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Mein Vorurteil gegen Piscator

Als ich im Ausgang eines glorreichen Sommers, am Ende glutvollsten Kampfes durch den Winter unsres Mißvergnügens, für ein paar Tage an die Ostsee reiste, schien es mir schon nicht mehr darauf anzukommen, in Berlin, wo man mir zur Vertreibung des Bekessy gratulierte, ins Theater zu gehen. Ich sah leider keinen Richard III. in Jeßners Gestalt, so lahm und ungeziemend, daß Hunde bellen, hinkt er wo vorbei; doch immerhin eines der Possenspiele des Herrn Bernhard Shaw in einer unterprovinzialen Vorstellung und – gleichfalls bei Reinhardt, der jetzt für gemeinnützig erklärt wurde – eine noch kläglichere Pippa, und ich hatte das Glück, das wahre Zeitgesicht des Theaters, geformt an der schamlosesten aller Schieberwelten, zu erfassen, indem ich der »Premiere« der »Räuber« im Staatstheater beiwohnte. Es war tatsächlich die Uraufführung eines noch unveröffentlichten Manuskripts. Was sich da auf einer in die ebene Erde und den ersten Stock geteilten Szene wie im Zuschauerraum und dann im Ineinanderfluten der Stimmungsströme abgespielt oder vielmehr getan hat – denn es war lebendigste Aktion der Gegenwart –, das zu beschreiben traute ich damals meiner Prosa nicht zu, und so griff ich denn zur Aushilfe der Verse »Berliner Theater«, die bald darauf in der Fackel erscheinen sollten. Ergänzend möchte ich nun heute berichten, daß alle Vorstellungen, die ich bis dahin von dem preußischen Drill hatte, der in der Republik die Sklaven in Freigelassene verwandelt, von dieser einen Vorstellung übertroffen wurden, daß ein gewisses sizilianisches Temperament, das die Regisseure aus den Berliner Komparsen herausarbeiten, seine ansteckende Wirkung auch auf die im Parterre versammelten Kaufleute nicht verfehlte und ein Gesamteindruck entstand, als ob ein solches Volk nicht untergehen könnte. Piscator heißt der Mann, der es vermochte, und hinreißend wie er ist, wäre er imstande, die Reste, die Ludendorff übrig gelassen hat, zum Gehorsam zu konzentrieren, wenn wieder mal die Welt voll Teufel wär. Und zwar mit nichts anderm als dem Zauber der Sirenen, in deren Begleitung sich der Klamauk der herbeiströmenden Räuber vollzieht und deren langgezogene Töne wie das Sausen der Peitsche klingen, mit der diese armen Teufel abgerichtet wurden, bis daß es ihnen gelingen mußte, dem Berliner Publikum einen Freiheitsrausch beizubringen. Denn es handelt sich diesmal um die Bereitschaft, immer feste druff für Trotzki zu gehen, der als Spiegelberg im schmierigen Cutaway eines Romanischen Kaffee-Tinterls auf der Szene steht, mit der Oberhand redend, die er über die wurschtigen Angelegenheiten der Familie Moor behält. Wie aber noch über seiner Weltanschauung die des Schufterle triumphiert, trat am lebendigsten in der Stelle hervor, wo dieser unter dreiundachtzig Toten den Säugling begrinst: »Armes Tierchen, sagt' ich, du verfrierst ja hier, und warf's in die Flamme«. Schiller nun denkt sich das so, daß auf dem Hintergrund der Scheußlichkeit, die nur den Folienwert hat, umso reiner die Sinnesart des edlen Räubers erstrahle: »Wirklich, Schufterle? Und diese Flamme brenne in deinem Busen, bis die Ewigkeit grau wird!« Er verjagt das Ungeheuer, warnt die Murrenden, die seinem Grimm reif sind, kennt seinen Spiegelberg und will nächstens unter sie treten und fürchterlich Musterung halten. Aber Piscator lenkt anders: Schufterles Ruhmestat findet lebhaften Anklang bei der Bande, unter der der edle Räuber, als ein stiller Mißvergnügter dastehend, sich sein Teil denken, aber nicht aussprechen darf. Fürchterlich hat nur Piscator Musterung gehalten und kaum ein Zitat für unabkömmlich erklärt. Da Spiegelberg der bessere Räuber ist, so hat Moors Register zwar »ein Loch«, aber die Worte »Du hast das Gift weggelassen!« rief ich halblaut von meinem Sitz dem Darsteller zu, was mich bei den Nachbarn in den Verdacht konterrevolutionärer Gesinnung brachte und mir ein »Nanu?« zuzog, denn sie vermißten kein Loch im Register. Piscator nun, von dessen Kraft, die Essenz des Klassischen ins Zeitdokumentarische zu ballen, im Zwischenakt Wunderdinge umliefen, bestätigte diesen Ruf insbesondere dadurch, daß er die noch übriggelassenen Zitate im Vertrauen darauf, daß man sie ohnedies schon kennt, nur andeuten ließ, etwa so, daß er die Frage: »Bist du's, Hermann, mein Rabe?« auf die schlichtere Formel reduzierte: »Bist du's, Hermann?«. Dagegen war die andere bekannte Frage: »Franz heißt die Kanaille?« zur Gänze stehen geblieben und mit ihr wohl weit und breit das einzige Zitat. Bis zum Schluß, wo dem Mann, der elf lebendige Kinder hat, keineswegs geholfen werden konnte, da Karl Moor, ihm die tausend Louisdor mißgönnend, sich selbst justifizierte. Man täte jedoch unrecht, wenn man Piscator der Stilwidrigkeit für fähig hielte, das Stück wenigstens mit dem Zitat beginnen zu lassen, das durch anderthalb Jahrhunderte dem Hörer die Vergewisserung geboten hat, daß die Vorstellung nicht abgeändert sei, mit der Frage: »Aber ist Euch auch wohl, Vater? Ihr seht so blaß«. Diese Erkundigung, hinter der Piscator eine Unwahrhaftigkeit vermuten mochte, wäre schon darum nicht am Platz gewesen, weil der alte Moor, ein etwas poltriger Herr in rüstiger Manneskraft (der dann einem rabenlosen Alter entgegenstürmt) auf die trockene Meldung, die nunmehr das Stück eröffnet: »Die Post ist angekommen«, den Brief dem Sohne forsch entreißen will, weshalb denn auch dieser das gleißnerische Zögern: »Aber ich fürchte – ich weiß nicht – ob ich – Eurer Gesundheit?« nicht nötig hat und im Gegenteil geradeheraus bemerkt: »Aber ich fürchte eure Gesundheit!« Man kann nun weit davon entfernt sein, das gedankliche Gewicht oder den sprachlichen Wert gerade der Stellen zu überschätzen, durch deren Ausrupfung ein Pfleger der Zeitebene dem Schiller auf berlinisch zeigen wollte, was 'ne Harke ist. Aber mittelbar sind sie doch ein Kulturbesitz, errungen dem Bewußtsein der Welt durch die säkulare Macht schauspielerischer Vertretung, und für alle Nachwelt das moralische Gut eines schutzlosen Autors. Die Büberei, die, um eine Gegend als Tummelplatz zu gebrauchen, vorweg die Kohlweißlinge kaputt machte, weil sie zu Unrecht Flügel haben, der Pädagogik unbekannt, tritt zum erstenmal als dramatisches Talent in Erscheinung. Aber wie hat dieser Piscator nicht auch sonst gewüstet, um den Stoffrest eines libertinischen Handels als »Zeitdokument« aufzumachen, als wäre es nicht einfacher gewesen, dergleichen statt von Schiller von Toller zu beziehen. Gegen die Art, wie Piscator Schillers Figuren handeln und reden ließ, gibt es keine autorrechtliche Remedur, und während die Berliner Polizei wohl gegen die Bepissung des Schiller-Denkmals einschreiten würde, wird die Übertünchung des von ihm selbst geschaffenen Bildes mit staatlichen Mitteln subventioniert. Wie Piscator aber seine Leute sprechen ließ – sofern dem Kadaver einer Handlung noch Sprache blieb, sofern man sie in dem Gejohle der Massen vernehmen konnte und bei der Gleichzeitigkeit wie Verteilung der Gespräche auf Etagen überhaupt irgendetwas unterschied –, das vermöchte ich besser auf dem eigenen, wenngleich ungestuften Podium wiederzugeben als mit der Feder. Man würde dann finden, daß zwischen Karl und Franz Moor insofern kein wesentlicher Gegensatz bestand, als sowohl die Raserei des einen: »Menschen – Menschen! falsche, heuchlerische Krokodilbrut« (bis zu »jeder Faser«, die sich wohl aufrecken durfte, aber nicht »zu Grimm und Verderben«) wie die apokalyptische Vision des andern die Grenzen einer sachlichen Auseinandersetzung nicht überschritt, obschon vielleicht eine gewisse Gereiztheit nicht zu verkennen war. »Küsse auf den Lippen, Schwerter im Busen«: so sind eben die Leute; Bosheit hat er dulden gelernt, kann dazu lächeln wenn u. s. w., aber wenn Vaterliebe zur Megäre wird – nee, nich zu machen. Und dort, wo Gnade, Gnade jedem Sünder der Erde und des Abgrunds, du allein (ausgerechnet) verworfen bist – dort verstand man zum erstenmal die Frage an den Diener »Nun, warum lachst du nicht?