die Fahne – die Fahne, die alle Farben spielt, mit jeder die Gesamtheit blendend, deren Einzelne unbewegt blieben oder abgewendet dem tödlichen Ziel, dem sie winkt – welcher Verein von Kriegern, Bürgern, Turnern hätte jemals den Plunder toller entfaltet als der der Weltumstürzer, wenn er der Jugend Sehnsucht und Ungeduld abgewöhnen möchte, den Drang zur Idee oder den Wunsch nach Kontrolle, damit sie nur ja nicht erfahre, daß mancherlei nicht so schön ist, als jung zu sein! Ganz Hohenzollern hat nicht so viel Verbrauch von Hurrah und Feindschaft in der Welt gehabt, wie die österreichische Sozialdemokratie von einer »Freundschaft«: daß deren erklügelte Harmonie durch keinen Mißton getrübt sei.

Alles Talmi, alles Mumpitz wie eh und je, Urväter Unrat, circenses für panem und vor allem für das geistige Brot. Surrogat und ältestes, um der Neugier etwas zu bieten; eingestandener Neid auf andere politische Firmen, die mit so etwas wie einem Ideal arbeiten. Altösterreichische Generale, die ausnahmsweise nicht giftig sind auf solche, die »halt a Urganisation hab'n«, sondern die sie selber haben, aber halt a Romantik braucheten. Das Hakenkreuz hat die der Entmenschtheit, jegliche Art von Gesundbetern hat eine, selbst ein so niedriges Geschäft wie die Psychoanalyse beruht auf etwas Seelischem: dem hysterischen Defekt, der zwar nicht geheilt, aber behandelt werden kann, das Heilgewerbe ermöglicht, Beschäftigung und Unterhalt gewährt; denn jeder Patient kann Arzt sein, jeder Betrogene Betrüger: jeder Geführte Führer; ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode, entspricht also Neuro-Mantik einem Trieb, beschäftigt eine schäbige Phantasie und nährt seinen Mann. Bei der Sozialdemokratie frommt's nur der herrschenden Klasse (der Bourgeoisie innerhalb und außerhalb der Partei); und den Geführten wird, im Leerlauf der Organisation, vor der ewigen Taktikerfrage: »Also was tan mr jetzt?« – bald die Antwort einfallen: Jetzt tan uns die Füß' weh«. Denn viele, nicht alle können, ganz wie im Bürgerstaat, Beamte sein; die andern haben nur den Glauben, aber keine Hoffnung auf einen Fortschritt, der sich von der katholischen Springprozession, wo es drei Schritt vorwärts und zwei zurück geht, dadurch unterscheidet, daß es zwei vorwärts geht und drei zurück – eine Strapaz', die schier unbegreiflich wäre, wenn sie nicht doch die Chance böte, einmal am Ausgangspunkt angelangt zu sein. Und erfolgt abwechselnd der animierende Zuruf: Hoo-ruck!, oder jener taktische Zuspruch, der den Rückschritt als die Bedingung des Fortschritts klarmacht, so wird man noch müder. Aber die Visage dieser Anführung – welch unabsetzbare Posse eines Optimismus: »Morgen gehts uns gut«! Uns kann nix gschehn: denn wir würden es uns gefallen lassen. Dem wackern Horatio vergleichbar, dem nachgerühmt wird, er sei der Mann, der nichts erlitt, indem er alles litt; wiewohl man von der Sozialdemokratie doch wieder nicht sagen könnte, sie habe keine Rente als den muntern Geist, um sich zu nähren und zu kleiden. In einem Erpresserblatt – und diese Partei war, wie es Stützen der Gesellschaft ziemt, Erpressern ausgeliefert, publizistischen und bureaukratischen – erschien durch lange Zeit immer dasselbe Cliché, das ein frohgemutes Bonzenantlitz zeigte; so verdächtig der Pranger, so richtig die Ansicht und so witzig die Beharrlichkeit der Reproduktion: Ausdruck des steten Würdebewußtseins mit vergnügten Sinnen, das von den Zinnen der Partei wie von einem Lug- und Truginsland auf alles Untertänige hinabschaut. Schmunzelnd wie jene ständige Aufschrift Arbeitersang, deren Frakturbuchstaben ausgewechselt werden mußten, weil man das »s« für ein »f« gehalten hatte. Charakterologisch taugt unsere Sozialdemokratie gewiß zur Vertretung dessen, was sie so gern deutsch-österreichische Schicksalsgemeinschaft nennt, indem sie nicht nur Disziplin mit Schlamperei vereinigt, sondern auch jene materialistische Geschichtsauffassung, die in dem Trost beruht. »Da kann man nix machen«, mit der Technik der Herrichtung auf den Glanz. Ihr kann wirklich nicht mehr viel geschehn, selbst wenn die Begleithandlung zu jedem Hooruck sich umgekehrt vollzieht – macht nichts, wir Pharisäer sind Schriftgelehrte und können von rechts nach links lesen. Und entschädigt denn nicht jeder Rückschritt durch die Pünktlichkeit, mit der er eintrifft, wenn man ihn, die Uhr in der Hand, tiktaktisch auskalkuliert hat? Daß der Zeiger rückwärts geht, liegt an der Zeit, nicht an der Uhr, denn die ist ein Präzisionsapparat! So mag es wahr sein: diese Partei von Republikanern, welche auf den Trümmern einer Monarchie die Methode jenes Fortwurstelns erbeutet hat, das die Wartezeit bis zum Untergang ausfüllt – sie kann, vermöge programmatisch festgelegter Weitsichtigkeit (Rückschläge inbegriffen), länger bis zur Machtergreifung durchhalten als der Nationalsozialismus, der sich durch Kompromisse erledigt und der die Gewalt, die er nicht ergreift und nicht einmal anwendet, verliert. Gleichwohl: der Zeitvertreib, den die Sozialdemokratie ihren Anhängern, bis zum Ziel, bis zum Ende garantiert, ist der tödlichste ihrer Rückschläge; solches wieder nach deutschem Kriegsmuster: Taktik der Zermürbung, unser selbst! Die geistige Welt des Kommunismus – in einem kürzeren Moratorium, vor dessen Ablauf das Machtmittel den Zweck verzehren könnte – sie organisiert sich doch aus dein Gedanken jener letzten Hoffnung, die die Verzweiflung bildet, und der Mut seiner Bekenner, der volle Einsatz auf einer Barrikade, die die Sozialdemokratie vor der Stirn hat, verbindet ihn wie mit dem Tod auch mit dem Leben. So widermenschlich alles Parteiische sein mag, an jeglichem hat die Natur, noch mit Blut oder Schlamm, ihren Anteil. In welcher Fabrik der Atem hergestellt wird, der die Sozialdemokratie am Leben erhält, ist ihr Parteigeheimnis. Sie ist die lebendig gewordene Langeweile, der organisierte Aufschub, unterbrochen von Inseraten der Bourgeoisie und den, meinem Sprachschatz entnommenen Witzen über dieselbe. Ich verleugne mein Blut! Nicht fremder Spott, mit dem sie ihrer selbst spottet, nicht die Zutat der optimistischen Phrase, nicht Kampf noch Hoffnung ziemt Lemuren, die ihr eigenes Grab schaufeln. Sie ist in keinem Geist zu Hause – sie geht uns nichts mehr an! Sie wirkt fort als die staatlich konzessionierte Anstalt für Verbrauch revolutionärer Energien: seit sie aus dem Weltbrand hervorging als der Treuhänder bürgerlicher Zuversicht, daß »alles gerettet« ist bis auf zwölf Millionen und ein großer Aufwand schmählich vertan. Nichts wöge der verlorne Krieg, hätte die Sozialdemokratie nicht den Frieden verloren! Sie hat ihr Verdienst überlebt – ihre Schuld wird sie überleben. Denn sie ist schuldig, daß alles, was wert war, daß es zugrundegeht, fortbesteht und in Phönixfarben prangt. Schuld ist sie an einem Umsturz, der so beschaffen war, daß ihn die Schieber mit der Formel quittierten: »geht in Ordnung«. Schuld ist sie – und der die »Letzten Tage der Menschheit« schrieb, sagt es –, daß gegenüber einer Demokratie, die jeglichen Aussatz der Vorkriegswelt zu tropischem Gedeihen fördert, das Leben in der Staatsform, die den Fluch entfesselt hat, rehabilitiert erscheint; daß uns ein kulturelles Heimweh ergreift nach dem verjährten Übel, und daß die politische Freiheit, vergewaltigt und verhöhnt von ihren Lippenbekennern, aufgehört hat, ein geistiges Problem zu sein! Alles ist geblieben, wie es war, alles ist schlechter geworden, als es war, doch so identisch links und rechts, daß es der Sozialdemokratie gewährt ist, durch den geringern Grad an bürgerlicher Korruption aufzufallen!

Aber der höhere an bürgerlicher Heuchelei ist beträchtlicher. Ihre Taten oder Nichttaten mögen sie gesellschaftsfähig gemacht haben – ihre Sprache entlarvt sie und bekehrt den Freund ihres Wollens zum Feind ihres Seins. Das ist der Gestus, der nicht wahr haben will, was er tut, und den Beweis als Lüge ächtet. Das ist die Taktik jenes Generalstabs, der gewußt hat, daß man am besten lügt, wenn man den, der die Wahrheit sagt, verdächtigt, und was mit Augen zu sehen und mit Ohren zu hören ist, so bestreitet, daß einem Hören und Sehen vergeht. Das ist der Tonfall, der es zurechtbringt, das, was man schwarz auf weiß besitzt, als Phantom wirken zu lassen. Von einer Kriegsschuld, die sich zur Not durch Ultimaten nachweisen ließe, durchhaltend bis zur Entrüstung über eine »Kriegsschuldlüge«, scheint er zu sagen: ich habe es zwar getan, aber ihr dürft es nicht glauben, denn die andern haben es getan; wohl dem, der lügt und rein ist von Schuld und Fehle! Das ist der speiwürdige Biedermannston, der für alle politische Witterung vorgesorgt hat; zu jeder Niederlage die Attitude bereit hat und, wenn es neunzig tote Proletarier zu vergessen gilt, die Einteilung in »Gefühlssozialisten« und »geschulte Marxisten«. Das ist die unwiderrufbare Selbstgerechtigkeit, die anders denkt als handelt, anders politisiert als agitiert; Umzüge für den »Anschluß« veranstaltet, während sie bei anschlußfeindlichem Ausland um Schutz gegen die Heimwehr bittlich wird, und wieder mit dem Anschluß im Herzen, mit der Nation im Munde, Lausanne in Ordnung bringt. Das ist die Überzeugtheit, die doppelt besser hält, so daß die bürgerlichen Kostgänger einer Creditanstalt Lumpen sind und die Annoncen ihrer Generalversammlungen in einem Organ Lassalles die plausibelste Sache von der Welt; die vorne »den Kampf gegen die Krupniks« führt, wenn hinten »Krupnik voran« schreitet; die einem bußfertigen Lippowitz, seit er sich die Unzucht abkaufen ließ, das »Massageblatt« vorwirft, während der Redaktionsetat eines Schwesterorgans von eben den achtzig Wohltäterinnen bestritten wird, die jener dem Heimatgedanken zum Opfer brachte; die so schamfrei ist, einen »Kraus-Jargon« zu verwerfen, den sie durch ein Lustrum als die Sprache unantastbarer Wahrhaftigkeit verherrlicht hat und noch heute bestiehlt; die die »Sieghart-Husaren« höhnt, wiewohl ein General der Eigenen nach Siegharts Pfeife Shimny tanzte; die den Mordbestien des Hakenkreuzes flucht, sie aber auch als »faszistische Söldner« brandmarkt, von deren Berliner Publizistik ein Redakteur der Arbeiter-Zeitung Sold bezog. (Und ihr Chef hatte, wie ich weiß, die Stirn, einem ehrlichen Sozialisten, der diese Schande unerträglich fand, die Ehre abzusprechen! Aber ob er es nun noch wagen wird, einen Ton in dieser Richtung von sich zu geben oder das Nichtmucksen, auf das er verwiesen würde, vorzieht – der stärkste Fall von sozialdemokratischem Doppelverdienertum an Bürgerehre wird nicht unerörtert bleiben. Meinetwegen auch vor der bürgerlichen Justiz, für welche die Hörer ihre Aufmerksamkeit schärfen mögen, damit ja nicht wieder einer bezeuge, ich hätte auch nur um ein Jota anders gesprochen als gedruckt! Es handelt sich, wie man erkannt haben dürfte, nomina sunt odiosa, um jenen Musikfachmann, der etwas von Mozart hat, nämlich einen Vornamen, und dessen Fähigkeit, aus revolutionärer Marschmusik für die Leserschaft Viktor Adlers den ehernen Tritt der Arbeiterbataillone herauszuhören, für die Leserschaft Hitlers aber nicht – dessen musikalisches Taktgefühl in so verschiedenen Lagen also von der bürgerlichen Justiz keineswegs als Beweis für »Schlieferlpraktiken«, von der Parteijustiz jedoch als honorig erkannt ward. Und es handelt sich um jene »Berliner Börsenzeitung«, deren nach jüdischem Kapital, also ganz unverdächtig klingender Name noch zu einer Zeit die Mitarbeit eines Sozialisten harmlos machen sollte, als ihr Chefredakteur schon als Wirtschaftsberater und Ressortminister des Hakenkreuzes ausersehen war. Der Tonfall hätte zu erwidern: Wie, ihr könnt glauben, daß sie ein Hakenkreuzlerblatt ist und daß ein Sozialdemokrat an so einem mitarbeitet? Erstens ist sie bloß ein Blatt des Finanzkapitals, zweitens arbeitet er nicht mit, denn drittens hat er soeben die Mitarbeit aufgegeben, weil es ein Hakenkreuzlerblatt ist und ein Sozialdemokrat so etwas nicht tut, ihr Herren, wenn man ihm draufkommt!)

Die Fähigkeit zu allem, was dem andern verübelt wird, und die unanfechtbare Selbstverständlichkeit einer doppelten moralischen Buchhaltung – solcher Wesenszug könnte vielleicht die sonderbarste Erscheinung erklären helfen, die das klinische Bild dieses Staatslebens aufweist: des deutschnationalen Hangs unserer Sozialdemokratie, ihrer Zuneigung zu jenem folkloristisch interessanten Typus, der weder im Weltkrieg noch später die Welt dahinbringen konnte, an seinem Wesen zu genesen. Rassenmäßig besteht keine Verbindung. Auffällig ist der Unterschied, daß es sich drüben um die neudeutsche Form einer Entartung handelt, die ursprünglicher Wert durch den zivilisatorischen Betrieb erleiden mußte, den er »letzten Endes« nicht verträgt; während hüben aus dem Fonds jener altfränkischen Vorstellungen geschöpft wird, die das einstige Deutschtum hinterlassen hat. Der Biedermannston unserer Sozialdemokratie, im Gaudeamus ältester Burschenherrlichkeit verankert, bedient sich für seinen Bedarf an Phrasen der Anregungen, die ein völkisches Leben bietet, das in dieser Fasson in Deutschland gar nicht mehr vorhanden ist. Aber weil es auch eine Lage der Deutschen in Österreich insofern nicht mehr gibt, als sie sich nur noch in dieser befinden, so hat unsere Sozialdemokratie, die die Überlieferungen der weiland Deutschen Fortschrittspartei hochhält sowie die Ideale, zu deren Vertretung die Großdeutschen zu schwach waren, einen Ersatz im »Anschluß« gefunden, der bekanntlich zugleich ein Gedanke und eine Herzenssache ist, wenn er nicht eine handelspolitische Maßnahme bedeutet, vor deren Zwang auch jeden, der kein Österreicher von Beruf ist, das Schicksal behüten möge. Es mag wahr sein, daß Österreich von den Siegermächten über die Schuld hinaus verkürzt wurde, die sein Rest an dem Verbrechen der Monarchie trägt; aber sie haben es doch einigermaßen durch das Verbot, sich an Deutschland anzuschließen, entschädigt. Unsere Sozialdemokratie, deren Gefühlsleben anders tendiert und deren Gedankenleere auf weite Sicht abgesteckt ist, muß dieses Verbot als Fessel einer Entwicklung empfinden, die sie andauernd im Auge hat. Und bei allem Geschick, mit dem sie sich im Bereich sozialer Tatsachen den »Gegebenheiten« anzupassen pflegt, die sie herbeigeführt hat, bedeutet eine außenpolitische Unmöglichkeit für sie kein Hindernis, von einer vorrätigen Phraseologie den Gebrauch zumachen, der eine romantische Ablenkung der enttäuschten Gefolgschaft ermöglicht. Darauf eben hat sie es abgesehen, weil man doch in einer Zeit, wo es mit dem Sozialen so schwer vorwärtsgeht und für ein primitiver gewordenes Geistesleben der Nation das Nationale seine Zugkraft hat, auch etwas von der Art bieten muß. Es gibt – und dies ist leider Gottes die stärkste aller Gegebenheiten, die wir herbeigeführt haben – es gibt Nationalsozialisten: da bleibt uns nichts übrig, als Sozialnationalisten zu werden, und uns zu gebärden, als wären wir die echten. Wäre in der Politik etwas wie eine Wirklichkeit vorhanden, so müßte man glauben, daß unser Sozialnationalismus, dessen Geistigkeit tief im Frankfurter Parlament wurzelt, einem nicht mehr zu bezähmenden Drang der proletarischen Seele gehorche. Aber es ist ein bis auf Widerruf freiwillig eröffneter Vulkan. Alles Sache der Zurechtlegung, die die Chancen der Konkurrenz abschätzt; und die Juden können nach Bedarf noch altfränkischer sein. Hat die Freiheit den Schillerkragen, so trägt die Brüderlichkeit den Kalabreser. Mehr als das: Marx nimmt Turnunterricht bei Vater Jahn, eine Spezialität, wie sie die Kulturgeschichte bisher kaum aufzuweisen hatte. Und nicht zu sagen, wieviel Elan unsere Taktiker entwickeln! So nüchtern sie im Sozialen Wellenberge als die Vorläufer von Wellentälern und vice versa abzuschätzen wissen, im Nationalen schwelgen sie, können nachempfinden, was in den Gemütern einer Trautenauer Stammtischrunde vor sich geht, und haben jedenfalls schon den Anschluß an die Sudeten vollzogen. Da kehren denn die Termini wieder und immer wieder, mit denen der Protest gegen die Zumutung, »Vasallen Frankreichs« zu werden, der Abscheu vor den »Französlingen« bekundet wird, und dergleichen treue Ladenhüter mehr, wahre Eckarts politischer Mythologie. Natürlich unbeschadet des Umstandes, daß wir die Nationalsozialisten wegen der gleichen, aber glaubhafteren Aversion gegen den »Erbfeind« verhöhnen (denn wir wollen lieber freie Pharisäer sein, als »eine Kolonie von Frankreich«!). Ich, der sich einbildet, zur deutschen Sprache annähernd so gute Beziehungen zu unterhalten wie ein Leitartikler der Arbeiter-Zeitung, ja sogar der schlechthin Deutschösterreichischen, habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich eben im Hinblick auf das Sprachgut einem Anschluß an schießende Koofmichs die Aussicht vorzöge, von Frankreich kolonisiert zu werden (von den »französischen Kapitalisten«, die wenigstens das sind, was sie scheinen, und trotzdem oder eben deshalb vielleicht menschenähnlicher sind als deutsche Arbeiterführer; mögen sie auch als Kapitalisten einer Internationale angehören, die leider Gottes besser zusammenhält als die andere). Der richtige Anschluß, den ich den deutschen Brudervölkern mein Lebtag gewünscht habe, wäre der an die Sprache, die sie im Munde führen. Deutsches Fühlen, sich selbstberufend bis zum Nichts der Redensart – hätte es denn nicht in der Wiedereroberung des wahren »Bodens«, in dem es wurzelt, die einzige Politik zu suchen, die Kampf und Opfer aller Parteiung lohnt? Wenn es ein überirdisches Wesen gibt, das einer Nation das Geheimnis der tiefsten Sprache anvertraut hat, so muß es sich doch sterblich lachen über die tägliche Preisgabe durch sie und durch den üblen Haufen der Wortführer, die da sagen und vielleicht glauben, ihr Wollen wäre deutsch. Denn es ist ein Greuel und ein Spott vor dem Herrn, wie diese Sprache, deutlicher als jede andere, zu dem Nachteil wurde, den die Menschen vor den Tieren voraushaben!

Können aber die Kopfjäger, die seit dem Irrsinn des Weltkriegs auf die Reste von Menschheit losgelassen sind und es Politik nennen – können sie uns denn nicht umbringen, ohne uns vorher blöd zu machen? Soll es uns nicht mehr gewährt sein, die Unvereinbarkeit von Nationalismus und Menschenwürde zu erkennen? Und wenn ich es mir gewähre, weil ich mich weder von berufenen noch von unberufenen Agenten der dementia nationalis blöd machen lasse, so frage ich: Was hat ein Konsumverein mit Pathos zu schaffen? Und wäre es nicht der menschlichen Vegetation zuträglicher, daß wir ökonomisch von Frankreich versorgt werden, als dieses kulturell von Newyork, Budapest und Berlin? S. P. D., K. P. D., D. N. P., N. S. D. A. P. – all diese Verschwörerformeln, die Gut und Blut kosten, all dies W. E. H. E. wollte ich freien Herzens, offenbachschen Sinnes, vom Hohn einer zeitlosen Musik herabgewürdigt hören auf jenes A. B. C. der Natürlichkeit! Vaterlandsfrei bekennen, daß mir, wiewohl auch dort die Zeit das ihre getan hat, das Lebensklima unter der Formel s. v. p. begehrenswerter erscheint: dem s'il vous plait, das es noch gibt und das selbst den Ämtern im Verkehr mit den Menschen vorgeschrieben ist, der Redensart, die im Gegensatz zu unseren Phrasen eine Lebensart bedeutet! Und diese Formel, deren Äußerlichkeit doch auf den Inbegriff der Freiheit weist: vom Nebenmenschen zu verlangen, was ihm gefällt; dies Gebot, nach welchem sich jegliche Politik zu orientieren hätte – es hat durch allen zeitlichen Verfall die dortige Volksnatur widerstandsfähig erhalten: gegen die Freiheit nicht minder als gegen die Sklaverei. Solche Bewahrung vollzieht sich durch einen Nationalismus, den der deutsche Widerpart nicht nur falsch sieht, sondern auch zum falschen machen könnte, der sich aber immer noch in dem Bewußtsein sprachlichen Besitzes erfüllt und in der Verantwortung vor einer Sprache, zu der es freilich die Nation nicht so weit hat wie wir zu der unsern, mit der sie jedoch umso vertrauter ist, in der Schrift wie im täglichen Umgang, welchen sie gleichsam mit ihr selbst pflegt. Deshalb wird der, dem Politik nicht die letzte Beziehung zur Menschheit kompromittieren könnte, die Harmonie zwischen dieser und dem Begriff eines »Patriotismus« am ehesten dort gegeben finden. Mein Drüben – wenn's schon nicht mein Hüben sein kann – ist dort! Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt; wo man zu Hause ist, ist man es nicht immer; und bestimmt nicht dort, wo der Tod drauf steht, solches zu bekennen! Es ist die erbärmlichste aller Verlogenheiten, die das parteijournalistische Lager vorrätig hat, wenn Intelligenzler, deren einziger Vorzug bisher darin bestand, vaterlandslose Gesellen zu sein, bei dem Klang des Namens »Deutschland« zu bibbern beginnen, Verengung des Wamses durch Herzerweiterung vortäuschen und Gefühlstöne, die bodenständigen Höhlenbewohnern ziemen, mit Auskennerschaft praktizieren. Gewiß wäre eine Geistesbildung, die zur politischen Praxis als solcher taugt, im Grunde keiner Enttäuschung wert; aber daß Leute, die immerhin ein paar nationalökonomische Bücher gelesen und vielleicht sogar Marx verstanden haben, sich auf ein Gedankenleben reduzieren können, das in der Inschrift eines Bierkrügels, eines Gablonzer Wandtellers, einer Schlummerrolle Platz hat; daß Sozialisten rot werden wie erhitzte Kegelbrüder ob der »Nichtswürdigkeit« einer Nation, die nicht ihr alles freudig setzt an ihre Ehre, während doch der einzige Sinn jeglichen Fortschritts, der einzige wahre Gewinn des Weltkriegs in der Ausrottung dieses unseligsten aller Ehrbegriffe gelegen sein müßte – das wäre tragisch, wenn es wahr wäre, es ist aber nur zum Speien, weil es gelogen ist! Denn man vergegenwärtige sich bloß die Schmach, die Vasallen Bauer und Pollack als die Vertreter der besiegten deutschen Nation, womöglich durch ein Spalier spottlustiger Französlinge (worunter ich), im Triumph aufgeführt und dem Genossen Blum vorgeführt zu sehen. (Während die Anbiederung ans Völkische nur das bekannte Erlebnis nach sich ziehen könnte, das jenem Großstädter widerfuhr, der sich in der Tiroler Tracht wohl fühlte, einem ihm begegnenden Landmann frohgemut »Grüaß Gott!« zurief und die loyale Antwort bekam: »Grüaß Gott, Herr Jud!«) Was die Wortführer der österreichischen Sozialdemokratie immer wieder antreibt, uns mit diesem Gejodel zu überraschen und mit ihrer Sehnsucht nach »deutscher Freiheit«, »deutscher Demokratie« und sonstigen Herzenssachen zu amüsieren, mag vielleicht einer Erkenntnis des Freiheitskämpfers Heine entsprechen, der freilich zu französischen Kapitalisten ganz gute Beziehungen unterhielt: »Denn man baut aus deutschen Eichen keine Galgen für die Reichen«. Sicher aber ist es Ersatz durch eine Ideologie, die den Anhängern die Wartezeit bis zur Verwirklichung des programmgemäßeren Ideals erträglich machen könnte: aus dem kümmerlichen Drang, es mit der Attraktion des echten Nationalsozialismus aufzunehmen. Manche sozialdemokratische Bestrebung hat ja ihr Motiv nicht an der Oberfläche, wo ihr Gedanke liegt; selbst die programmatische des Antiklerikalismus wurde mir einmal von Frank Wedekind auf eine ungeahnte Triebkraft zurückgeführt: die des moralbürgerlichen Anstoßes an der freiheitlichen Institution der Pfarrersköchin. Eine keinesfalls abzuweisende Erklärung, wenn man die Hypokrisie bedenkt, die die Partei durch Jahrzehnte vor Problemen des Menschendaseins bewährt hat, die noch vitaler sind als die Brotfrage, bis endlich jüngere Kräfte und talentierte Lehrlinge der Fackel für etwas sexuelle Aufklärung der sozialdemokratischen Väter sorgten. Aber noch nachdem ich selbst meine Schriften vor Arbeiterauditorien vertreten hatte (immer möchte ich solches Publikum, nie wieder solche Veranstalter!), konnte ich von dem Ärgernis hören, das der Gebrauch des Wortes »Hure« bei den Familien von Parteifunktionären erregt hatte. Leichter haben sie sich mit der Einführung des bürgerlichen Sexualtratsches in die Gerichtssaalrubrik befreundet.

Eine weit populärere Tendenz jedoch als die Freiheit der Geschlechter dürfte bei ihnen noch heute die Vermittlung zwischen Stämmen sein, die Anschluß suchen. Die Christlichsozialen – und mögen sie hinter der Abneigung gegen ein Hitlerdeutschland ihr eigenes Österreich verteidigen, ihre eigene politische Ambition verfolgen – haben natürlich ganz recht, jetzt gegen solchen Anschluß rühriger zu werden und aus ihrem Herzen nicht die Mördergrube zu machen, in die wir längst hineingefallen wären, wenn eben Frankreich dem außenpolitischen Drang unserer Sudetensozialisten (wie zuletzt die Zollvereinsmeierei) nicht Kandare angelegt hätte. Anstatt nun das Wort »Anschluß«, das ja im Annoncenteil des Zentralorgans vorläufig noch keine Sehnsucht befriedigt, im redaktionellen Teil höchstens für Bahnfahrten innerhalb des Bundes zu verwenden, unternehmen es jene, mit dem gewissen »Nun erst recht!« – mit der Zuversicht aller Bankrotteure, die, vom Weltkrieg bis zur Zollunion, eine Dummheit zum zweiten Male machen würden –, die Herzenssache, die keine Gehirnsache ist, ausgerechnet jetzt aufs Tapet zu bringen. Nicht was die Christlichsozialen da in Versammlungen geäußert, sondern was ihnen die Sozialdemokraten zum deutschen Wahltag geantwortet haben – der ja in keinem Fall der Entscheidung eine für den »Anschluß« sein konnte –: es ist aufhebenswert, wie jeder dieser Leitartikel, die der ausgeliehenen und ausgeleierten Walze einer deutschen Gemeinbürgschaft Kopftöne des Gemütes entlocken. Da ist jedes Wort unerlebter als der Handgriff des Setzers, den doch ein Gefühl des Grausens angeht, wenn sein Parteischreiber sich in Gefilden gütlich tut, die so weit von der Welt proletarischer Sorgen liegen. Verarbeitet wird die endlich unabwendbare Erkenntnis, daß der »Anschluß« an ein faszistisches Deutschland unmöglich wäre. Aber freilich, dort wo der Hund begraben ist, dort hat der Taktiker noch lange nicht die Hoffnung begraben, die er eben an diesem Grabe aufpflanzt. Heute also fällt die Entscheidung: entweder nämlich siegen die faszistischen Söldner (in welchem Fall einer unserer Redaktionsgenossen deutscher Offiziosus werden könnte, wenn ihn jene nicht von dem Gesinnungskonflikt befreien – was aber soeben wir getan haben, lange nachdem die Berliner Börsenzeitung als eine der drei nominiert war, die im dritten Reich zensurfrei erscheinen dürfen); entweder siegen sie also – was ihnen nach langjähriger Vorarbeit der deutschen Sozialdemokratie ja gelingen könnte – oder, man hat es erraten: sie unterliegen. Dieses Entweder – Oder enthält nicht nur alle Prophetie des Zurechtlegers, sondern auch einen Trost:

Was immer aber dieser Tag bringe – es wird eine Entscheidung von geschichtlicher Größe sein.