« und zum erstenmal nicht seine Antwort »Kann ich lachen, wenn mir die Haut schaudert?«. Sie mochte ihm höchstens schaudern vor einem jüngsten Gericht, dem ein Assessor vorsaß, denn dieser Daniel, den richtiggehend zu machen dem Regisseur mißlungen war, schien das einzige Überbleibsel aus einer alten Aufführung. Sonst klappte alles tadellos, und soweit der Dialog nicht im Taumel der ordnungsmäßig entfesselten Komparserie unterging, schnurrte er im Rhythmus einer leichten Dielen-Konversation ab, so in der Art, wie die Losen, die in jener Gegend unaufhörlich »huch!« machen, gickernd und glucksend einander die Todesart vorschlagen: »Ich werfe dich mit blauem Puder tot!« Auf der Berliner Szene ist ja längst ein hermaphroditischer Tonfall vorgeschrieben, der den Hörer bei geschlossenen Augen in Zweifel läßt, ob jetzt der Romeo oder die Julia spricht, was er freilich auch mit dem Operngucker schwer unterscheiden könnte. In jener Gegend, wo alles Geschlechtsleben sein Pathos verloren hat, ist sogar die Homosexualität zur Charge entartet und das neue Theater erscheint durchaus als der Abdruck der minaudierenden Gestalt, die den Lebenston angibt. Piscator gelingt solch anheimelnde Wirkung selbst mit den »Räubern« und man glaubt, außer dem Lärm, der nebst der herrschenden Dunkelheit von jeder Geschlechtsbestimmung ablenkt, nur die Stimme des Drillmeisters zu hören, der mittleren Theaterleuten, welche gern etwas »hingelegt« hätten, das einzige Glück ihrer Unpersönlichkeit, das bißchen Pathos abkommandiert und dafür »Atmosphäre« auferlegt. Es entsteht da akustisch ein ähnlicher Eindruck wie bei dem Satzbild des Panegyrikers dieser neuen Theaterwelt, bei den Kokolores des Alfred Kerr, der schon in der Zeit, als er sich in Breslau und Königsberg fließend ausdrücken konnte, in Berlin seine kritischen Fürze numeriert hat. So sind denn diese Berliner Theaterleute – die zur Not das wären, was sie nach Vorschrift verabscheuen: »epigonisch« und mittelmäßige Deklamatoren, und sich als solche wohl fühlen würden – durch die Bank »Zeitschauspieler« geworden, wozu nichts als das Kommando nötig war, die noch stehen gebliebenen Sätze in klassischen Werken, die der preußische Geist nach der »Fetzen-Papier«-Doktrin behandelt, auch noch zu zerhacken und den Hauptsinn tonmäßig an der letzten Nebensilbe aufzuhängen. Diese Prozedur wird durch das Zauberwort »Tempo!« bewirkt, und wie Piscator seine Leute durch die von ihm hergestellte Textwüste einherjagte, das bot in seiner Art wirklich das imposante Bild jener zeitgemäßen Zweckhaftigkeit ohne Zweck, die aus dem Hohlraum alles herauspumpt, was nicht vorhanden ist, zwischen keinem Ursprung und keinem Ziel sich Bewegung macht und nichts Fixes kennt außer der Idee, daß eben dies der Fortschritt sei. Im Durch- und Gegeneinander der Stile vollzieht sich das Getümmel: als hätte sich die starre Form jenes subalternen Heldentums, das ein Greuel der wilhelminischen Ära war, dem verjährten naturalistischen Antrieb gehorchend, aufgelöst in Gallert, dessen quabbelnde Masse Leben vortäuscht. Dieses in die Bude zu bringen – das ist die Anstrengung der schweißtriefenden, schweißtreibenden Animierkunst, die sich Regie nennt. Daß es einst für Karl und Franz einen Matkowsky und einen Lewinsky, ja daß es überhaupt je eine Schauspielkunst gegeben hat, von welcher doch ein Echo an irgendeiner Kulisse haften müßte, läßt, was sich da oben abspielt, zunächst nicht einmal ahnen. Wird man plötzlich des Verlustes inne, dann hat man den Eindruck, daß auch dort ein Bewußtsein davon vorhanden sei, und die Tonfallsschnoddrigkeit, mit der sich das Elend tröstet, wirkt als der eigentliche Stil dieser Schauspielerei, bekräftigt von einem kritischen Neulingtum, das auch alles Elementare der Vorzeit als »epigonisch« abtut. Was in der frechen Willkür dieses Reformertums einzig als Zeitnotwendigkeit begründet erscheint, ist: nicht anders zu können, als das, was es nicht kann, zu verunehren. Nicht einmal fähig, das Mißgebilde ihrer selbst hervorzubringen, nicht wie Richard »die eigne Mißgestalt erörternd«, zieht diese neue Theaterkunst doch gleich ihm den Gewinn aus der Verkürzung und ist »gewillt, ein Bösewicht zu werden«: sich an dem Werk der Kultur durch Eselsohren und Krähenfüße schadlos zu halten. Daraus allein erklären sich diese umstürzenden Eingebungen, daß man über Sein oder Nichtsein monologisieren und sich dabei die Hosenträger anknöpfen kann oder daß eine Schar, die sich in den böhmischen Wäldern herumtreibt, Melonenhüte und orthozentrische Kneifer trägt, weil der Bürger sonst die Gefahr für entrückt hielte. Denn das verstehen sie unter »Herausschälung des Zeitgehalts«, »Transponierung ins Heutige«, unter »geschichtlich-politischer Erweiterung des Themas«, das ist ihnen der »grandiose Aufriß« oder wie die Redensarten sonst lauten, die in der kritischen Schnauze Platz haben. Wenn das Zeitbedürfnis schon im Totschlag der Formen befriedigt ist, dann freilich haben diese neuberlinischen Szenereien eine Vollkommenheit des Stils erreicht, die eine Weiterentwicklung nicht mehr zuläßt. Aber das Zeitgemäße an all dem ist nichts als dessen Möglichkeit, als die Wehrlosigkeit der im Geldbetrieb ramponierten Großstadtnerven gegenüber den Ersatzkünsten eines Theaters, mit dem die Literaten Schindluder spielen. Seitdem es aufgehört hat, auf den Beinen der schauspielerischen Persönlichkeit zu stehen, bedarf es der Prothesen, die ihm die »Regie« beistellt. Indem sie nun von keinem andern Gedanken ausgeht als wie sie das, was sie nicht machen kann, anders machen könnte, darf sie des Zulaufs einer Schicht sicher sein, deren Leben sich nicht unmittelbarer mit der Natur verbindet. Darum ist Piscator der Schöpfer nach dem Anspruch der Zeit, welche freilich in jener Zone mit der besonderen Frechheit aufbegehrt, die etwa die »Pandora« aus dem Grunde ablehnen würde, weil da nichts »Heutiges« herausschaut. Denn dieser auftrumpfende Flachsinn macht ja nicht nur ein Geschäft damit, sondern auch eine Doktrin daraus, den Zeitwert des Kunstwerks in seiner Eignung zu erkennen, sich von der Kommishand, die danach greift, »aktualisieren« zu lassen. An den »Räubern«, zu deren Schutz immerhin kulturelle Pietät dem Gelüste zu wehren hätte, ist eine Arbeit verrichtet worden, die dem Erneuerer weniger den Vorwurf einträgt, daß er Schiller verkürzt als daß er dessen Namen stehen gelassen hat: keinem Hörer wäre es eingefallen, ein Plagiat zu vermuten. Unter den vielen Umständen, die eine Identifizierung mit irgendeiner Fassung seit der Mannheimischen unmöglich machten, war das Fehlen des Kosinsky bemerkenswert, dessen Motiv, sich der Bande anzuschließen, Piscator offenbar nicht für politisch einwandfrei gehalten hat. Der Bastard von einem Edelmann dagegen – aus dem Dunkel der Erinnerung tritt die edle Gestalt Roberts hervor – durfte mitspielen, freilich in der Erscheinung eines Berliner Budikers. Indes wäre es kleinlich, an den Trägern der Handlung mäkeln zu wollen, auf die es ja im entfesselten Theater überhaupt nicht ankommt und zu deren Individualisierung irgendeine Minderwertigkeit oder Abwegigkeit genügt. Der eigentlich revolutionäre, fast schon durch Tradition beglaubigte Gedanke dieser Regie beruht in der Ableitung alles darstellerischen Eigenlebens, soweit die Solisten noch dazu fähig wären, auf die Masse, die in allem bis auf die Gage als prominent anerkannt wird. In Stücken, wo sie nicht vorkommt, hilft man sich mit einem Apparat, es wird etwa ein Lift auf die Szene gebaut, der die Aufmerksamkeit vom Dialog abzulenken hat, was ihm unschwer gelingt, welchem Zweck jedoch die Masse noch besser, nämlich nicht nur durch Bewegung, sondern auch durch Lärm gerecht wird. Bei der akustischen wie optischen Entfaltung ihrer Fähigkeiten ist die erregende Wirkung in Anschlag gebracht, die der sogenannte Klamauk auf das Berliner Publikum unfehlbar ausübt, das, der Überredung durch eine heroische oder sentimentalische Aktion kaum mehr zugänglich, sofort gesammelt wird, wenn's auf der Bühne drunter und drüber geht – Donnerwetter, da tun se mit! Der Solist muß schon etwas sehr Apartes haben, um in Berlin beide Geschlechter, Päderasten wie Lesbierinnen, anzuziehen. (Solche Wirkung ist, tief unter dem Kulturkreis, wo das Moissige und das Bergnerhafte begehrt sind, selbst in den Niederungen des nationalen Kleinbürgertums feststellbar; unvergeßlich bleibt mir der Orkan, den in einer Rührszene der Ausruf entfesselte: »Ein Volk, das solche Mädels hat, kann nich untergehn!