Das ist wahr; eine Entscheidung nicht nur »für unser großes deutsches Volk«, sondern auch eine, die das Gesicht Europas usw. Und nun kommt, aus Wellenbergen und Wellentälern zusammengeballt, der ganze Gefühlsozean, der Hüben und Drüben verbindet. Aber nicht daß eine Barbarei einbrechen würde, die mit dem zu entbehrenden Pofel einer Prominentenkultur auch allen Wert, ja das werteschaffende Leben selbst begrübe; nicht daß dann der Untergang einer Freiheit, deren Begriff die Sozialdemokratie bloß zum Hohn gemacht hat, besiegelt wäre – nicht solches wird nun erörtert. Sondern was? Die dann noch bleibenden und die immer bleibenden Chancen des »Anschlusses«.

Als im Novembersturm von 1918 die republikanische Demokratie in Deutschland und in Österreich obsiegte,

um mit den von ihr besiegten Mächten zu packeln und deren Erholung vorzubereiten,

da fühlte sich das deutsche Volk hüben und drüben eins. Da erlebte am 12. November 1918 – da obsiegte hüben und drüben das Gefühl –

»Selbst die Klerikalsten der Klerikalen«, was taten sie da? Sie

haben es seither nie gewagt, ihre innere Gegnerschaft gegen den Anschluß offen zu bekennen. Sie haben es nicht gewagt, bis – Sie haben es nicht gewagt, bis – Sie haben es nicht gewagt, bis – Jetzt aber wittern unsere Schwarzgelben wieder –

na was läßt man den Gegner in solchem Fall wittern?

Morgenluft.

Seitdem nämlich die Phraseure sämtlicher Parteien sich des Leitartikels bedienen, werden die Gespenster, die selbstverständlich immer nur im feindlichen Lager umgehen, am Morgen aktiv, während es doch zu den verbrieften Lebensgewohnheiten von Gespenstern gehört, sich zur Ruhe zu begeben, sobald sie Morgenluft wittern. Diese verkehrte Lebensweise haben sie mit mir gemeinsam, der aber noch rasch den Leitartikel durchfliegt und, sooft er das mißverstandene Zitat findet, mit einem beruhigten »Schon faul!« sich schlafen legt. Auf diese Art nehme ich Kenntnis davon, daß abwechselnd die »Marxisten« und die »Antimarxisten« Morgenluft wittern und einander wittern lassen. Aber die klerikalen Gespenster sind eben »jetzt« aktiv, und wenn sie es bisher viermal nicht gewagt haben, so müssen sie jetzt doch mindestens fünfmal etwas unternehmen. Da wären also zuerst die Unbilden jener Witterung (oder vielmehr die Unbildung jenes Witterns); und dann gehts los:

Jetzt fühlen sie: ein Deutschland, das seine Bürger wieder zu Untertanen der ostpreußischen Barone erniedrigt, verliert seine Anziehungskraft. Jetzt jubelt das christlichsoziale Hauptorgan – jetzt spielt Herr Kunschak – Jetzt erklärt Herr Dr. Aigner –

Aber ganz mit Recht, da eben jetzt die ostpreußischen Barone gefährlicher sind als die französischen Kapitalisten, geschieht das alles jetzt, während die Sozialdemokraten sich mit ihrer Anschlußdummheit schon immer hervorgewagt haben. Ist es nicht, als ob sie »jetzt« dem Gegner die eigene Einsicht ankreiden wollten? Nein, pharisäischier, ihm die eigene Blamage vorwürfen?

Oh, wir wissen sehr genau, welch erbärmliche Heuchelei darin steckt,

nämlich immer in dem, was der Gegner tut. Nun wird diesem noch ein fehlender »Trennungsstrich« entgegengehalten, und dann heißt es nur dreimal:

die Partei der Herren Vaugoin und Rintelen, die Partei, die – die Partei, die –

Aber so erbärmlich die Heuchelei sein mag«, die solcher Tonfall überzeugend dartut – das Zentralorgan muß gestehen und zwar bloß zweimal: daß diese die »Wendung«, die der Sozialdemokratie offenbar unverhofft kommt, »doch eine eindringliche Lehre« ist. Immerhin hat nämlich »die Partei, die« recht, daß sie sich klerikal, wie sie ist, jetzt vor dem Anschluß zu bekreuzigen wagt. Die Begründung der Aversion mag den Sozialdemokraten verdächtig sein – daß diese endlich laut wird, ist ersprießlich. Die eindringliche Lehre, die selbst jene empfangen, besteht also in der Erkenntnis:

wie jeder Sieg der Reaktion in Deutschland die Anziehungskraft Deutschlands dermaßen schwächt, daß die, die ihre innere Feindschaft gegen die deutsche Einheit aus Furcht vor der öffentlichen Meinung ein Jahrzehnt lang zähneknirschend verbergen mußten, sie jetzt offen zu bekennen wagen können!

Das immerhin beträchtliche Fazit wäre, daß eine durch Leitartikel nicht nur blöd, sondern auch feig gemachte Öffentlichkeit aufgerüttelt wurde, nachdem sie des kompletten Ausbruchs eines allzeit drohenden nationalen Irrsinns bedurft hat, um dessen Anziehungskraft geschwächt zu finden. Die Nibelungentreue, mit der sie sich aushelfen, hat sich ja öfter in einem gegenseitigen Opfer des Intellekts bewährt, vorbildlich im Jahre des Unheils 1914, als der große Blutsbruder in schimmernder Wehr einem Kadaver sekundierte. Dieser mußte nur den entsprechenden Gehorsam leisten und durchhalten, solange jenem beliebte, auf verlorenem Posten auszuharren. Man erinnert sich noch der grausigen Metapher von dem »Irrsinnigen auf dem Einspännergaul«, den er als Schlachtroß antrieb. Nach solcher Tour, in solchem Zustand sollen wir uns nun »anschließen«, der ärmste aller Klepper sucht seinen Herrn, nachdem der imperialistische Wahnwitz dem weit tolleren Platz gemacht hat – diesem Produkt eines faulen Friedens nach einem verpfuschten Krieg, der mit Emblemen begonnen und mit Reparationen beendet wurde: statt mit einem Strafgericht an den Schuldigen mit einer Pfändung ihrer Opfer. Zwischen solchen Siegern und solchen Sozialdemokraten gewann die unbesiegliche Denkart, die sich nie für besiegt halten könnte, Nahrung. Während hüben ein gutartiges Volk das Übermaß der Buße trägt für die Ergebung, mit der es sich von den verbrecherischen Halbkretins einer Doppelmonarchie auf den Kriegspfad führen ließ, hat man drüben – wo man im Stechschritt durchs Leben geht und lieber tot ist als nicht Sklave! – nichts und alles vergessen, verlangt man die Legionen zurück, um sie noch einmal zu verlieren, schwoll der Drang, durch Schaden dümmer zu werden, empor zu der größten nationalen Bewegung, die diese blutige Erde erlebt hat. Vor einer Entscheidung, die der Ausgang der Wahlen bestenfalls verzögern konnte, muß selbst die österreichische Sozialdemokratie eine Chimäre aufs Eis legen.

Aber was drüben zum Blutrausch wird, bleibt hüben ein Hirngespinst; gläubiger als »die Klerikalsten der Klerikalen«, die sich schließlich mit dem, was Gott gegeben und Gott genommen hat, abfinden, faßt man die »Gegebenheiten«, die Genommenheiten als Unterpfand des Schicksals auf und weiß noch hier einem fatalistischen »Obzwar« ein optimistisches »Und wenn schon« entgegenzusetzen. Gewiß, die Anziehungskraft Deutschlands ist ausnahmsweise derzeit geschwächt:

Wir aber denken anders.

Nicht sehr tief, aber anders. Denn was bedeutet drüben ein Jahrzehnt Bürgerkrieg gegenüber den Äonen der Entwicklung, in denen wir hüben denken? Die »deutschösterreichische« Sozialdemokratie (welche sich so nennt) hat sich »immer als ein abgesondertes Korps der großen Armee des deutschen Sozialismus gefühlt«. Das ist aber nicht etwa eine Anspielung darauf, daß diese Armee 1914 den Fahnen Wilhelms, des Eroberers, sondern daß sie »Lassalles großen Worten« gefolgt ist, die »auch die österreichischen Arbeiter geweckt« haben. Zwar nicht so sehr, daß sie den Widerspruch zwischen Lassalles großen Worten über die Annoncenpresse und den großen Annoncen Krupniks bemerkt hätten. Doch als Krieg zwischen Preußen und Österreich war, »haben die Wiener Arbeiter Wilhelm Liebknecht zugejubelt«. Nicht mehr später, als er in der Fackel die Wahrheit über die falschen Freiheitskämpfer schrieb. Aber

nie gelockerte Schicksalsgemeinschaft hat die hat die deutsche Arbeiterklasse drüben und hüben vereint.

Drüben und hüben ist eine Abwechslung; doch Schicksalsgemeinschaft ist eine nationale Phrase, denn als sozialer Gedanke müßte sie ganz ebenso die österreichische und die französische Arbeiterklasse vereinen. Und welche Wendung durch Gottes Fügung läßt uns Materialisten an ein Geschick glauben, das wir doch bisher nur von der Seite des Ungeschicks kennen gelernt haben? Nun kommt die abgetakelte Redensart, daß der Sozialismus nur »werden« kann »in größerer, durch Volkszahl und Wirtschaftskraft und räumliche Ausdehnung selbständigerer Gemeinschaft«. Das wäre ja sogar bis zu der Erfüllung des Wunsches richtig, daß sich die Proletarier aller Länder vereinigen mögen. Aber auf dem Weg zu diesem Ziel dürfte der nationale Vorspann eher hinderlich sein, indem er die Nationalisierung der anderen Proletarier, welche der Anschluß nicht umfaßt, fördern könnte. Doch da wir ja anders denken, bedarf es nur noch eines Wellenberges der Entwicklung, damit »unser Boden« ein Teil »des großen, freien Deutschland« sei, »des Deutschland der Arbeiter«, welches das »Deutschland von morgen oder übermorgen« sein wird. (Sagen wir vorsichtshalber von übermorgen.)

Denn wir kennen die deutsche Arbeiterklasse. Sie war noch jung und schwach, als Bismarck sie vor einem halben Jahrhundert mit dem Sozialistengesetz zerschmettern wollte –

und wie stellt es heute? Bitte:

Bismarck ist tot, und die Deutsche Sozialdemokratie lebt!

Wir denken wirklich anders. Denn anderen könnte etwa einfallen: Lassalle ist tot und die Deutsche Reaktion lebt! Es könnte ihnen sogar einfallen, daß eben das, was Bismarck mit dem Sozialistengesetz mißlungen ist, einem preußischen Leutnant mit zwei Mann Reichswehr gelang, von denen die Machthaber der deutschen Arbeiterklasse sich widerstandslos jeder weitern amtlichen Strapaze entheben ließen. Aber uns Volksgenossen ficht dergleichen nicht an; und wir denken auch insofern anders, als wir gleich darauf den Hitler wegen des Arguments verhöhnen, daß er Hindenburg überleben werde. »Eine politische Konzeption von erstaunlicher Genialität«, spotten wir da. Denn wir meinen es doch metaphysisch. Und mag es offenbar sein, daß die Sozialdemokratie älter als Bismarck wurde, wir können sie auch anders messen:

Sie war noch ungleich schwächer als heute, als Wilhelm Hohenzollern sie vernichten wollte –

und wie steht es heute? Bitte:

Wilhelm ist in Verbannung und die Deutsche Sozialdemokratie lebt und kämpft!

Ob man das ein Leben und gar ein Kämpfen nennen kann, mag dahingestellt bleiben; es möchte kein Hund so länger leben und kämpfen. Aber der ›Vorwärts‹, der ja nicht immer lügt, meldet beharrlich, daß Wilhelm demnächst aus der Verbannung heimkehren werde. (Um Pate zu stehn, wenn der Sohn Reichspräsident wird.) Sei's drum, ihr Herren – »was immer der heutige Tal, bringe und was immer die nächsten Jahre bringen mögen« (Morgen- oder Übermorgenluft wittern wir also nicht): die Deutsche Sozialdemokratie wird »schließlich doch sieghaft die Fesseln brechen!« Wie wird das geschehen? Sehr einfach, durch Unwiderstehlichkeit:

Man löse ihre Organisationen auf – morgen muß doch die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln.

Das nennt man Fesseln brechen! Da lachen die Rebhühner der ostpreußischen Barone, und diese sagen, es sei zum Schießen. Welch ein Anders-Gedanke! Welche Vorstellung von der Gottgewolltheit einer politischen Macht, die sogar noch mit dem Verzicht auf den Generalstreik imponiert! Als ob es Hindenburg oder Hitler verdrießen würde, daß die Arbeiter in die Fabrik gehen und daß man keine Streikbrecher brauchen wird. Als ob es nicht ihr Triumph wäre, daß nur noch solche Sirene und nicht mehr die parteiamtliche die Arbeiter versammelt. Das ist ja noch größer als der Stolz auf die Abbruchsparole von 1927! Man erinnert sich vielleicht, wie exakt damals alles ging: Ein Ruck – schon war die Arbeit niedergelegt; wieder ein Ruck – und schon war sie wieder aufgenommen! Wohlan! Wie klaglos der Apparat der Niederlagen funktioniert – ein Griff ein Gfrett –; und wie wir, beneidet von Bruderparteien, im Rückschritt vorangehen, das rechtfertigt schon ein erhöhtes Selbstbewußtsein, vollends wenn es unmöglich erscheint, noch mehr abzuwirtschaften. Und nichts ist dieser Genügsamkeit unerschwinglich, die generalstäblerisch Pech in pures Gold verwandelt und aus dem unerschöpflichen Born der Selbstgerechtigkeit Beruhigung spendet; je größer die Verluste, umso klingender das Kleingeld, das ihr herauskommt; es fehlt nur noch, daß man bei erklärter Pleite »heißa« sagt. Wahrlich ein Seelenleben, das den Hang zum Anschluß beglaubigen könnte! Die Gewißheit, daß die Fabriksirene die Arbeiter wieder versammeln wird, nachdem man sie entrechtet hat, als Raumgewinn zu imaginieren: solche Verzückung taktischer Nüchternheit ist selten. Man denke, hier wird nicht etwa das Wellental als Gewähr des Wellenberges, sondern dieser selbst zum Greifen vorgestellt. Denn nun folgt Konkretes. Verheißung – heißa – des gelobten Landes, das, wenn erst die Arbeiter zu Paaren und in die Fabrik getrieben sind, endlich betreten sein wird. Nun reißt es den Seher der Entwicklung zu einer Vision hin, die wohl das Stärkste ist, was entsagende Größe einer dennoch ungebeugten Parteimacht bisher über sich gebracht hat. Wortwörtlich:

Man unterdrücke ihre Presse – im Fabriksaal raunt doch ein Arbeiter dem andern die Botschaft des Sozialismus zu.

Ja! Und sogar die Verachtung der Presse, die sie dann nicht mehr haben! Und ihrer pensionierten Anführer, denen es gelungen ist, den Sozialismus auf mündliche Überlieferung anzuweisen, nein auf Raunen, und die, wenn selbst dieses verboten wäre, allerletzten Endes stolz darauf sein werden, daß sie im Kampf gegen die Reaktion die Zollfreiheit der Gedanken erobert haben! Denn, wortwörtlich:

Das Erbe eines halben Jahrhunderts sozialistischer Erziehung ist nicht auszurotten. Das gebildetste Volk Europas wird nicht ein Volk von Untertanen sein.

Daß es ein solches ist, daran hat leider das Maß der Bildung (falls es eben so sicher nachweisbar wäre) nicht das geringste ändern können. Aber weil selbst wir Andersdenkenden den Zustand hinnehmen müssen, dem wir mit deutschen Redensarten nicht abzuhelfen vermögen, so werden wir beherzt, indem wir zwar weichen, aber nicht wanken:

Ja, wir wollen dieses unser Österreich abriegeln gegen die braune Pest, die in Deutschland so verhängnisvoll die Köpfe verseucht.

(Des gebildetsten Volkes Europas!)

Ja, wir wollen alles daran setzen –

(Nur zweimal.)

Aber deshalb bleiben wir trotzdem, was wir immer gewesen sind –:

nicht das, was man glaubt, sondern:

treu dem Gedanken der Schicksalsgemeinschaft der deutschen Arbeiterklasse drüben und hüben – für das sozialistische Großdeutschland der Zukunft! Darum schlagen unsere Herzen so stürmisch mit an diesem Kampftag –

Mit einem Wort, die Großdeutschen müßten vor Neid vergehen, wenn sie nicht eben darum schon vergangen wären, weil sie ihr Lebtag nicht über so viel deutsche Gesinnung mit so schlechtem Deutsch zu verfügen hatten.


Was nun soll man zu Sozialisten sagen, die diese Sprache sprechen können? Zu den Auffrischern einer Ideologie und Phraseologie, deren Verlust wir als die kulturelle Entschädigung in all dem Unheil zu erlangen hofften, das eben dieser Geistestypus über uns verhängt hat! Zu den Vertretern einer Internationale, die jenen Anschluß ans Vaterland propagieren, dessen Verbot wir als die einzige Wohltat einem schonungslosen Siegerwillen danken! Drüben, wo eine Menschenart haust, die die Freiheit nur als das Recht erfaßt hat, einander aufzufressen, und deren Wesen eher die Welt anstecken wird, bevor sich ihr Wahn, daß diese an ihm genesen werde, erfüllt – drüben ist die Hölle ausgespien; hüben, wo das Dasein auf das Problem herabgesetzt ist, wie es zu fristen sei, betrügt man das Volk mit der Erwartung des nationalen Paradieses. Aber eine Hemmung wird doch bemerkbar: aus der schwelgerischen Vorstellung von einer Schicksalsgemeinschaft, die für alle Zukunft zum Gedeih auch den Verderb garantiert, wird mit taktischer Klugheit, ja sogar mit Takt, die des Weltkriegs ausgeschaltet. Denn da hat Hüben denn doch etwas vor Drüben voraus: vor der Region, wo man noch heute mit Pathos dem Vorwurf begegnet, nicht treu pariert zu haben, als Wilhelm, der in Verbannung ist, das Schwert zog; wo dem leisesten Verdacht defaitistischen Denkens von anno dazumal der Veteranenstolz antwortet; und wo noch heute die Gesinnung vorrätig ist, der 1914 für alle Zeiten der Stempel aufgedrückt ward: jener Max Stempel, mit dem Bekenntnis einer Parteilyrik, die den Begriff »Vorwärts« als Parole für Gott und Vaterland ausgab. Und weil sich damals Bebel auf Säbel reimte, so ist es kein Wunder, daß heute Hindenburg den Severing nicht brauchen kann. Aber die Tragik der Zeitläufte ist es dafür, daß solche Gestalten wie dieser noch zu Märtyrern werden können, und daß man vor der Gefahr, die allem Bessern droht, den Angriff gegen sie so »relativ« halten muß, wie sie sich selbst zeitlebens hielten, die um des Verrats an der eigenen Sache vom Feind gefällt wurden. Doch in seinem Angesicht noch darf es nicht ungesagt bleiben, daß gemeinsame Feindschaft nicht gemeinsame Sache bedeutet; daß man, vor dem Übel neben dem Üblen stehend, nicht die Gesinnung teilt, die er nicht hat. Nie könnte Kampfnot Zorn und Hohn entwaffnen gegen die Erbärmlichkeit, die sie bewirkt hat. Es bleibe Raum für den Abstand vom Genossen! Braucht er ihn nicht, um auf die Knie zu fallen? Verrät er uns nicht im Augenblick der Entscheidung? Jener Severing, in privatisiertem Zustand, hat – wenn ich dem Hakenkreuzlerblatt glauben darf, das mit unserer Sozialdemokratie den Beiträger teilte – er hat als Wahlkandidat vor deutschen Rundfunkhörern Klage geführt, daß die Sozialdemokratie als Partei, als Gesamtheit, nicht die Rechtswohltat jedes einzelnen Staatsbürgers genieße – sonst hätte sie längst den Schutz der Justiz gegen den schimpflichsten aller Vorwürfe, der noch heute gegen sie von politischen Gegnern erhoben werde, gesucht und gefunden: 1914 nicht mit Begeisterung ihre Pflicht fürs Vaterland erfüllt zu haben! Heißt das nicht Leben und Kämpfen, seit Wilhelm in Verbannung ist? Aber dieser Severing, an den wir uns anschließen möchten, hatte recht: noch nie hat Verleumdung die Wahrheit schmählicher entstellt. Die Bruderpartei, mit der wir Schicksalsgemeinschaft pflegen, sie kann ihre vaterländische Ehre durch den Beweis der Gefühle rehabilitieren, die sie 1914 beseelt haben. Er ist gedruckt und lautet:

Und besonders unser Kaiser
Ede, stier' mich nicht so an,
Deshalb sag ich's doch nicht leiser –
Ist ein echter deutscher Mann!

Hörte täglich August Bebel
Jetzt den Jubel in Berlin:
Mensch, er zöge gleich den Säbel,
Und so forsch, wie ich, für ihn.

– – – – – – – – – – –

Quatscht mir nicht vom Zukunftsstaate!
Republike her und hin!
Schöner ist's,
daß ich Soldate,
Und ein kaiserlicher,
bin .

Und genügt nicht drüben noch heute der Ruf nach Waffen, der einem einzigen Zivilisten einfiel: ein Volk zu begeistern und die Führer einer Arbeiterpartei in das Lager der ostpreußischen Barone zu treiben? Sie könnten wieder Landstürmer sein – und man wagt es, ihren Veteranenstolz zu kränken? Der Appell an deutsche Herzen, der Hinweis auf das Kriegsverdienst, der Anspruch einer Bürgerehre, die es sich nicht schmälern läßt, war das, was die deutsche Sozialdemokratie in die Wagschale zu werfen hatte, war die ultima ratio der stärksten Abwirtschaftspartei am Kampftag – und unsere Herzen schlugen stürmisch mit.
Aber es ist nicht wahr! Ihr Schlag gehorcht nicht der Parole des papiernen Hirns, und der Ramsch nationalliberaler Geistigkeit wird dort nicht zu brauchen sein, wo Bestialität und Technik über Leben und Tod entscheiden. Hüben würde man das eigene Verdienst gegen den Weltkrieg entehren, wollte man stürmisch mitmachen, wie drüben heute der Schlachtruhm reklamiert wird. Hüben hat doch immerhin vor Drüben ein Stück der antibürgerlichen Ehre voraus, nach dem Kopfsturz in die Raserei der Welt die sozialistische Besinnung gewonnen zu haben und den Mut zum Abscheu, wie er in den Artgriffen gegen die Helfer der Schlachtbank, gegen Militärrichter und Generalstäbler, sich bekundet hat: in der Tat eines Verstorbenen, dessen Gedenken dem schlechten Gewissen der Nachlebenden in den Ohren gellt, des Mannes, dessen Ausgang – und hier ist Schicksalsgemeinschaft – ähnlich, jedoch tragischer war als der jenes Wilhelm Liebknecht. (Denn hüben wurde Wahrheitsliebe von dem Augenblick an, wo sie in Konflikt zu kommen drohte mit der Liebe zur Partei, davor bewahrt: ent-mündigt im eigentlichen Sinn des Wortes, entmannt und von der Übermacht in jenen heillosen Wirbel getrieben einer Haßliebe gegen den, der mit um die Wahrheit wußte, und den er als Richtmaß der Wahrhaftigkeit eingesetzt hatte. Hüben wurde Festigkeit zerbrochen, Gradheit dazu gebracht, Krummes zu dulden, das sich nun für Existenz und Fortbestehn auf Pietät beruft. Dann und wann von der Stimme des Toten geweckt, an Gedenktagen, gibt das Schuldgefühl so stark sie wieder, als wäre sein Wirken bis zum Ende selbstherrlich gewesen. Doch dann und wann gedenkt auch Frechheit eines Erpressers, der nicht mehr da ist, als wäre es immer erlaubt gewesen, die Wahrheit über ihn auszusprechen, und nicht eben das Verbot die Ursache jenes seelischen Zusammenbruchs. Wenn die Wahrheit über eine Partei, der sich einer geopfert hat und der er sich opfern ließ, auch keinem letzten Willen zu entnehmen ist, wie er so tragischem Erlebnis gemäß wäre, so weiß ich doch um den letzten Willen, dessen er fähig war, als er im Begriffe stand, sich gegen die Partei und für die Wahrheit zu entscheiden: bevor ihn der Zwang ergriff und der Mut verließ, den er gegen Generalstäbler zu bewähren pflegte.) Die Haltung im Krieg gegen den Krieg – seither, und insbesondere seit jenem Hingang, hundertmal wettgemacht durch Feigheit vor dem innern Feind, durch eine Haltung im Frieden, deren jeder Atemzug Kriegslüge ist –; das damals weithin sichtbare Verdienst war das Zeichen, in dem ich, in den Tagen trügerischer Hoffnung, hunderte junger herzen einer Partei zugeführt habe, der ich nicht angehörte, die ich im Verhängnis politischer Übel für das kleinere nahm und die heute nichts ist als die zur Not und durch Not erhaltene Organisation einer Alterserscheinung. Solches hat damals mein Wort vermocht. Sollte es heute nicht mehr vermögen, jene der Sache, zu der sie als der Sache von damals stehen wollen, abzuwenden; sollte der Glaube an mich schwächer sein als der Glaube, den er geweckt hat, so würde es mir nicht über mich zu denken geben. Denn meiner Ohnmacht, auch vor dem wenigen, das ich vermocht habe, bin ich mir bewußt; ihr stolzes Gefühl ist in mein Wirken einbezogen, dem keine Wirkung zugehört. Diejenige, auf die ich stets am schnellsten verzichtet habe, ist die Verehrung solcher, deren Zwiespalt in ihr sich offenbart. Dagegen darf ich sagen, daß die Aussicht, von der Sozialdemokratie nicht mehr verehrt zu werden, etwas ist, was meinen Lebensabend verschönert, während der ihre vergällt wird durch den Zwang, noch hin und wieder von meinem Dasein Notiz zu nehmen, und durch den Krampf des Bestrebens, sich von der Bürgerwelt, die mich totschweigt, in meinen Augen vorteilhaft zu unterscheiden. Da ich den Unterschied gleichwohl nicht bemerke und zufrieden bin, in der sozialdemokratischen Presse ungenannt fortzuleben, so wäre vollends alles in Ordnung, wenn ich ihr auch noch diese Sorge abnehmen könnte. Nichts freilich, was immer die Sozialdemokratie mit mir vor hat, könnte sie, solange mir die Greuel des gesellschaftlichen Daseins noch Anreiz gewähren, davor schützen, von mir beachtet zu werden! Nichts mich verhindern, gegen sie wie gegen eine lästige Regierung, die kein Mißlingen vom Ruder bringt, zu Haß und Verachtung aufzureizen – ob sie nun als Partei, als Gesamtheit, mit Sack und Pack, den Schutz der bürgerlichen Justiz gegen Kränkung anrufen könnte oder stumm leiden müßte, wie sie stumm gelitten hat vor jenem, der die Macht hatte, von ihren Übeln zu schweigen. Was aber die betrifft, über die sie selbst Macht hat, diejenigen, denen ich zum Anschluß an sie verholfen habe, so gehöre ich keineswegs zu der Sorte, die, stolz auf eine Dummheit, sie zum zweiten Male machen würde, und halte für eine solche auch die Bejahung des Hoffens, gegen die Übel einer Partei, die aus nichts anderm mehr besteht als Übeln, innerhalb ihrer wirken zu können. Trage ich Schuld noch an solcher Betörung Gläubiger, so bin ich ihrer ledig, wenn ich ihnen gesagt habe, daß der Glaube nur durch die Abkehr von einer Kirche zu retten ist, die die Priester entweiht haben. Wie sich die Treue zu diesen fortan mit der zu mir verbinden könnte, wäre ein Problem, das mir so lange Unbehagen schafft, als nicht da oder dort die Lösung erfolgt. Nie würde es mir in den Sinn kommen, den reinlichen Austritt aus meiner schwachen Organisation, die nichts zu bieten hat als etwas geistige Nahrung und keine soziale oder gar nationale Hoffnung, mit dem Wunsch zu belohnen, die, die ihn vollziehen, möge der Teufel holen – einer von denen, deren die Welt nun voll ist und an deren Erschaffung der Sozialdemokratie das Hauptverdienst gebührt. Drüben und hüben!