«, wobei das Mädel, von einem Klachel dargestellt, so hoch aufhüpfte, daß Elefantensäulen sichtbar wurden.) Was aber unbedingt fortreißt, ist das Unisono in dem Entschluß einer Masse, ihren Mann zu stellen und dem noch unerlösten Sklavengefühl in der andern Masse den Herrn zu zeigen. Diese Kunst des disziplinierten Chaos, von Reinhardt ersonnen, von Piscator mit einem Einschlag von russischer Massage ausgebaut und vertieft, überträgt den Aufstand von der Szene in den Zuschauerraum, die Peitsche, mit der jene die Komparsen aufgeregt haben, lassen diese das Publikum fühlen, und von der Orgie, die sich da abspielt, kann sich nur der eine Vorstellung machen, der sie mitgemacht und sich von dem vollwertigen Ersatz der alten Tierhetzen durch das neue Theater vergewissert hat. Wer es nicht sah und hörte, wie da durch einen Laufgraben die Räuber herbeiströmten, immer neue, von den schon angelangten korybantisch begrüßt – natürlich nicht, um als geschulter Räuberchor die Pflege des Männergesangs mit der Führung eines freien Lebens zu verbinden, sondern um sich als Jazzbande auszutoben –, wem nicht vor Hören und Sehen es verging, wie da Menschenleiber sich unter dem Geheul der Sirenen wanden und wie die Sensation des befreiten Roller, mit der Vernichtung des Textes teuer bezahlt, als große Station der Hetzjagd an die Stelle des Dramas trat, dem läßt es sich nicht glaubhaft machen. Dreimal aber bedauernswert der, der nicht erlebt hat, wie Berlin elementar wurde: wie, eine Reihe vor mir, eine Fettmasse, die mir zum Glück die Aussicht auf die Szene versperrte, der Stimme nach ein Weib, in Glut und Wallung, in den Zustand der wabernden Lohe geriet, sich nicht mehr halten konnte und, da immer mehr Räuber zuströmten und der Genuß immer größer wurde, mitten hinein einen süßschmerzlichen Schrei von sich gab, worin die Erlösung durch einen Gorilla tönte, und zwar so etwas wie: Püffkaatorh –! Und alle folgten sie nach, Männer und Weiber, der Bann war gebrochen, mitten mang ins Sirenische riefen sie, so lange bis der Vorhang fiel und der Zauberer, der es vermocht hatte, immer wieder vor ihm erscheinen mußte, während ich mich begnügte, die erste Silbe seines Namens, mit etwas schärferem s, hineinzumischen, was meine Lynchung nur durch den glücklichen Umstand nicht nach sich zog, daß man es eben für den Ruf »Piscator!« hielt. In der Pause, wo noch hin und wieder ein »Doll!« nachröchelte, saß alles tief erschöpft da und sie waren, soweit sie zu sich kommen konnten, teils der Meinung, daß es dynamisch, teils daß es dionysisch gewesen sei, wobei die Wahrheit wie immer in der Mitte lag, nämlich daß es dynamusisch war. Im zweiten Teil des Abends, wo kein Klamauk mehr den schon Übersättigten Schadenersatz für die dramatische Mißhandlung bot, die sie nun doch zu fühlen schienen, konnte ich, ungefährdet, wenngleich verstanden, durchdringen, von Intellektuellen bemerkt, die sich vergebens bemühten, noch dem kläglichen Entschluß des großen Räubers, sich selbst zu helfen, Ehre für Piscator abzugewinnen. Alles in allem kann ich sagen – aber vielleicht nur, weil ich Jeßners »Hamlet« und den »Faust« der Volksbühne nicht mitgemacht habe –: ein schmählicheres Bild vom Untergang des Theaters, ein aufreizenderes vom Übermut einer Libertinerbande, die das Vermögen der Gemeinschaft zur Aushöhnung ihrer kulturellen und nationalen Besitztümer verwendet, wäre nicht vorstellbar. Am nächsten Tag hatte dieser Piscator alle Vertreter der Berliner Urteilslosigkeit, selbst die beiden wichtiggenommenen Prot- und Antagonisten: Mosses Eintänzerich und den Theaterreferendar am Börsen-Courier, in der Ansicht geeinigt, daß die deutsche Bühne seit dem Wendepunkt, da der Regisseur die Hauptrolle übernahm, keine größere Ehre aufgehoben hat. Und anstatt daß die deutsche Demokratie den Herrn Jeßner darauf beschränkte, seine Anschauung des Theaterwesens in einfältigen Aphorismen niederzulegen, und ein Gesetz machte, das den Denkmalschutz auch auf das Geisteswerk des Klassikers ausdehnt, entrüstet sie sich in Protesten, wenn eine Theaterleitung so verwogen war, das Geisteswerk Piscators zu entstellen. Berlin ist nämlich auch nach Schluß der Vorstellung in Aufruhr, weil jetzt Herr Piscator den historischen Kitsch eines zeitgenössischen Autors zu einem aktuellen Kitsch mit kommunistischem »Aufriß« gemacht hat und weil dies von seinen Auftraggebern beanstandet wurde. Ob die Berliner Volksbühne, die durch die Einbürgerung oder vielmehr Einproletarisierung des Unfugs das größere Verbrechen an den ihr anvertrauten Interessen begangen hat – und auch ein größeres als das Staatstheater –, sich durch eine nachträgliche Remedur entsühnt, und ob sie ein materielles Recht auf sie hat; ob der Beweggrund die Reue über ihre kulturelle Missetat war oder eine spießbürgerliche Regung; ob politische Feigheit oder ein Rest von kulturellem Gewissen den Schritt verantwortet – unter allen Umständen bleibt die Bändigung Piscators ein Gewinn. Der Entschluß jedoch, hier das Besitzrecht des Künstlers zu verteidigen, für Piscator gegen die Antastung schöpferischer Werte zu protestieren, bleibt ein Einfall, der nur der Humorlosigkeit dieses fortschrittlichen Literatentums entstammen konnte, das immer auf die falsche Parole marschiert, die irgendein Schwätzer der Freiheit ausgibt, und an dessen Spitze immer wie ein Mann die beiden Brüder stehen. Sie bezeichnen ihren Piscator als den »lebendigsten und zukunftsreichsten Künstler und Kämpfer«, und jener Ihering, der in den verkannten Fußstapfen seines Vorfahren den Kampf ums Unrecht sekundiert, findet den Schritt der Volksbühne »beinahe noch grotesker, als wenn das Kultusministerium nach einer Premiere des Staatstheaters öffentlich gegen Jeßner Stellung nehmen würde«. Aber eben diese Groteske, in Form der Abdankung, ist nach den »Räubern« wie dem »Hamlet« das Kultusministerium dem Kulturgefühl schuldig geblieben, so daß es leider der nationalen Reaktion überlassen war, die Schändung der Staatsbühne zu einem Politikum zu machen und Wind auf die liberale Mühle zu treiben. So sind auch jetzt wieder links und rechts die Mäuler aufgerissen, um für und gegen eine bolschewistische Propaganda der Szene zu schreien, wo es sich doch einzig und allein darum handeln könnte, der radikalen Denaturierung des Theaters durch den Literaturschwindel Einhalt zu gebieten. Wenn dem Bedürfnis des Herrn Ihering nach der Groteske nicht durch das Pathos genügt ist, mit dem die politische Freiheit für das künstlerische Unvermögen einsteht – nach jenem Gesetz der Serie, dem in Deutschland die Proteste der Intellektuellen seit 1914 gehorchen –, so hilft ihm vielleicht das Nachspiel, das der letzten Kundgebung gefolgt ist. Viel klarer als durch diese erscheint der Persönlichkeitswert, der in Piscator getroffen wurde, dargestellt durch eine »Kundgebung der Komparsen des Staatstheaters«, die ihm ihre wärmsten Sympathien aussprechen und sich »mit seinen Anschauungen und bahnbrechenden künstlerischen Bestrebungen durchaus solidarisch« erklären. Daß Komparsen nicht anders als solidarisch auftreten, ist nicht so überraschend wie das nämliche Gebaren bei Dichtern. Sie würden sich aber auch freuen,