Ich und wir

Da nun auch meine vierhundertste Vorlesung vorüber ist und ich vor dem Einschlafen noch immer die Zeitung lese, kann ich erst erschüttert sagen, zu welchem Traum mir dieses Wiener Leben gedieh, und bekennen, daß die Zeit, wo die Abende lang wurden, mir völlig wie ein Angsttraum vorüberglitt, ihm ähnlich in der Macht, über Visionen zu verfügen, und in der Ohnmacht gegen die Tatsachen. Ausgesetzt von den Aussätzigen, gemieden von der Pest, verflucht von denen, die nicht wert sind, daß ihnen die Sonne scheint, mithin aller Gnade verlustig, die die bürgerliche Welt zu vergeben hat an solche, die zu ihr halten, und getrennt von der andern durch ihre politischen Mißbraucher, die nicht wünschen, daß mein Wort sie von hinnen, blase – bleibe ich mit diesem auf das kleine Echo einer Insel angewiesen, das kleinste und reinste aller Echos, die heute öffentliche Wirkung und Geltung bekunden. Und was ringsum wirkt und gilt, lügt und betrügt, stiehlt und erpreßt, also auf dem Festland der Gunst wohl eingerichtet lebt, ist so durchdrungen von der Gefahr dieses Wortes, daß kaum noch eine Region zeitlicher Beachtung zu entdecken wäre, wo man nicht Sicherungen angebracht hätte. Mein eigentlicher und einziger Erfolg besteht darin, die Welt, in die einzudringen mir von Natur verwehrt ist, hinreichend unsicher gemacht zu haben. Ich lebe doch in der Entfernung einer Ozeanweite von der Möglichkeit, daß während dieses Vortrags ein Diener auf dem Podium erscheine, der mir eine eben eingelangte Berufung in die deutsche Dichterakademie überbringt; und womöglich noch weiter von dem Verdacht, daß ich auf der Stelle meinen Entschluß, sie anzunehmen, durch einen Redakteur der Neuen Freien Presse proklamieren ließe – wie es sich jüngst in einem benachbarten Gebäude begeben hat, bei der Feier eines Parnassiens, der freilich über den polemischen Niederungen meines Tagwerks wirkt, eines Vortragenden, der keinem weh tut und ja schon aus dem Grunde keine Ehrenbeleidigung begehen könnte, weil eine solche vor mehreren Leuten erfolgen muß. Man weiß, ich nehme nicht teil an den Lustbarkeiten, mit denen sich diese Geisteswelt über ihre Unzulänglichkeit hinwegtäuscht und für die sie sich eine Zugkraft suggeriert, welche ihr der stärkste Vorspann ihrer Presse nicht verschaffen kann; denn diese genügt zwar der Mission, die Welt, doch nicht der, einen Saal zu füllen. Ich ermangle des größeren Scheins, um eine kleine Wirklichkeit, eine selbst eroberte, zu besitzen und zu behaupten. Aber ist es nicht über allen Traum phantastisch, wie diese Solidarität, die mit den handgreiflichsten Mitteln ihre Werte besser erschwindeln als fördern kann, sich gegen den Schatten wehrt, den sie wirft, sobald ich aufscheine? Wie sind sie doch ängstlich bemüht, mir alles vorzuenthalten, was ihresgleichen als den Ausdruck irdischer Anerkennung tagtäglich einstreicht! Ich glaube, wenn sie die Wahl hätten, mir den Bauernfeldpreis, das Scherflein der Armen im Geiste, verliehen zu sehen oder mich unsterblich zu wissen, sie entschlössen sich für das zweite. Was hintennach kommt und wäre es die Sintflut, ist ihnen wurst: nur auf die Mitwelt soll ich nicht gelangen!

Um den Humor dieser Ausschließung, die heute bereits das einigende Band der Parteien und Konfessionen in einem vielfach zerklüfteten Staatswesen bildet, durch und durch zu genießen, möchte ich einmal schandenhalber ehrgeizig sein oder um es geradezu zu sagen: eitel! Damit würde ich doch der Vorstellung, die die Ortsgenossen in der weiteren Welt über mich verbreitet haben, am besten entgegenkommen. Denn wenn diese Welt dank der hermetischen Absperrung durch den journalistischen Apparat sonst gar nichts von mir vernommen hätte, und wenn nicht etwa Eingeweihte auch darüber informiert wären, daß ich nur niederreißen und nicht aufbauen kann – das eine ist doch heute schon über mich auch ins Ausland gedrungen: daß ich eitel bin. Und diese Eitelkeit, der seit den dreißig Jahren des gedruckten und insbesondere seit den fünfzehn Jahren des gesprochenen Wortes so jede Nahrung vorenthalten wird, ist nicht etwa nach unbedankten achthundert Schriften und vierhundert Reden des grausamen Todes der Auszehrung gestorben, nein, sie lebt und feiert Orgien. Wie kann sie das? Als Selbsterhalterin! Die Verbreitung des Rufs meiner Eitelkeit, die eine der stärksten Sicherungen gegen die Verbreitung meines Werks bildet, ist die Parole, auf die sich die Würdenträger der geistigen Zentren des deutschen Sprachgebiets geeinigt haben, und sie begründen sie damit, daß ich in Ermangelung ihrer guten Nachrede eben selber von mir spreche. Aber wenn sie einen freien Augenblick hätten, um einmal nicht zu lügen, müßten sie zugeben, daß ich schon wegen der größeren Unbeliebtheit ein interessanteres Thema bin als sie; daß der, der nur aus sich selbst besteht, es schwerer hat, bei der Betrachtung der Welt von sich abzusehen, als einer, der aus nichts besteht; und daß, was bei mit herauskommt, allgemeiner ist, als wenn die Journalisten von der Welt sprechen, und persönlicher, als wenn sie von sich selbst zu sprechen anhüben. Heilloseste aller Begriffsverwirrungen, die jemals das journalistische Denken über die bewohnte Bürgererde geheckt hat! Der der Sache mit seine Person dient und vor sie tritt, um für sie einzutreten, ist selbstgefällig in den Augen solcher, die ihrer Person mit einer Sache dienen, sie um persönlicher Ziele willen verfolgen, mithin allen Grund haben, ihr dürftiges Ich hinter ihr zu verbergen und denen es auch mühelos gelingt. Sie sind so bescheiden, sich in ein »Wir« zu multiplizieren, das Sicherheit, Kredit und Machtzuwachs gewährt. Sie finden es schicklich, mit ihrer Persönlichkeit hinter den Dreck, den sie schreiben, zurückzutreten – mit Recht, denn wer wollte da auch hineintreten? Außer mir, dem vor nichts graust und der mit seinem Ich noch solche Spur verfolgt! Aber ist dieses Ich nicht gemeinschaftlicher als jenes Wir? Dieses nicht in Wahrheit selbstischer als jenes? Hier wird etwas vorgespiegelt, was nicht ist. Und wie ist das mit der Selbstbespiegelung? Spiegle ich mich in diesen Erscheinungen oder lasse ich nicht vielmehr sie in mir sich spiegeln? Ist da nicht eine Phrase gegenteiligen Sinnes als Vorwurf gegen mich erstanden, wenn sie sagen, ich spräche von mir selbst, während ich doch eigentlich nichts tue als daß ich von der Welt spreche und dabei allerdings unaufhörlich Gott danke, daß ich nicht bin wie jene – ein Stoßgebet, bei dem ich wohl kaum von meiner Person ganz abstrahieren könnte. Meine Eitelkeit, die ich in gewisser Hinsicht zugebe, ist somit keine solche, die auf irdische Erfolge abzielt, sondern vielmehr eine, die sich in dem Verzicht auf Ehren, welche mir nicht gebühren, genugtut, also die rechte Bescheidenheit, ja wahre Demut, die weiter herauszustreichen ich unterlassen muß, weil es mir den Vorwurf der Eitelkeit eintragen würde. Man könnte vielleicht finden, daß ich, wenn ich diesem Vorwurf begegne, mich wiederhole und so mittelbar ihn bestätige. Aber ein Schelm, wer mehr gibt als er hat, wenn er nur sich selbst hat, und nichts wird ja auch öfter wiederholt als der Vorwurf der Eitelkeit. Gewiß, er fasziniert nicht so sehr durch die Wahrhaftigkeit, von der jene durchdrungen sind, die ihn erheben, als durch die Beharrlichkeit, mit der sie es tun, durch eine Wiederholbarkeit, die jeder Belehrung trotzt, kurz durch eine unentwurzelbare Dogmatik, von der man glauben müßte, daß jedem Bekenner vor seiner eigenen Dummheit endlich ein Speien angehen müßte, die aber im Gegenteil noch auf den ansteckend wirkt, der schon hundertmal erklärt hat, ich sei eitel, so daß ich es am Ende noch werden könnte. Denn man darf getrost vermuten, daß ich in meinem ganzen Leben – diese Rede eingeschlossen – noch immer nicht so viel von mir gesprochen habe, wie die bescheidenen Leute von meiner Überhebung. Ein Satz von Montaigne, der dem Vorwurf gleichfalls nicht entgangen ist, lautet: »Wenn es die Welt tadelt, daß ich zu viel über mich selbst rede, so tadle ich, daß diese nicht einmal über sich selbst denkt.« Da ich, wenn es nicht allzu eitel wäre, von mir behaupten könnte, daß ich in der Knappheit des Ausdrucks die Aphoristiker übertreffe – selbst die, die Gleiches von sich gesagt haben –, so möchte ich den Montaigneschen Gedanken auf die kürzere Formel bringen: Wenn einer es tadelt, daß ich eitel bin, so tadle ich, daß er ein Trottel ist. Gewiß ist das Axiom der Eitelkeit geradezu ein Maß für die Denkfähigkeit einer Sippe, welche dem, der ihre Kreise meidet, ihre Beweggründe zuschreibt, einem, der sich förmlich organisiert hat, um alles abzustoßen, was ihn mit ihr verbinden könnte, und der wirklich noch nie in die Versuchung kam, dort Ehre zu gewinnen, wo er sie verloren weiß. Es ist wahr, ich drucke manches von dem ab, was über mich erscheint; aber warum spende ich nicht, um es zu vermehren, Rezensionsexemplare und Freikarten? Doch daß die Tadler meiner Eitelkeit »über sich selbst denken«, das habe ich, weiß Gott, noch nie verlangt. Täten sie's, sie hielten es keinen Tag länger in ihrer Gesellschaft aus, sie führen aus der Haut und kämen mir abhanden. Und dann gelangte ja eines der hinreißendsten Argumente, die gegen mein Wirken versucht werden, zu seinem Recht: es sei nicht vernünftig, daß ich die Presse bekämpfe, denn was würde ich ohne sie anfangen? Ich führe solche Gedankengänge auf meine zerstörende Wirksamkeit zurück; die Verheerungen, die ich angerichtet habe, sind unabsehbar, wenn man bedenkt, daß zu den manchen, denen ich geholfen habe, ihr besseres Selbst zu finden, doch die größere Schar jener hinzugekommen ist, die ich gezwungen habe, Farbe zu bekennen und noch weit schlechter oder dümmer zu sein, als es bisher den Anschein hatte. Es ist gar nicht zu ermessen, welche Verwirrungen allein mein Kampf zur Befreiung der Menschheit von den Fesseln der Meinungsmechanik gestiftet hat, der Kampf gegen die Presse, von dem man wohl glauben sollte, daß hier ein von allem Sprachwerk lösbarer sittlicher Inhalt nichts brauchte, um verstanden zu werden, als ein natürliches Herz. Nein, hier triumphiert unbesiegbar – als fühlte sich die Banalität am tiefsten getroffen, wenn man ihr den journalistischen Faulenzer nimmt – der flachbürgerliche Begriff, der jede kämpferische Tat nach Nutzbarkeit und Eigennutz wertet; hier glitte noch das Pathos des Weltgerichts an dem geistigen Beharrungsvermögen eines Troglodytentums ab, welches alles angehört hat, um nachher mit besorgtem Blick dem Nachbarn zuzuflüstern: Aber er verdirbt sich's mit der Presse! Es ist ja wahr, daß, wenn ich die Welt von einem Übel befreit hätte, mir die Möglichkeit benommen wäre, dieses zu bekämpfen. Doch vermutlich würde ich dann, gemäß meiner Anlage, den menschlichen Verrat am Sinn der Schöpfung in anderen Übeln der Welt und in ihrer Empfänglichkeit für solche erkennen oder auch reichere Gelegenheit gewinnen, die Erscheinungen zu lobpreisen, ja zu besingen, durch die ich den Sinn der Schöpfung bewahrt fände. Indes, über die Art, wie ich die Welt anzuschauen habe, möchte ich mich doch nicht gern mit ihr in eine Debatte einlassen; das wäre noch gräßlicher als selbst der Zwang, sie anzuschauen. Und die künstlerische Gestaltung, die meiner Anschauung entspricht, weil entspringt, muß mit ihr hingenommen oder abgelehnt werden und bleibt Ratschlägen wie Anregungen unzugänglich.

Angesichts der Schwierigkeit, sich in meinem Werk zurechtzufinden, und namentlich gegenüber den bekannten Widersprüchen zwischen konservativen und revolutionären Standpunkten, gibt es nur einen verläßlichen Anhalt: das Gerücht – eine der ältesten Sicherungen gegen meine Wirksamkeit und von je eine der besten Vorkehrungen, um Klarheit in eine Sache zu bringen, die man verdunkeln will. Meine Polemik gegen den neuen Journalismus wird nicht anders erklärt als die gegen den alten: aus dem Antrieb der verletzten Eitelkeit, dem das Gerücht nur die plausiblen Anlässe bereitzustellen braucht. Da sich die Eitelkeit auch noch durch die Fälschung körperlicher Sachverhalte getroffen fühlt, so wurde mir das Arbeitspensum der letzten Jahrgänge zugemessen, und was die Vorzeit betrifft, so weiß man längst, wie alles kam, und mit den Jahren immer frischer ward die Erinnerung an den Tag, als ich aus der Neuen Freien Presse hinausgeworfen wurde. So motivieren sie halt in einer Gegend, wo dem arisch-jüdischen Doppeladler der Schnabel für das Schandwort »der Fackelkraus« wachsen mußte. Durch ein Vierteljahrhundert hatte dieses Gerücht, schon eine der solidesten Gründungen der Monarchie, durchgehalten, allen Versuchen, es mit Tatsachen umzustürzen, getrotzt, so daß ich mich schließlich zufrieden gab und es selber glaubte, denn schließlich sagt man sich, etwas muß doch dran sein. Nun ist aber in den letzten Tagen was anderes passiert, das den ältesten Leuten, die noch verleumden können, das Fundament ihres Wissens über mich erschüttert. Es hat eine Gerichtsverhandlung stattgefunden, in einer Sphäre, gegen die ich so rauh bin, statt der polemischen Beachtung die strafrechtliche anzuwenden, und die Zeitungen, die in meinen Angelegenheiten geradezu das Muster einer lebendigen Gerichtssaalberichterstattung bieten, verzeichneten die Äußerung, die da fiel, ich hätte mich einst bemüht, in die Neue Freie Presse hineinzukommen, sei jedoch dort hinausgeworfen worden. Außerdem waren sie so gewissenhaft, zu berichten, daß mein Anwalt die Klage auf diese Behauptung ausgedehnt, sie aber sogleich wieder zurückgezogen habe, offenbar, weil der Wahrheitsbeweis mir schließlich doch fatal gewesen wäre. Das nebensächliche Detail blieb unerwähnt, daß der Verzicht erfolgt ist, weil wider Erwarten die Verhandlung einmal durchgeführt werden konnte und einzig nur noch die neue Anklage eine weitere Verschleppung ermöglicht hätte. So hätte ich also wieder einmal vor der Feststellung des wahren Sachverhalts zwischen mir und der Neuen Freien Presse auskneifen können, wenn nicht diese selbst mir einen Strich durch die Rechnung gemacht und in ihrem Gerichtssaalbericht verraten hätte, was sie seit Jahrzehnten wußte und im Banne der Totschweigepflicht bei sich behielt:

Wir stehen nicht an, loyalerweise zu erklären, daß diese Behauptung absolut unstichhaltig ist, daß Herr Kraus niemals eine Stellung in unserem Blatte angestrebt hat und daß daher auch von einer Zurückweisung solcher Bestrebungen keine Rede sein konnte.