bald Gelegenheit zu haben, im Staatstheater durch unsere Tätigkeit Ihre großen Ideen unter Ihrer Regie zu propagieren und weiterhin durchsetzen zu können.

»Folgen 36 Unterschriften«, wie ohne deren Anführung die Reklamenotiz schlicht bemerkt. Es sind ja keine Literaten, es sind die ruhmlosen Helfer einer großen Idee, und man erfährt, was für ein Werk es ist, das ohne Propagierung durch ihre Tätigkeit unerkannt, ungetan bliebe. Ja wohl: hier sind – wenn es erlaubt wäre, in Piscators Nähe ein Schillerzitat zu gebrauchen – die starken Wurzeln seiner Kraft, dort in der fremden Welt der Persönlichkeit steht er allein. Und nie zuvor dürften auch umgekehrt wieder Komparsen ähnliche Dankbarkeitsgefühle für einen Komparseriechef gehegt haben, denn ehedem gönnte ihnen ein solcher höchstens etwas Rhabarber als künstlerische Kost, um nicht von den wichtigeren Vorgängen der Aufführung abzulenken, während ihnen jetzt eben dies obliegt und sie zwar die Hetzpeitsche fühlen, aber sich dafür ausleben dürfen und künstlerisch so über sich empor und untereinandergebracht werden, daß sie alle zusammen einen Prominenten machen, der die andern glatt an die Wand spielt. Sie bestätigen nur, was nicht zu leugnen ist: ihren Löwenanteil an dem Erfolge, daß der Theaterbesuch wieder ein Erlebnis geworden ist. Die gerechte Anerkennung der Komparsen für Piscator mit der selbstbewußten Einschätzung der Hauptrolle, die er ihnen zugewiesen hat, ist ein Dokument, dem nichts an die Seite zu stellen wäre, um den Punkt zu bezeichnen, an dem die Entwicklung des Theaters angelangt ist. Daß es den Ernst der mit Namen unterzeichneten Kundgebungen sprengen könnte, ist von einer Zeitlichkeit nicht zu erwarten, der das »Tempo« allen Ersatz für Phantasie und Humor gewährt hat.