Der Neuen Freien Presse liegt offenbar in diesen destruktiven Zeiten nichts mehr daran, einen Glauben zu zerstören, der geradezu die Lebensberuhigung ihrer ältesten Abonnenten gebildet hat, und da es nun einmal ans Niederreißen geht, so bin ich auch dabei und will eine loyale Wahrheit, die doch nur die Hälfte einer ganzen Wahrheit ist, ergänzen durch die Angabe, daß von Bestrebungen um meinen Eintritt in die Neue Freie Presse insofern doch die Rede sein kann, als ich am 19. Januar 1899 um vier Uhr nachmittags einen Antrag ihres damaligen Herausgebers abgelehnt habe.

Man sieht also wieder einmal, daß an einem Gerücht immer etwas stimmt, wenn auch nur das Gegenteil. Sich nun vorzustellen, daß ein Lebenswerk auf eine Miserabilität zurückgeführt werden konnte, die mit einem Federstrich berichtigbar war, das allein ergibt schon die ganze Hoffnungslosigkeit eines Wirkens und wäre es selbst nur auf soziale Maße gestellt. Wie soll man sich aber erst mit den Leuten verständigen, wo es um die Sprache geht, und wie vermöchte man ihnen beizubringen, daß das Wort wichtiger ist als der Wicht, auf den es sich bezieht? Gleichwohl hat gerade ein Ereignis der letzten Zeit meine Überzeugung befestigt, daß das Verständnis für Angelegenheiten, die innerhalb der Sprache spielen, erfreulich zunimmt. Ein Bonner Literarhistoriker, in Wien gebürtig, ist sonnverbrannt heimgekehrt, das Mutteraug hat ihn sogleich erkannt und die Presse hat seine Erkenntnis weitergegeben, daß eine Dichtung nicht ausschließlich nach ihrem thematischen Gehalt und dergleichen Quantitäten und Umständen zu beurteilen sei, wie man immer geglaubt hat, sondern auch etwas mit der Sprache zu tun habe Die Sprache dient nämlich nicht, wie man immer geglaubt hat lediglich dazu, die Genugtuung über Börsengewinste zum Ausdruck zu bringen, Morde, die einem stagelgrün aufliegen, zur Sensation auszukrakeelen, Schicksale zu beschmieren oder zu beschmusen, kurz, unsere bestialische Überlegenheit über die Tierwelt hörbar zu machen, nein, sie spielt auch in der Lyrik eine bisher nicht geahnte Rolle. Fragt sich nur, was die Leute, die solche Entdeckung einer Presse verdanken, der die Sprache dazu dient, faule Neuigkeiten an den Mann zu bringen, unter Lyrik verstehen und ob diese bloß dann vorhanden ist, wenn der Mond vorkommt. Von Meister Kernstock las ich jüngst, er sei ein echter Lyriker, denn er singe von sonnigen, lichtumsponnenen Wiesen, über denen Goldkäferlein summen und kosende Falter gaukeln, wobei er auch noch die reinen, holden Mädchen und die edlen deutschen Frauen preise und ein Übriges tue, indem er froh und stolz das Banner Schwarz-weiß-rot entrolle, zum Kampfe für Gott und unser deutsches Volk. Das alles wird man bei mir vermissen, da ich keinem Goldkäferlein oder kosenden Falter die Sympathien des Publikums verdanken möchte und anderseits es auch nicht übers Herz brächte, die unschuldige Kreatur durch das schwarz-weiß-rote Banner zu verscheuchen. Was in meiner Lyrik summt und gaukelt, sind Journalisten und Politiker, und gleichwohl möchte ich behaupten, daß ich von solchen Gestalten und Geräuschen ein Bild der Gottesschöpfung abgenommen habe, welches der Sehnsucht nach Goldkäferlein und kosenden Faltern, wenn schon nicht der nach edlen deutschen Frauen, ein stärkeres Unterpfand bietet als Meister Kernstocks Lyrik. Aber das wird die Welt, nach welchem Banner sie immer orientiert sei, noch lange nicht zugeben und sie weiß wohl, warum. Eine der wirksamsten Sicherungen, die sie gegen mich angebracht hat, besteht ja in der Reduzierung meiner Dichtung, in der nur alle heiligen Zeiten einmal der Mond aufgeht, auf das Register der Personen, die darin vorkommen; besteht in der Preisgabe der eigenen Erbärmlichkeit zur Herabsetzung meines Bestrebens, ihr etwas Bleibendes abzugewinnen und sie in gültigen Sprachgestaltungen einem zeitlich und räumlich distanzierten Bewußtsein zu überliefern. Mit Fingern zeigt man auf mich, indem man sagt: Das ist der Mensch, der sich mit unsereinem abgibt; der sich keine schöneren Themen weiß als uns, wer sind wir schon! Warum schreibt er nicht über Goldkäferlein? Ja, das möchte den Wanzen so passen, die einen verwöhnten Schönheitssinn haben. Und die Hyänen sind wieder unzufrieden, daß ich mich mit Kleinigkeiten abgebe. Nützt ihnen nichts, sie kommen doch auf die Nachwelt! Oh, ich fühle mit, es ist furchtbar, ich möchte nicht in der Haut der Tiere stecken, die mein Natursinn bevorzugt hat, von denen nichts bleiben wird als mein Präparat und von denen man doch alles wissen wird bis auf das eine, ob sie passender in einem naturhistorischen oder in einem kunsthistorischen Museum unterzubringen wären. Bei Lebzeiten mag diese Frage unentschieden bleiben und die Aufhebenswürdigkeit sich bestreiten lassen. Da genüge es, im Ausland, zu dem ich dereinst als Pionier des Fremdenverkehrs hinüberleiten werde, Warnungen zu verbreiten, die ihren Niederschlag in einer ungefähren Kenntnis finden wie: Die Fackel, aha, das ist das Blatt mit dem roten Umschlag, wo kleine Glossen über Wiener Lokalangelegenheiten erscheinen. So mag es getrost in Gegenden verlauten, die sich mit Recht für den stofflichen Inhalt dieser Lokalangelegenheiten nicht interessieren und vor der Erfühlung ihres menschlichen Inhalts bewahrt bleiben, solange eine öffentlich schweigende und heimlich informierende Presse zeitliche Wertungen durchsetzen kann, solange ein geistig verantwortliches Ich, durch nichts beglaubigt als durch sein Dasein, der technischen Gewalt des unfaßbaren Wir gegenübersteht.

Bleibt nun innerhalb der gegebenen Möglichkeit des Erfaßtwerdens nichts übrig als jene immer wieder betonte Genugtuung der Erfolglosigkeit, die im glücklichen Erlebnis der Leistung, im genußvollen Abstand von Leistung und Beachtung sich als Eitelkeit manifestiert und in diesem Vorwurf ihre wahre Quittung findet; bleibt im Geistigen nichts als der Triumph der Niederlage – so wächst das Defizit der moralischen Wirkung zum Debakel. Der Ausfall an Anerkennung ist Lohn, der reichlich lohnet, nie hat in der Geistesgeschichte ein Schweigen lauter gesprochen; totgeschwiegen im Text der Zeit, kann ihr Bewußtsein mich nicht verleugnen, und falls sie Träume hat, bin ich ihr noch dort zur Last. Vielfache Bestätigung, die auszusprechen mir selbst vorbehalten bleibt, und wenn's die bescheidenen Lumpe im Innersten verletzte. Nicht daß ihre Bescheidenheit so weit geht, von meinen Gaben kein Aufhebens zu machen, beklage ich. Daß von den hunderten Darbietungen nicht einmal die dem fremden Wort geweihten, durch welche doch keinem Mitlebenden ein Haar gekrümmt ward; daß die Gestaltungen Shakespeares, Goethes, Gogols, Hauptmanns, Nestroys, Offenbachs, diese in keiner Epoche rezitatorischen Wirkens erlebte Fülle – mir selbst befeuernder als jeder Ritt über den Bodensee jener »eigenen Schriften« –; daß zwischen den Trümmern einer szenischen Welt dieses Theater der Dichtung keinen Referententon vernommen hat: solches mag die Schande einer! Kulturstadt sein – mir war es eine Wohltat und man kann es mir glauben, daß meine Nerven daheim nicht anders reagieren würden als im Ausland, von dem mich die unvermeidliche Plage einer Journalistik, die dort auch ungeladen ihre Pflicht wahrnimmt, so lange als nur irgend möglich fernhält. Hierin also beklage ich mich über nichts, und wenn ich als Betrachter der Dinge zwischen Kunst und Presse in deren Absenz vom Theater der Dichtung den letzten Beweis ihrer Infamität kenne, so überwiegt doch mein Dankgefühl für ihre Rücksicht auf meine Empfindlichkeit, der zum Trotz sie ihre Pflicht zu erfüllen hätte. Nichts was die Presse dieser schuldig bleibt, wo es meine Sache betrifft, könnte ich jemals auf meine Verlustseite buchen, denn wo sie meine Erkenntnis vermehrt, erspart sie mir doch wieder Arbeit und Verdruß, und ich hoffe, daß auch mein weiteres Wirken lang sich an diesem Entgegenkommen nichts ändern wird. Nein, was mich erschauern macht, ist ein ganz anderes Defizit als das der Beachtung, welche dem künstlerischen, Werk vorenthalten blieb und bleibe! Das täglich wachsende Gefühl der Unwirksamkeit einer sittlichen Überredung, der eine akustischere Zeit, ein günstigeres Klima den unmittelbaren Erfolg nicht versagt hätte; die Erkenntnis, über die treue Vielheit hinaus, die immer wieder hören will, was ich sie fühlen gelehrt habe, nicht im Sturm vordringen zu können und nur Seele für Seele der Zeitwüste zu entreißen – das ist das beklemmende Abenteuer meiner letzten Jahre, der Jahre nach einem Umsturz, der zwar die Könige abgebaut hat, aber den Kärrnern nichts tun gab, was der Freiheit in einem sittlicheren Sinne würdig war. Weiß Gott das Gefühl, innerhalb des Grausens der Entehrung, die ein vierjähriges Wüten der Glorie hinterlassen hat, auf dem hoffnungslosesten Posten Europas zu stehn. Und es ist, als ob man nach dem Kampf gegen die Kriegs- und die noch scheußlichere Nachkriegsbestie, nach Vollbringung aller nur möglichen Herkulesarbeit erst verurteilt wäre, qualvoll im Nessushemd zugrundezugehen, das diese Dirne öffentliche Meinung mit dem Blut des getöteten Zentauren bestrichen hat und aus dem es kein Entrinnen gibt als den Flammentod!

Und hier hat mein Register nicht jenes Loch, das ein Imre Bekessy gefunden hat, um ins Freie zu gelangen: der Name bleibt noch wesentlich, um an einem praktischen Erfolg, dem größten, den ich je errungen habe, die ganze Größe meines Mißerfolges darzutun. Höre ich nicht, wenn ich den Genannten nur nenne, zwischen den manchen, die Zeile für Zeile in diesem Kampf die Übereinstimmung mit dem höchsten sittlichen wie geistigen Anspruch gefühlt haben, höre ich nicht die entsetzliche Stimme der Banalität, die den weitaus größeren Teil alles Irdischen und Hiesigen einnimmt und die in unerschütterter Fühllosigkeit, der Leistung nicht einmal im äußerlichsten Begriff eines antikorruptionistischen Nutzens verbunden, nichts empfindet als die thematische Wiederholung? Ich weiß nicht, ob es sie immer gegeben hat – aber es ist die Sorte, die den Herkules nach vollbrachter Arbeit gefragt hätte: Sagen Sie mir, bitt Sie, was haben Sie eigentlich gegen den Augias? Oder auch: Steht dafür, sich mit einem Zentauren herzustellen! Es ist, in allen Schichten, vom Professor bis zum Kaufmann, der den Göttern gehört, der Einwand der denaturierten Intelligenz, die meine Produktion einteilen zu können glaubt und bemüht ist, mich von Bekessy womöglich durch die »Sprachlehre« abzulenken, von der sie doch weniger versteht als ein Nashorn vom Flötenspiel, welches aber vermutlich vor dem Orgelspiel die Identität der Schöpfung erkennen würde und nicht die Verwegenheit hätte, da Wünsche zu äußern. Dank meiner perspektivischen Gabe, hinter dem Flachkopf, der es niederschreibt, die zehntausend aufzureihen, die sich's bloß denken, bin ich über die Hoffnungslosigkeit meines Tuns stets auf dem Laufenden. Wie sehr diese Stadt ihren Bekessy verdient hat, dem ja nicht nur die Mitwisser und Mitesser nachtrauern sollen, zeigt mehr noch als der Stoizismus, mit dem sie ihn getragen, als der Gleichmut, mit dem sie mich's allein verrichten ließ – zeigt diese greuliche Nihilisierung des sittlichen Erfolges, die Bereitschaft dieser öffentlichen Meinung, sich als, der große Schwamm, den ihr Charakter vorstellt, über das Gewesene zu breiten. Als ob es in dieser Atmosphäre moralischer Indifferenz ein Gewesenes gäbe, das nicht ein Verwesendes bliebe, und das Übel nicht über das Beispiel hinaus fortlebte. Und als bewiese nicht schon die Verfälschung meiner Tat durch die journalistische und parteipolitische Lüge die Heillosigkeit eines Milieus, das einen so gigantischen Betrug wie den des Systems Bekessy ermöglicht hat. Aber der tiefen Unwahrhaftigkeit dieses öffentlichen Lebens, der Fäulnis, die Ruhe haben möchte, und der Stoffmüdigkeit, die nach Abwechslung verlangt, der Wurstigkeit, die nur spürt, was ihr passiert, und der Frivolität, die kein Erlebnis hat und keines achtet, kurz den Triebkräften, die das hiesige Leben und Sterben vor die Preßhunde geworfen haben, sei es gesagt: daß ich noch lange nicht daran denke, sie zu bedienen, wie's ihnen beliebt! Daß nach der Unschädlichmachung des Verbreiters noch die Pest ein Stoff bleibt, nebst der Betrachtung der Verantwortlichen, die sie gewähren ließen. Daß eine große sittliche Angelegenheit, die nicht Leser, sondern Seelen gewinnen wollte, nicht beendet ist, solange das Übel fortwirkt und die Disposition zu seiner Verbreitung; und daß, wenn mein Leben nicht ausreichen sollte, mein Geheimnis in meinem Papiere liegt, das meine Erben aufbrechen! Ich weiß wohl, daß ein einfaches Ich, zum Selbstgespräch verurteilt, von allem Stichwort des Wir verlassen, zwar Taten vollbringen kann, aber keinen Anspruch auf deren Zugeständnis hat, wenn es schon auf ihre Anerkennung verzichtet, und noch weniger Anspruch hat auf Beachtung solcher Wünsche, die über das Resultat hinaus nach Sicherung und Sühne zielen. Deshalb versteht es sich von selbst, daß Behörden jedem publizistischen Sensationsdrang parieren werden, der unter dem erstunkenen Vorwand eines Kampfs ums Recht und in Wahrheit zur Erhöhung der Auflageziffer Familienmorde ausschreit und psychisch begeht. Aber sie werden stumm bleiben, wenn mein doch sittlich beglaubigteres Wort Aufklärung über Vorgänge fordert, die zur Befestigung einer Banditenherrschaft geführt haben. Nun, eine mich totschweigende Amtlichkeit mag zum geistigen Weichbild dieser Lokalität gehören. Nur daß sie sich, wenn sie der Journalistik auch in diesem Punkt entgegenkommt, gleich ihr über die Ausdauer meiner Existenz täuschen wird, die mit Zeitungsherausgebern auch Polizeipräsidenten überleben dürfte. Ich habe in meiner Betrachtung »Die Stunde des Todes«, die manchem Zeitlichen den Nachruf hielt und bereithielt, ein Verlangen gestellt, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Ich hoffe, falls es in der Frist bis zu einem Prozeßtermin nicht erfüllt wäre – wo ein in vieler Richtung bedenklicher Akt eine Rolle spielen soll –, die Aufklärung, die mir geweigert wurde, selbst geben zu können und frei von allen juristischen und sonstigen Hemmnissen auch vor der österreichischen Welt die höchste sittliche Berechtigung zu diesem Verlangen zu erweisen. Daß die Wahrheit seit Hans Sachsens Tagen noch immer niemand beherbergen will, war nicht die stärkste Erkenntnis, die mir in meinem Abenteuer zugestoßen ist. Aber war es schon eine eigenartige Erfahrung, festzustellen, daß sie infolgedessen . auch nicht polizeilich gemeldet ist, so wird es doch auf die Dauer nicht möglich sein, sie hieramts als Vagabundin zu behandeln! Die unerbittliche Konsequenz, mit der ich diesen Kampf geführt, müßte es jedem einleuchten lassen, daß ich dort, wo ich mich einmal ethisch verpflichtet habe, keine Grenze kenne außer der des Landes, über die man mich nicht weisen, aber die ich freiwillig überschreiten kann, weil es vielleicht doch Lokalangelegenheiten gibt, die auch eine weitere Menschheit berühren. Denn es wäre schon ein Kulturfall von größerem Umfang, wenn ich diese ganze Täuschung und Enttäuschung eines sittlichen Anspruchs durch das Österreichertum darstellen wollte, bis zu dem Zeitpunkt, da einem Künstler etwas gelungen ist, was von naturwegen mehr dem Ehrgeiz einer Sicherheitsbehörde geschmeichelt hätte. Die Stimmung jener Tage drückt sich darin aus, daß ein Wiener Journalist, persönlich ein unschuldiger Mann, sich mir mit dem Glückwunsch zu einem Vollbringen vorstellte, das er als die größte Leistung seit dem Umsturz bezeichnet hat in diesem Staate, den er noch mit einem Epitheton ornans versah, dessen Berechtigung ich schon nach den Erlebnissen meines Kampfes nicht in Abrede stellen könnte. Da nun in den Zeitungen auch nicht die Spur von einer solchen Zuerkennung zu finden war, von der der Journalist versicherte, sie sei die übereinstimmende Meinung aller, die die Zeitungen machen, so nahm ich an, daß sie meine Wirksamkeit in dieser Sache nicht so sehr als interessant wie als notorisch auffaßten. Da sie aber sich selbst als die Bezwinger des Bekessy aufspielten, ja so weit gingen, einander das Verdienst streitig zu machen, so gewann ich von dem Schauspiel vollkommenster Schamlosigkeit die Erkenntnis, daß ein großer Aufwand unnütz vertan und angesichts der Unausrottbarkeit des Bekessygeistes der Verlust des Vorkämpfers eine Niete sei. Freilich soll man nichts, was man in dieser Richtung geleistet hat, bereuen, denn zunächst ist es, was den sozialen Effekt betrifft, gewiß nicht unerheblich, daß Wien nun einen seiner prominentesten Schufte weniger hat, und in geistigen Dingen, wo die Sommerkur ein Weihnachtsgeschenk bedeutet, kommt es doch noch auf anderes an als auf den unmittelbaren Ertrag. Gleichwohl habe ich die Pein, eine verseuchte Gegenwart durchstehen zu müssen, nie als so unleidlich empfunden wie in den Monaten nach der Vertreibung des Mannes, dessen Name ihr Symbol geworden ist, und wahre Erbitterung erfaßte mich beim Gedenken all der Schlechtigkeit und Halbschlächtigkeit, die einem guten und ganzen Vollbringen, von Anfang an entgegengetreten war, nieder und bieder, mit offener Feigheit oder treuhänderisch gewandet, um nach dem Ende Gewinn und Ehre einzustecken. Würde es jemals gelingen, diesem grandiosen Ekel, der sich doch vor jede Arbeit lagern müßte, Teilnahme zu sichern? Wie aber stets im Ausgleich einer schöpferischen Gerechtigkeit die Zeitungswelt mir hilft, mein Bild von ihrem Zustand zu vollenden, und wie jener Bericht über das Treiben der Banditen von Palermo am Ausgang der Sache stand, als die Wiener Banditen einsehen mußten, daß ihre Stunde geschlagen hatte – so fiel mir nun ein Bericht aus Stockholm in den Schoß, den ein Blatt ohne die geringste Ahnung von dem tiefen Zusammenhang der Weltdinge erscheinen ließ. Und hätte ich niemals gewußt, welche Aufgabe ich unerschüttert von der Fühllosigkeit meiner Ortsgenossen in Angriff genommen hatte, in den größten und mühseligsten aller meiner und aller je in der polemischen Literatur vollbrachten Angriffe; und hätte ich nie gewußt, wie kläglich die mit mir und statt meiner Berufenen diese Aufgabe vernachlässigten und verrieten – nun konnte ich es erfahren, und mit mir sollen es auch jene erfahren, die als unverpflichtete Leser und Hörer sich an dem Kampf mit nichts beteiligt haben als mit dessen Verkleinerung.

(Kampf gegen ein Skandalblatt.) Aus Stockholm, 23. d., wird uns geschrieben: Wie schon vor zwei Jahren, so haben die schwedischen Arbeiterbildungsvereine auch in diesem Jahre eine energische Kampagne gegen die Schmutz- und Skandalpresse eingeleitet, die ebenso wie die erste von vollem Erfolg begleitet ist. Nachdem bereits vor zwei Jahren vier Zeitungen durch das Vorgehen der Arbeiterschaft, dem sich die übrigen Kreise der Bevölkerung energisch angeschlossen haben, unterdrückt worden sind, ist jetzt das einzige in Schweden noch bestehende Schmutz- und Skandalblatt »Fäderneslandet« (»Vaterland«) durch den über alle Zeitungshändler, Papier- und Zigarrengeschäfte, die das Blatt führen, verhängten Boykott in eine Lage gekommen, die sein weiteres Erscheinen unmöglich macht. Die meisten Händler haben nach der Verrufserklärung freiwillig den Verkauf des Schmutzblattes eingestellt, andere erklären, daß sie mit dem Ablauf dieses Monats seinen Vertrieb aufgeben. Die bürgerliche Presse hat die Aktion der Arbeiterschaft lebhaft unterstützt und fordert ihre Leser täglich auf, dem Schmutzblatte den Garaus zu machen, indem sie alle Geschäfte meiden, in denen dies aufliegt oder zum Verkauf gestellt wird.

So hat eine Stadt, die wahrlich auch Bäder hat, ihre Ehre gereinigt! So hat sie sich ihrer ›Stunde‹ erwehrt! Wien, zwischen Palermo und Stockholm, hat vor seinen Briganten schmählicher kapituliert als Palermo und hat bloß den in Verruf erklärt, der ihm die Stockholmer Methode ans Herz legen wollte. Arbeiterschaft und bürgerliche Presse, sie waren einig darin, nichts von dem zu tun, wozu er ihre entehrte Stadt mit Flammenworten aufrief. Und der Herausgeber von »Fäderneslandet« war vermutlich ein geborener Stockholmer, kein zugereister Finne, dem politische Erwägungen die Seßhaftigkeit in der Stadt, anstatt in deren Zuchthaus, verschafft hatten. Der Bürgermeister von Stockholm – hätte er wohl einen politischen Märtyrer gedeckt, über dessen erpresserisches Vorleben ihm rechtzeitig Beweise in Aussicht gestellt wurden? Hätte er, da die Schmach solcher Einbürgerung besiegelt war, dem Appell eines Schriftstellers, den er als eine sittliche und geistige Instanz der Stadt angesprochen hatte, mit Schweigen und erst notgedrungen mit einer kurialen Unaufrichtigkeit geantwortet? Aber vielleicht ist er kein Revolutionär! Die Stockholmer Arbeiterschaft – deren sittlicher Antrieb mit keiner Parteidisziplin in Widerspruch geraten mußte –, hätte sie »andere Sorgen« gehabt, als sich mit der Abschüttelung eines Parasiten zu befassen, der zugleich der Parasit des Reichtums war, selbst wenn man ihr nicht gesagt hätte, der Gesinnungsgenosse sei ein militärgerichtlich abgeurteilter Erpresser an Soldaten, der Märtyrer des weißen Terrors habe Rotgardisten an diesen ausgeliefert? Die sozialistischen Akademiker Stockholms, hätten sie sich dem Aufruf des Mannes, den sie zu Vorträgen einluden, entzogen und ihren Radikalismus lieber im Protest gegen ausländische Schwätzer als gegen einheimische Erpresser betätigt? Die Stockholmer Arbeiterbildungsvereine, hätten sie der nimmermüden Bereitschaft ihres Freundes mit Unbewegtheit vor dessen leidenschaftlichster Handlung gelohnt? Nein, sie haben aus eigenstem Antrieb sie vollbracht! Hätten sie geduldet, daß das Schandblatt, dem sie den Garaus machten, meine Beziehungen zu ihnen selbst verdächtige, daß es sich zwischen die Arbeiterschaft und deren Vortragenden stelle, und sich nicht einmal zu einer Berichtigung der Lüge aufgerafft? Nein, sie haben ohne jeden Anreiz einschlägiger Frechheit die Insulte des Daseins dieser Schmutzpresse gefühlt und Schluß gemacht. Und wenn sich ein Konflikt zwischen einem taktischen Interesse und einer Forderung elementarster Moral ergeben hätte, so frage ich: wäre dort je der Zustand ermöglicht worden, daß dem ehrenhaften Publizisten der Partei die Schonung der Schande zum Gebot gemacht wird, der Angriff erst erlaubt, da sie ihn selber trifft und da schon Flucht und gerichtliche Remedur von einem andern bewirkt sind – und daß solcher Ablauf der Dinge zum Parteisieg umgefälscht wird? Aber hier wage es nur einer dieser Burschen, die mit Tinte an der Arbeitersache kleben und mit Ehrgeiz an der Entscheidung beteiligt sind, ob ich ein »Revolutionär« sei – wage es einer nur noch einmal, hinter dem Rücken der Wahrheit und des Mannes, der sie achtet, dieses Kapitel proletarischer Zeitungsgeschichte anzurühren: so will ich den glorreichen Endsieg mit den grotesken Unterlassungen der Jahre konfrontieren, wo dem, der allein gekämpft hat, kein anderer Trost zuteil wurde, als daß die Sozialdemokratie andere Sorgen habe, und wo nichts geschah, als eine Aufgabe zu verkleinern, die gelöst war, bevor sich das Parteiblatt ihrer besann!

Es ist bei zu viel taktischem Hang jeweils ein Mißerfolg der sozialdemokratischen Politik, daß nicht immer dort, wo sich hart im Raum die Sachen stoßen, leicht bei einander Gedanken gewohnt haben. Das Verhängnis aller Politik ist ja der Ausfall an Phantasie, der das Menschentum höchstens als Programmpunkt übrig läßt und für den eine Zweckmäßigkeit keinen Ersatz bietet, die sub specie naturae nur eine Mittelmäßigkeit ist. Die Umwandlung der Welt, die wir ersehnen, wird schwerlich ohne die Erkenntnis reifen, daß es auch etwas gibt wie einen Marxismus der moralischen Gegebenheit. Im Außermenschlichen würde sie nicht gelingen oder erst durch eine Revolution gegen die Politik herbeigeführt werden, und vielleicht käme dann gar Ibsens Forderung zu Ehren: »Es ist unzulässig, daß Leute der Wissenschaft Tiere zu Tode quälen; mögen die Ärzte mit Journalisten und Politikern experimentieren«, und Kierkegaards Unerbittlichkeit, der im Namen Gottes die Verantwortung auf sich nimmt, Feuer zu kommandieren, wenn er sich »nur zuvor mit der ängstlichsten, gewissenhaftesten Sorgfalt vergewissert hätte, daß sich vor den Gewehrläufen kein einziger anderer Mensch, ja auch kein einziges anderes lebendes Wesen befände als Journalisten«. Zu viel der geräuschvollen Unehre haben diese Berufe in dreister Verkehrung ihrer ursprünglichen Nutzhaftigkeit dem Leben angetan, als daß nicht eines Tages ein parteiloser Widerwille aufstünde, ihnen das Wort zu entziehen. Dient es noch einem andern Zweck als der Machtbehauptung durch Augenauswischerei an jenen, die nicht sehen sollen, wie ihre Machthaber aussehen? Ist es erträglich, daß konkrete Anschuldigungen, die ein alter Sozialist gegen shimmytanzende Tribunen und Tischfreunde von Großschiebern erhebt, der gerichtlichen Überprüfung durch die Immunität der Betroffenen entzogen werden und daß diese es vorziehen, auf Parteitagen vor dem Ankläger »auszuspucken«? Was gewiß keine zulängliche, aber vielleicht eine nicht ungefährliche Remedur ist, da sie ihren Bauch treffen könnten!

Nun, wenn zugunsten der Sozialdemokratie immer noch zu sagen ist, daß sie einen enttäuschen kann – wie stellt sich im Spiegel der Stockholmer Begebenheit die Haltung unserer bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Wortführer dar? Wenn Feigheit eine bis dahin nicht entdeckte menschliche Eigenschaft gewesen wäre, im Falle Bekessy hätte sie sich die Sporen verdient! Und wenn je ein Sensationsgeschäft sich in den Instinkten der Kanaille nicht getäuscht hat, die um des Genusses der Schadenfreude willen noch den Skandal in Kauf nähme, der sie selbst betrifft, so war es das Geschäft der ›Stunde‹. Aus Stockholm hört man von dem Boykott, den ganz Südschweden gegen sein ›Fäderneslandet‹ binnen weniger Tage so radikal durchgeführt hat, daß ein Reisender mir in Ergänzung jenes Berichtes mitteilt, er habe kein einziges Exemplar mehr auftreiben können, um es mir zu überliefern. Dafür schickt er mir den Artikel, der an leitender Stelle des ›Svenska Dagbladet‹ vom 25. Oktober den Titel führt:

Kraftig kampanj mot smutsbladet i södra Sverige.

Das braucht man gar nicht zu übersetzen. Untertitel:

Keine Zeitungen für den, der ›Fäderneslandet‹ verkauft.

Der Boykott beginnt.

Ein Verdammungsurteil gegen diejenigen, welche die Dreckzeitung lesen.