***

Ich glaube, meinem Urteil über Piscator und die Tatkraft, mit der er seine Mission im heutigen Geistesleben Deutschlands erfüllt, keine Ausdrucksmöglichkeit schuldig geblieben zu sein. Ich müßte denn hinzufügen, was ich unter dem unmittelbaren Eindruck der »Räuber«-Aufführung an Ort und Stelle als meine Ansicht geäußert habe: daß eine Nation, die in dem von ihr erhaltenen Theater solche Zurichtung ihres eigensten Dramatikers gewähren läßt, sich der Aufnahme in den Völkerbund unwürdig erwiesen hat, dessen Gemeinsamkeit doch nicht bloß in der Enthaltung vom Menschenmord, sondern auch in der Bewahrung einer geistigen Ehre beruht. Mit dem ganzen Aufgebot der Indignation, die den Vers macht, schrieb und sprach ich damals das Gedicht »Berliner Theater«, in dessen Vorwort ich kurz auf den Anlaß verwies, dem es seine Entstehung verdanke, auf den Eindruck, den mir jene »Räuber« »unter der Hand eines gewissen Piscator« hinterlassen hätten. Wie aber jedes Urteil sein Vorurteil hat, indem doch insbesondere meine publizistischen Äußerungen den Beweggrund der Ranküne an der Stirn tragen und einer nachtragenden Eitelkeit, die durch Mißerfolge in der Welt verkürzt und durch Abweisung verletzt wurde, so ist es auch hier der Fall. Schon längst wollte ich es freiwillig bekennen, da die Erscheinung Piscators doch nachgerade hinreichend Format gewonnen hat, um unsereinem auch ein bißchen Renommee abzuwerfen, wenn man sich einer früheren Beziehung rühmen darf. Diese zwar reizvolle, aber doch nicht wenig heikle Aufgabe – denn die Eitelkeit wäre ja auch verdächtig, zu renommieren – wird mir durch den Zufall erleichtert, der mich erfahren ließ, daß Piscator selbst für die Enthüllung meines Vorurteils tätig ist. Da es dreißig Jahre gebraucht hat, bis mein Kampf gegen den Journalismus sein Motiv des Hinauswurfs aus der Neuen Freien Presse verlor, so wäre immerhin zu befürchten, daß weitere dreißig Jahre vergehen könnten, bis meine Verabscheuung der Unkunst ihr Motiv einer persönlichen Kränkung durch Piscator einbüßte. Darum kommt mir ein Dokument gelegen, das es mir schon heute ermöglicht, den Verbreiter dieser Version beim Wort zu nehmen. In diesem Dokument, für dessen Zuverlässigkeit die Ehre der Gewährsmänner einsteht, wird geschildert, wie Piscator in einer Stadt, wo er als Regisseur gastierte – denn das gibt es jetzt –, nach einer Probe mit zwei Schauspielern ein Gespräch über Zeitungskritik und -kritiker führt. Man spricht über einen aus Berlin, dessen Eintreffen zur Premiere erwartet wird, über einen von der Gilde, die zu fürchten und vor der sich zu erniedrigen die armen Schauspieler durch keine soziale Sicherung bewahrt werden können.

Man spricht davon, daß gewisse Kritiker gegen gewisse Schauspieler eine durch keine Leistung zu zerstörende Aversion haben. Darauf sagte Piscator: »Was wollense – überhaupt Kritiker! Da hat jetzt der Kraus in der letzten Fackel über mich verächtlich geschrieben: Ein jewisser Piscator.« Antwort: »Das gehört doch nicht in diesen Zusammenhang; Kraus ist doch in dem Sinn kein ›Kritiker‹!« Piscator: »Wieso nich? Und wissense, warum das Janze is? Weil ich ihn mal bei einer Veranstaltung von der Berliner Künstlerhilfe ersucht habe, mitzuwirken. Darauf hat er abgelehnt und hat mich aufmerksam gemacht, daß man seinen Namen nicht mit zwei s, sondern mit einem s schreibt. Darauf habe ich ihm einen Brief jeschrieben mit der Anrede: ›Verehrter Herr Krause‹, und seit der Zeit hat er ein Vorurteil gegen mich.«

Interessant, und inzwischen gewiß in den literarischen Kreisen Deutschlands zur gültigen und bündigen Erklärung geworden für eine Aversion, die doch unmöglich anders zu erklären wäre. Es kann auch nicht bestritten werden, daß etwas dran ist. Die verweigerte Mitwirkung und das abgelehnte s kann ich nicht leugnen. Was freilich die Feststellung Piscators betrifft, daß er mir einen Brief mit der Anrede »Verehrter Herr Krause« jeschrieben hat, so ist sie eine Lüge. Piscator war kein Vorkämpfer der Stundenbüberei, wiewohl die Motivierung meines Kampfes aus der verletzten Eitelkeit schon einen verwandten Zug aufweist, aber auch die bekämpfte Leistung – ein szenisches Weltbild, das die Erneuerung des Libertinertums im Triumph des Schufterle vorführt – nicht zu weit von jenem Kaliber entfernt sein mag. Wie immer, wird auch hier im Zusammentreffen mit mir die Einheit der Persönlichkeit offenbar und die Anfechtung meines Urteils zur Bestätigung. Hätte ich nun einen Brief mit jener Aufschrift erhalten, er wäre nicht unbeantwortet, nicht unveröffentlicht geblieben, denn er hätte als überraschende Wendung der Devotion, deren sich der Schreiber bis dahin befliß, die Unanständigkeit, für die er sich damals entschuldigen mußte, beträchtlicher gemacht und es wichtig erscheinen lassen, der Öffentlichkeit zu zeigen, welcher Sorte die »Künstlerhilfe« für die hungernden Russen anvertraut war. Wenn Piscator einen Brief geschrieben hat, der nicht eingetroffen ist, so müßte er es durch Vorweisung einer Kopie oder durch Eid beweisen. Bis dahin beschuldigt er sich zu Unrecht einer Büberei. Aber selbst wenn er den Beweis für diese erbringen könnte, wäre, da ich bis zum Erscheinen jener Verse in Unkenntnis von ihr war, mein Vorurteil gegen ihn bloß auf die Tatsache zurückzuführen, daß er meinen Namen mit zwei s geschrieben hat. Sie würde zur Bildung eines so starken Vorurteils kaum ausreichend befunden werden, wiewohl ich nicht leugnen möchte, daß diese Nuance im Zusammenhang mit dem Fall selbst, der den Inhalt des Briefwechsels gebildet hat, immerhin geeignet war, es anzuregen und die Figur Piscators als die eines Aufmachers zu betrachten, der auf Grund einer Beziehung, die ihn nicht einmal den Namen eines Schriftstellers zu schreiben befähigt, über diesen verfügen zu können glaubt. Das wird durch den Briefwechsel klar werden und jedermanns Urteil über seine »Räuber« in mein Vorurteil gegen Piscator zurückverwandeln. Dieses reicht sogar auf seinen eigenen Namen zurück, der mir als ganzer nicht richtig geschrieben schien, und auf das imposante Geschäftspapier, dessen er sich für die hungernden Russen bediente, auf dem alles was zum Betrieb gehört da war, also nicht so wie bei arme Leute. Ich war, wiewohl mir der Begriff einer »Künstlerhilfe« für die Hungernden in Rußland immer etwas problematisch vorkam, jedenfalls in Wien der einzige Künstler, der die sonderbare Parole in dem aktiven Sinn befolgt hat, in dem sie gemeint war, da ich den vollen Ertrag etlicher Vorträge dem guten Zweck zuwandte, ohne auch nur ein Quentchen der Reklame zu beanspruchen, mit der anderen Künstlern geholfen wurde, als der Versuch mißlang, durch sie den hungernden Russen zu helfen. Wenn ich nicht irre, hat sich später die Erkenntnis, daß die Künstler zur Hilfe nicht imstande seien, dem natürlichen Wortsinn solchen Passivums anbequemt und im Vertrauen auf die größere Bereitschaft der Bourgeoisie, den Künstlern zu helfen als den Russen, eine Unterstützungsaktion für jene auch im materiellen Begriffe herausgebildet. Als dies aber noch nicht der Fall war, hat mir die »Österreichische Künstlerhilfe für die Hungernden in Rußland« – siehe Nr. 595-600 – für die »großzügige, ununterbrochene Unterstützung in- und außerhalb der Grenzen Deutschösterreichs« gedankt und erklärt, daß sie durch diese »den bisher größten Beitrag erhalten« habe. Es würde Herrn Piscator eher gelingen, meine Aversion gegen ihn als meine Ablehnung eines Anteils an der Hilfe für die Russen mit der falschen Schreibung meines Namens in Zusammenhang zu bringen. Worum er mich ersucht hat, hätte ich ihm auch bei richtiger Schreibung verweigert. Es stand mir nicht zu, es zu gewähren, und er hat meinen Namen noch ganz anders mißbraucht. Vom 25. Oktober 1921 war das folgende Telegramm datiert:

Karl Krauss im Verlag Fackel Wien

Beabsichtigen Staatstheater unter Mitwirkung erstklassigster Künstler Dostojewskifeier Fragen an ob Sie gewillt sind einleitendes Referat zu übernehmen Künstlerhilfe für die Hungernden in Rußland Wilhelmstr. 37/38 Berlin

Darauf wurde telegraphisch mit dem Bedauern geantwortet, daß dies nicht möglich sei. Einer Begründung der Absage schien es insofern nicht zu bedürfen, als es doch Kunstleuten verständlich sein mußte, daß ich einem Wunsch von außen, einem gesetzten guten Zweck wohl als Vorleser, aber nicht als Schriftsteller dienen, daß ich für Notleidende aus Nestroy lesen, aber nicht über Dostojewski schreiben könnte. Vom 17. November war nun das Folgende datiert:

Dostojewskifeier auf 27. verschoben. Bitte unbedingt Vortrag zu übernehmen Künstlerhilfe

Es wurde telegraphisch geantwortet, daß dies leider ganz unmöglich sei. Mit dieser Antwort kreuzte sich wohl das folgende vom 19. November datierte Telegramm:

Druck des Plakates nicht aufschiebbar darum Mitwirkung eingesetzt rechnen bestimmt mit Eintreffen Thema Dostojewski Unkosten werden ersetzt Künstlerhilfe Berlin Wilhelmstr. 37/38

Mein Vorurteil gegen Piscator kann, da sein Name mir verborgen war, damals noch nicht entstanden sein, wohl aber der Eindruck von einem Managertum, das, vielleicht mit der Entschuldigung des guten Zwecks, die schlechtesten Praktiken des Konzertmarktes überbietet. Es wurde telegraphisch geantwortet, daß die Ablehnung vor dem Plakatdruck erfolgt sei und eine Berichtigung erwartet werde. Darauf traf ein Schreiben ein, datiert vom 25. November, worin die Weisung, daß »sämtliche Zuschriften an Erwin Piscator persönlich zu adressieren sind«, zum erstenmal und balkendick mit diesem Eigennamen vertraut machte:

Herrn Karl Krauss

Sehr geehrter Herr Krauss,
wir bitten vielmals um Entschuldigung, daß wir etwas voreilig gehandelt haben. Aber wir bitten Sie, nicht zu vergessen, daß die Schwierigkeiten, unter denen wir die Mitwirkenden für eine derartige Veranstaltung sammeln müssen, derartig groß sind und bis zur letzten Minute ungewiß, daß wir mit dem Druck des Plakates, das acht Tage vorher hängen sollte, nicht länger warten konnten. Im übrigen hofften wir, da Sie Ihre Mitwirkung mit eigenem Bedauern für den 13. abgelehnt hatten, diese vielleicht für den 27. in Frage käme. Wir bedauern herzlichst, daß auch dieses nicht der Fall ist und dürfen vielleicht den Wunsch aussprechen, da Sie doch in den Dezembertagen hier sind (Anm.: Es waren Berliner Vorlesungen angekündigt), für uns in irgend einer Weise tätig zu sein. Eine Richtigstellung ist bereits in die Presse gegangen und ebenso wird das Plakat geändert.

Wir hoffen, daß dieser bedauerliche Vorfall kein Ärgernis bei Ihnen zurückläßt und zeichnen

mit hochachtungsvollem Gruß
Künstlerhilfe
Erwin Piscator
für die Hungernden in Rußland

Diese Hoffnung war trügerisch, die Persönlichkeit Piscator nun zum erstenmal in Erscheinung getreten. Daß es ein Schriftsteller sei, entnahm ich aus den »derartig« großen und bis zur letzten Minute ungewissen Schwierigkeiten der Satzbildung, aus der stilistisch wie moralisch eigenen Konstruktion seiner Wünsche und Hoffnungen, wie aus der Rechtfertigung seines Vorgehens gegenüber der klaren Tatsache, daß ich mich nicht unter den von ihm gesammelten Erstklassigsten befinden wollte. Insbesondere aber die Unterschiebung eines Datums, auf das sich diese Weigerung bezogen hätte und das nie bekannt gegeben war, erforderte die folgende Antwort des Verlags der Fackel vom 29. November:

Auf Ihre w. Zuschrift teilen wir Ihnen mit, daß es völlig unrichtig ist, daß wir die Mitwirkung des Herrn Karl Kraus »mit eigenem Bedauern für den 13. abgelehnt« hätten. Richtig ist vielmehr, daß wir, ohne uns auf irgendeinen Termin zu beziehen, bedauernd abgelehnt haben. Sie waren also unter gar keinen Umständen berechtigt, seinen Namen auf ein Plakat zu setzen. Dazu kommt noch, daß Ihre freundliche Meinung, gerade Herr Karl Kraus sei berufen, einen Vortrag über Dostojewski zu halten, sich schwer genug mit dem Umstand vereinbaren läßt, daß Sie – wie aus drei Telegrammen und einem Brief hervorgeht – nicht einmal wissen, wie sein Name geschrieben wird.

Darauf Piscator am 6. Dezember:

Sehr geehrte Herren, da wir Herrn Karl Kraus für den 13. Nov. gebeten hatten, konnte sich selbstverständlich seine Ablehnung zunächst einmal nur auf den 13. beziehen. Wir telegraphierten zum zweiten Mal am 17. Nov., erhielten Antwort erst am 19. spät abends. Da Plakatdruck inzwischen unaufschiebbar war und für den Vortrag ein Name genannt werden mußte, und wir uns gerade von dem Namen Karl Kraus auch eine große propagandistische Wirkung versprachen, sahen wir uns genötigt, ihn auf das Plakat zu setzen. Wir telegraphierten am 19. nachmittags nochmals in der Hoffnung, daß durch das Ausbleiben der Antwort eine Zusage vielleicht doch angenommen werden konnte.

Wir bitten nochmals um Verzeihung für diesen bedauerlichen Zwischenfall. Wenn ich auch »die freundliche Meinung« von der Berufung des Herrn Karl Kraus für einen Dostojewski-Vortrag hatte, so glaube ich doch nicht, daß die Stenotypistin über die Richtigschreibung des Namens so unbedingt Bescheid wissen mußte. Ich bitte ihretwegen um Verzeihung.

Hochachtungsvoll
Erwin Piscator

Auf dem Pferdemarkt dürften – nebst allen richtigeren Schreibungen – die Usancen doch andere als bei der Akquirierung für einen Dostojewski-Vortrag sein, zu dem man nicht nur berufen ist, weil man berufen wird, sondern der vorhanden ist, ehe es der Vortragende weiß, und in dessen Ankündigung dann nur der Name eingesetzt werden muß. Selbst wenn es wahr wäre, daß jener jemals »für den 13. Nov.« gebeten wurde, wäre es doch, sollte man meinen, außerhalb des literarischen Maklertums »selbstverständlich«, daß sich die Ablehnung nicht »zunächst einmal« auf das Datum des Vortrags, sondern durchaus auf diesen selbst bezogen hat. Darum war schon das zweite Telegramm ein Akt der Zudringlichkeit und das dritte nicht mehr der Ausdruck einer »Hoffnung«, daß »eine Zusage angenommen werden konnte«, sondern der Versuch einer Nötigung durch ein Fait accompli. Nur von einer solchen kann die Rede sein, nicht von der Notwendigkeit, den Namen aufs Plakat zu setzen, denn mit welchem Recht würde aus dem Nichteintreffen der Antwort auf ein am 18. zugestelltes Telegramm – also binnen eines Tages – die Zusage abgeleitet, die schon einmal verweigert wurde? Man mag es für das Verhängnis einer Menschennatur halten, daß sie dem Drang nicht wehren kann, dergleichen auch in dem Bereich einer durchlässigeren Gesittung festzustellen, aber »so bin ich einmal, meine liebe Mutter«, sagt die Mamsell Nitouche, und wie nötig solche Festlegungen sind, zeigt sich ja eben an einem Fall, wo nach Jahren ein entstellter Sachverhalt die Verdächtigung eines Kunsturteils ermöglicht. So wurde er denn, wenngleich erst am 10. Januar 1922, dem Herrn Piscator klar gemacht:

Nach Rückkehr des Herrn Karl Kraus teilen wir Ihnen als Antwort auf Ihr Schreiben vom 6. XII. das Folgende mit:

Ihre Behauptung, daß sich seine Ablehnung »selbstverständlich zunächst einmal nur auf den 13. beziehen konnte«, ist falsch. Wäre sie aber selbst richtig, so hatten Sie eben die Antwort auf Ihr zweites Telegramm abzuwarten. Sie haben es am 17. November abgesandt und die Antwort » erst am. 19. spät abends erhalten«. Selbst wenn Sie es noch später erhalten hätten, so hatten Sie kein Recht, den Namen aufs Plakat zu setzen. Daß der Plakatdruck »inzwischen unaufschiebbar war und für den Vortrag ein Name genannt werden mußte« – was wohl Ihr, aber keines Andern Interesse berührt –, rechtfertigt noch bei weitem nicht die Verwendung des Namens eines Autors, dessen Zustimmung Sie nicht hatten. Daß Sie sich »gerade von dem Namen Karl Kraus eine große propagandistische Wirkung versprachen«, ist ein Motiv, das nur dann als Entschuldigung in Betracht kommen könnte, wenn bei der Aneignung eines Wertgegenstandes der höhere Wert ein entlastendes und nicht im Gegenteil ein belastendes Moment wäre. Daß Sie aber so hohen Wert auf die Mitwirkung des Herrn Karl Kraus legten, beweist nur, wie wenig Sie von seiner Wirksamkeit wissen. Nicht so sehr die Vermutung, daß er der geeignete Mann sei, eine Rede über Dostojewski zu halten, als der Glaube, daß er sich auf eine Aufforderung hinsetzen und einen solchen Vortrag verfassen werde, von dessen Lieferung der Besteller also viel früher weiß als der Verfasser, zeigt, wie Sie sich die Arbeitsweise des Autors, auf dessen Mitwirkung Sie Wert legen, eigentlich vorstellen. Daß nun nicht Sie, sondern Ihre Stenotypistin sich darüber im Unklaren ist, wie der Name dieses Autors geschrieben wird, ist insofern ein nebensächlicher Umstand, als wir vermuten, daß drei Telegramme und ein Brief in einer Ihnen so wichtigen Sache vor Absendung durch Ihre Hände gegangen sein dürften und Sie immerhin Gelegenheit haben konnten, den Unfug zu bemerken. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß bei der Textierung des unaufschiebbaren Plakatdrucks gleichfalls Ihre Stenotypistin mitgewirkt hat und somit in Berlin bekannt wurde, daß Herr Krauss unter »erstklassigsten Künstlern« an der Dostojewski-Feier mitwirken werde. Trotzdem hat man ihn leider agnosziert, und dies allein ist der Grund unserer Beschwerde. Es sind nämlich infolge der widerrechtlichen Affichierung seines Namens, den Sie später, leider zu spät durch den des Herrn Zweig ersetzt haben, Herrn Karl Kraus mancherlei Belästigungen widerfahren und es wurden Mitteilungen an Interessenten notwendig, die seine Anwesenheit in Berlin schon zu dem von Ihnen festgesetzten Zeitpunkt mit Recht angenommen haben. Da Sie sich auch die Spesen einer berichtigenden Erklärung in den Zeitungen erspart haben sollen, glauben wir keine Fehlbitte zu tun, wenn wir zur Entschädigung den Betrag von Mark 50.– ansprechen, den wir durch Ihre gfl. Vermittlung der Künstlerhilfe für Rußland zuwenden.