Der Artikel teilt mit, daß der südliche Kreis der schwedischen Zeitungsherausgeber-Vereinigung beschlossen habe, ihre Zeitungen durch Zigarrenladen, Kioske und andere Verkaufsgelegenheiten, die gleichzeitig die Stockholmer ›Stunde‹ und auf demselben Niveau stehende Blätter führen, nicht mehr verkaufen zu lassen. Der Beschluß soll auf die anderen Kreisversammlungen ausgedehnt werden. Es sei beabsichtigt,

durch dieses radikale Vorgehen das Schmutzblatt auszurotten.

In Stockholm haben etliche Zigarrenhändler und Kolporteure den Verkauf schon eingestellt, ohne den Beschluß des Reichsverbandes abzuwarten. Der Satz einer Zeitung wird zitiert:

Begreiflicherweise ist die Aktion wert, von allen guten Kräften unterstützt zu werden, die gegen diese moralisch niederbrechende Wirksamkeit, die von der Schmutzpresse ausgeübt wird, kämpfen wollen. Es handelt sich um nichts Geringeres als um eine wirkliche Gemeingefahr, die es auszurotten gilt. Eine zielbewußte Arbeit muß zu einem Resultat führen.

Das Publikum, welches die Dreckzeitung kauft, wird charakterisiert:

Es sind nicht gerade viele, die sich trauen, ihr Vergnügen einzugestehen, ihre Seele in der Kloake zu baden, aber viele schauen heimlich hinein. Sie schließen sich in ihrem geheimsten Kämmerlein ein und genießen dort diese gefährliche Heuchelei, die unter dem Anschein, sittliche Forderungen zu verfechten, in Skandalgeschichten allen Unrat zusammenträgt, den sie aus dem Hinterhof der Allgemeinheit erhalten kann, und selbst solchen, den es dort gar nicht gibt ...

Gegen Leute, die derlei unterstützen, dürfe man nicht nachsichtig sein, Duldsamkeit sei in diesem Falle von Übel.

»säg mig med vem du umgäs och jag skall säga dig vem du är«

das alte Sprichwort enthalte noch immer eine lebendige Wahrheit.

Kann eine Person mit der Schmutzpresse Verkehr pflegen, so haben wir es nicht schwer, ihr ein Zeugnis auszustellen. Da wissen wir, wonach wir uns zu richten haben, denn jede menschliche Seele, die im Kehrichtgestank des Hinterhofs gedeiht, ist auf irgendeine Art angefressen. Das sollen wir für klar halten und danach handeln, wenn wir einen Mitmenschen mit dem heuchlerischen Skandalorgan in der Hand sehen.

Hier haben sie sich so photographieren lassen!

Auf diese Weise muß man beitragen können, eine Meinung gegen die Unsauberkeit zu schaffen und denjenigen Organisationen zu helfen, die jetzt daran gehen, den Körper der Gesamtheit von dieser Eiterbeule zu befreien ...

Dann werden Personen an den Pranger gestellt, die das Schmutzblatt kaufen. Dann wird geklagt, daß die Stellungnahme des »Jugendbundes« nicht ausreichend sei:

Unsere leitenden Zeitungen müssen in die Bresche treten und ihre stärksten Waffen anwenden: den Boykott der Wiederverkäufer u. a. m. Sie werden das ganze schwedische Volk hinter sich bekommen. Nur wenige Schweden dürften das Kloakenorgan verteidigen.

Es wird festgestellt, daß »sich der ›Social-Demokraten‹ nun auch denen angeschlossen hat, die gegen das ›Fäderneslandet‹ vorgegangen sind.« Die Jugend, die einmal den Volksvergifter Nick Carter unschädlich gemacht habe, sei wieder in Tätigkeit, ein allgemeines Meeting werde stattfinden, um die jetzt eingeleitete Kampagne zu unterstützen. Der Fall sei der, daß »ein industriöser Herr mit guten Nerven sich zu einem Privatgerichtshof ernannt habe, bei dem Verleumdung, Übelwollen und Rachsucht herzlich willkommen sind«; gegen diesen permanenten Mißbrauch der Preßfreiheit rücke nun endlich der große Besen an. In Zuschriften aus dem Publikum wird die Sympathie mit der Aktion ausgedrückt und das Staunen darüber, daß man die Anschlagzettel des Schmutzblattes

auf der Rampe des Dramatischen Theaters und an den Fenstergittern der Kontore der Großbanken zu sehen kriegen muß.

Immerhin haben sich die Mitglieder des Dramatischen Theaters und die Direktoren der Großbanken nicht mit dem ›Fäderneslandet‹ in der Hand ausstellen lassen.

Es wird auch die Frage aufgeworfen, ob nicht die Hausmeister eingreifen und die Reklamezettel des Schmutzblattes von den Hauswänden entfernen könnten. Wir lassen die Frage weitergehen.

Wer hätte in Wien die Hausmeister zu beeinflussen gewagt! Der »Reichsverband für sittliche Kultur« schließt sich der Kampagne an, nachdem er schon vor Jahren durchgesetzt hat, daß der Verkauf des Schmutzblattes innerhalb des Bereichs der Staatsbahnen verboten wurde. ›Svenska Dagbladet‹ fordert auch in Annoncen zum Boykott auf und bringt unter dem Titel »Tod dem ›Fäderneslandet‹!« eine erschütternde Zeichnung, die eine Riesenwanze darstellt, wie sie eine Frauengestalt bekriecht, und darunter den Text:

Es heißt, daß Fäderneslandet die Frau eines armen Teufels zum Selbstmord getrieben hat. Tod dieser Wanze!

Wie viel Blut und Geld, wie viel Ehre hat sich dieses Wien abzapfen lassen, ehe mir der große Wurf gelang! Wenn ich nichts weiter verriete als daß humanitäre Vereine, denen ich die Erträgnisse von Vorlesungen gewidmet habe, deren Inhalt doch ein Aufruf gegen die Schmach war, sich geweigert haben, ihren Namen unter einen Protest zu setzen, so hätte ich genug gesagt. Sie haben sich gefürchtet; nicht nur vor unserem Fäderneslandet sondern, weil's doch Zustimmung zu meinem Protest war, vor der gesamten bürgerlichen Presse. Diese selbst hielt sich zwei Nichtgenannte, bis der eine dem andern den Laufpaß gab, und nichts dürfte den Unterschied von Stockholm besser bezeichnen als die Tatsache, daß das führende Blatt zum erstenmal den Namen Bekessy genannt hat – den Namen des Menschen, gegen den der Stockholmer Herr Dahlin vielleicht ein Kulturträger ist –, als es ihn mit einem »Exit« versehen und jubelnd melden konnte: »Wien von einem der übelsten Gesellen befreit!« Aber es gibt, Aber es gibt im weiteren Verlauf etwas, das den Unterschied noch greller beleuchtet und die Vorstellung schwierig macht, daß diese beiden Städte mit so grundverschiedener Moral sich auf der Karte desselben Erdteils finden. Man scheint sich noch nicht dessen bewußt geworden zu sein, zu welchem Resultat, über die Vertreibung des Geschäftsführers hinaus, mein undankbares Bemühen eigentlich geführt hat. Denn in Wien ist nicht wie in Stockholm – wo es sich vielleicht nicht einmal um ein System der Erpressung, nur um den Skandal l'art pour l'art gehandelt hat – die Ausrottung erfolgt, sondern bloß eine Reform an Haupt und Gliedern, indem das Haupt abhanden kam und die Glieder, lahmgelegt wurden. Die Erpressung ist eingestellt und die Frechheit gebändigt, und dieses beträchtliche Ergebnis verdankt man nicht einem Volksaufstand, sondern dem kriminalistisch-publizistischen Kampf eines »einzelnen Schriftstellers« und seiner wenigen Helfer, unter denen er nicht nur seinen Rechtsanwalt, sondern auch den Staatsanwalt ansprechen muß, den er zwar nicht kennt, aber anerkennt als einen der wenigen Menschen in diesem Staate, die Mut gezeigt haben. Der phantastische Unterschied von Stockholm liegt nun darin, daß die ausgeputzte Kloake fortbesteht, und zwar aus dem Grund, weil sie nach wie vor ein Geschäft bedeutet, indem sie unter bürgerlicheren Umständen und in sordinärer Tonart an ihrer ehrlosen Vergangenheit schmarotzt. Hier vollzieht sich ein Doppelunikum, selbst in der Geschichte des Journalismus unerhört und eben nur in Wien möglich. Wenn Zeitungen den Besitzer wechseln, so genießen die Leute, die sie schreiben, gesetzlichen Schutz gegen die Zumutung, unter veränderter Gesinnungsflagge zu dienen, eine Wohltat, von der sie freilich nicht allzu oft Gebrauch machen. Hier wurde der krasseste Gesinnungswechsel vollzogen: die Angestellten der ›Stunde‹ haben eingewilligt, anständige Sachen zu schreiben! Sie halten sich zwar nicht ganz an den Pakt, aber der Eindruck ist doch, daß sie sich prostituiert haben. Vorbei die schönen Zeiten der Freiheit, wo, was immer man schrieb, den Erpressungen des Chefs zugute kam, jetzt heißt es, solid sein und ein normales Schundblatt machen. Und hier setzt der Betrug ein, durch den auch die Haltung der Leserschaft zum Unikum wird. Es stellt sich nämlich heraus, daß sie die wesentliche Veränderung, ohne die die neuen Unternehmer sich doch nicht herangewagt hätten, gar nicht merkt. Beispielhaft weist es sich, daß der journalistische Betrug schon im graphischen Bild vollzogen ist, welches, einmal in der niedrigsten aller Vorstellungen befestigt, auch den ganz andern Inhalt an den Mann bringt. Wenn die Neue Freie Presse in hakenkreuzlerischen Besitz überginge, der älteste Abonnent ließe sich in der Morgenandacht des Leitartikels noch lange nicht stören, und so wenig wie das Leibblatt kann auch das Unterleibblatt sein Publikum enttäuschen. Die Identität des anrüchigen Namens, das vertraute Geflirr der Titel und Lettern, die gewohnte Willinger-Front, da und dort eine Schmockerei, etwas Privatleben und etwas Unbildung – das reicht hin, um die alte Lust aufzustacheln. Die Leute kaufen nach wie vor die ›Stunde‹, in der Hoffnung, eine große Gemeinheit zu erfahren, das Druckbild deckt die Chimäre, und tritt Ernüchterung ein, so lockt es am nächsten Tag von neuem, indem der Mensch noch am Grabe die Hoffnung aufpflanzt, in der ›Stunde‹ einen Skandal zu finden. Und schließlich erscheinen ja auch gelegentlich die Photographien von goldenen Hochzeitern, die sich scheiden lassen. Aber es ist vielleicht die wienerischeste aller Tatsachen, daß sie an dem Tag erscheinen, an dem als der endlich gefundene Chefredakteur ein Mann seinen Dienst antritt, der bis dahin ein kompletter Christ, Hofrat und Direktor der Amtlichen Nachrichtenstelle war. Zwanzig Federhelden, Rittersmann oder Knapp, haben es nicht gewagt, in diesen Schlund zu tauchen; er übernimmt die Aufgabe, das Publikum auf solider Basis mit dem Schein der Bekessy-Herrlichkeit hineinzulegen, in der Stunde, wo ihm der Mann, der die Seelen saniert, ein Ehrenzeichen der Republik um den Hals gehängt hat. Ob in Stockholm wohl die Razzia so ausgegangen wäre, daß ein Regierungsbeamter sich entschließt, Fäderneslandet mit leichten Konzessionen an die Schweinerei, gestützt die Assoziationen an eine große Vergangenheit, auf die Beine eines reellen Inseratengeschäfts zu bringen? Nein, unsere Verbindung mit Schweden, wesentlich durch Begriffe wie »Nordisch-österreichische Bank« hergestellt, drückt sich etwa in der Möglichkeit aus, daß hier anwesende Stockholmer als Fremde, die sie sind, vor ein kosmetisches Geschäft geführt werden und daselbst »das vierfache schwedische ›Hurrah‹ auf ›Farina Gegenüber‹«,ausbringen müssen, wofür die Zeitungen die achtfache Zeilentaxe nehmen.

Mit solchem Kölnischwasser wird man schon den andern Geruch nicht merken! Aber er ist nun einmal die Eigenart Wiens, die sich in ihrem Lied eitler betont als die meine in dem meinen; und nach allem, was ich nun und schon vorher erlebt habe, weiß ich noch immer nicht, ob sie mehr darin liegt, daß hier alles möglich ist oder daß hier nichts unmöglich macht. Ich weiß aber auch nicht, ob in Stockholm Funktionäre weiter wirken könnten, die durch Duldung oder Förderung geholfen haben, die Schmach des Landes zu verlängern. Ich weiß nicht, ob ich dort in meinem unerläßlichen Kleinkampf gegen die Wanzenplage genötigt gewesen wäre, den Preßrichter wegen Befangenheit zugunsten von Fäderneslandet abzulehnen. Ich weiß nicht, ob der dortige Polizeipräsident noch weiter die Sicherheit der Bevölkerung verbürgen könnte, wenn es ihm nicht nur nicht gelungen wäre, der Wirksamkeit des Erpressers Einhalt zu tun, sondern wenn auch – im Rücken einer moralischen Zuversicht – dessen Rehabilitierung in die Wege geleitet hätte, zum Unheil für die Stadt und zur Enttäuschung jener, die für deren Ehre gekämpft haben. Ich glaube, er würde dort auf der Stelle Bundeskanzler werden. Aber hier überdauert alle Würde selbst ihre Verbindung mit den markiertesten Vertretern der Nachkriegssünde, und die Korruption ist so sehr ein geistiges Lebenselement geworden, daß sich als wirtschaftlicher Mißstand von selbst versteht. Nur der Protest dagegen ist ein Fall von Inkompatibilität mit den Landessitten, und man vermißt förmlich, als eine eingelebte Genrefigur wie den alten Drahrer, den Finanzminister, der heimlich Parteibanken subventioniert hat und öffentlich besoff en war. Sich über nichts zu wundern, ist der tägliche Ertrag aus dem Zeitungsgebrüll, das mit Mord und Verleumdung das Ohr erfüllt und morgen eine Lynchjustiz über jeden von uns aufrichten wird, wenn es Freibeutern beliebt, sich auf diese Art Beachtung zu sichern. So wollen es die Leser und es bleiben immer genug, die es noch nicht selbst getroffen hat. Sittliche Empörung ist ihnen, wenn's hoch kommt, Sensation wie die Schande selbst. Ich glaube, daß hier aller doktrinäre Streit über Diktatur oder Demokratie, im luftleeren Raum spielt, daß sich in dem der Realität hart die Charaktere stoßen, und daß der ganze Bereich unserer Öffentlichkeit, Handeln und Meinen, seit jener abgekrachten Glorie beherrscht wird von der Diktatur der Lumperei! Sie ist keinem Parlament verantwortlich, sie kann Krieg beginnen, wenn's ihr beliebt, denn sie lenkt alle Vorstellung durch das gedruckte Wort und führt das dunkle Wir im Schilde. Wohl dem, der eitel genug ist, ohne ihre Gunst zu leben, und vor dem: Wir sind wir, nein, dem hoffnungsloseren Mir san mir nichts zu retten hat als sein Ich!


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