Auf dieses Schreiben ist keine Antwort erfolgt, weder eine, die die Anrede »Verehrter Herr Krause« enthielt, noch eine solche, die die Zuwendung von Mark 50.– an die Künstlerhilfe für die Hungernden in Rußland in Aussicht stellte. Eher würde ich vermuten, daß die erste auf dem Postweg verloren gegangen sei. Mein Vorurteil gegen Piscator jedoch, bereits gebildet, bedurfte solcher Ergänzung nicht. Ohne eine Ahnung, ob ich auch nur so viel von Dostojewski wisse wie er selbst, bestellte er meinen Vortrag, setzte meinen Namen, wie er ihm vom Hörensagen bekannt war, auf das Plakat, um ihn im letzten Augenblick durch den passenderen des Herrn Stefan Zweig zu ersetzen, den wohl eine vorrätige Kennerschaft befähigte und kein Bedenken abhielt, die Sache zu »übernehmen«. Seit dem Auftrag Piscators und jener berühmten Einladung des »Junggesellen« habe ich keinen derartigen Beweis der Überschätzung meiner Fähigkeiten aus Deutschland empfangen bis kürzlich, da eine Stuttgarter Zigarettenfirma ein Gutachten über den Wert ihrer Reklame von mit erwünschte. Sie scheinen mich alle, Koofmichs wie Kommunisten, für einen der erstklassigsten Schriftsteller zu halten, obwohl mein Name doch nie in den deutschen Blättern genannt wird und wenn doch einmal, so mit zwei s. Aber der Ruhm wächst draußen auf wunderbare Weise. Piscator zum Beispiel erwachte eines Tages und das weitere ergab sich von selbst. Vielleicht ist jedoch sein Ruhm bloß auf den Umstand zurückzuführen, daß er sich einen Namen gemacht hat. Ich vermute nämlich, daß man nicht Piscator heißt, sondern sich so nennt, und das zeugt immerhin von Willenskraft. Der Name Fischer hat in der Literatur gewiß keinen übeln Klang, ob man nun an den Verleger der Ibsen und Hauptmann denken mag oder an den Herausgeber der vergessenen Lyriker. Allein der Name Piscator, der kaum je unter einem andern geistigen Dokument gestanden haben dürfte als den Korrespondenzen der Künstlerhilfe, an deren Richtigschreibung aber vielleicht die Stenotypistin beteiligt ist – der Name klang durch die sturmbewegten Tage, wo das Streben zur deutschen Literatur durch die russische Konjunktur Nahrung fand. Da jedoch auch die Literatur heute vom Wort zur Tat führt, so war es insbesondere das Vorbild eines umgestürzten Theaters, was damals allen, die noch nicht auf der Welt waren, als es ein Theater gab, Verheißung und Mezzie gewährte. Die Künstlerhilfe, die damals die hungernden Russen leisteten, bestand in der Darbietung einer Szene, auf der die Trümmer, die die Revolution zurückgelassen hatte, als Versatzstücke verwendet wurden. In Berlin, wo sich ohne die adäquaten Voraussetzungen ein großes Angebot von Tairoffs fühlbar machte, half man sich mit Treppen und Zwischenstufen, mit Spiralen und allen Drehs einer Bühne, auf die ein unerlebter Expressionismus frisch vom Papier übersiedelte. Es war die Zeit, wo sich die Entwicklung so von einem Tag zum andern beeilen mußte, daß ins proletarische Bewußtsein, auf welches die intellektuellen Schmonzes abgezielt waren, vor einem Inhalt und als Inhalt selbst, die zerstörte Form in Wort und Bild überging. Keiner dieser Vertreter von etwas, was sie nicht ausdrücken konnten, hätte auch nur zu sagen gewußt, was sie ausdrücken wollten, selbst wenn etwas zum ausdrücken dagewesen wäre, und eben dieser Zustand, an dem doch nichts zeitbedingt und zeitverhängt war als die usurpierende Ohnmacht, bezeichnete sich als elementar. Die Betätigung, die dem Humbug die vollkommenste Wehrlosigkeit der Nerven sichert, ist die des Bühnenexperiments, und so warf sich denn alles, was selbst in der Presse Schwierigkeiten des Fortkommens zu befürchten hatte, auf »Regie«, immerhin mit der Aussicht, daß, wo auf einen Schauspieler ein Dutzend Regisseure kommen, die nichts mit ihm anzufangen wissen, vielleicht doch einmal ein Regisseur auf ein Dutzend Komparsen käme. Gewiß wäre heutzutag auch ohne die Hilfe dieser Quantität die Ablenkung des Interesses von den künstlerischen Leistungen gesichert, aber die Aufmachung dient eben dem Zweck, von den öden Fensterhöhlen abzulenken, in denen das Grauen wohnt. Man sieht, es ist schwer, Schiller nicht zu zitieren, wenn Piscator in der Nähe ist. Er war das geworden, was sie dort im höchsten Respekt vor der Persönlichkeit »'ne Nummer« nennen. Die Bresche der Zeit zu stürmen, gelang ihm wie keinem, nur was er dort macht, ist von jener Fragwürdigkeit, die eben zu den Problemen dieser Gegenwart gehört. Sein »Zeitbewußtsein« ist von der Vorstellung erfüllt, daß es ein solches gibt, aber worin es besteht und wie es in der Darstellung der Klassiker zum Ausdruck käme, vermag er nicht zu sagen. Darum ist er einer der Wortführer über dieses Thema (in der Weihnachtsnummer des ›Börsen-Courier‹) und versichert, daß das Drama »neue Bewußtseinsinhalte assimiliert«, wodurch dem Regisseur die Aufgabe erwachse, »jenen Standpunkt zu finden, von dem aus er die Wurzeln der dramatischen Schöpfung bloßlegen kann«. Zum Unterschied von einem lyrischen Gedicht, »das seine Zeitlosigkeit dem einmaligen Anschlagen einer Gefühlsseite verdankt« – er meint eine Gefühlssaite –, »die durch die Jahrhunderte weiterschwingt«. Da aber zweifellos auch das Gedicht wie alles Geschaffene »neue Bewußtseinsinhalte assimiliert«, so kann man von Glück sagen, daß noch kein Lyrikregisseur sich an Claudius und Mörike herangemacht hat. Der Kohl, wiewohl er »Grundsätzliches« von Piscator heißt, dürfte von Ihering gepflanzt sein, jenem Doktrinär, der dem märkischen Sand blühenden Unsinn abgerungen hat. Da heißt es, daß wir »vorn Gebrüll der Wirklichkeit taub geworden« seien und unsere Zeit noch zu sehr vom Kriegserlebnis mitgenommen, um »die stahlharten, im Gebrüll der Kanonen erprobten Erkenntnisse zu formulieren«, denn sie »wäre stark genug, neue Erlebnisse so gegen vergangene zu setzen«, daß nicht nur die Konstruktion, nein »auch das meiste des Inhalts der klassischen Stücke überflüssig, leer, ja beinahe lächerlich erschiene«. Nachdem Piscator diese im Gebrüll der Kanonen erprobte Erkenntnis formuliert hat, stellt er für die Überlegenheit unserer Zeit einen geradezu zwingenden Beweis her:

Welch ein Fortschritt von der Postkutsche zum Flugzeug, dem wochenlang laufenden Brief zum Radio mit Fernsicht, welch ein Fortschritt in der Kriegsführung von 1814 zu 1914, von der kleinbürgerlichen Residenz zur kapitalistischen und proletarischen Weltinternationale.

Sicherlich ein Beispiel für die auffallende Zurückgebliebenheit im Geistigen. Aber sie ist beileibe nicht aus eben diesem Fortschritt der Technik zu erklären, vielmehr durch den Hinweis auf ihn glatt abzustellen. Wir müssen uns eben zusammennehmen und mangels eigener Geistestaten, die die klassischen Stücke lächerlich erscheinen ließen, diesen Erfolg durch ihre Bearbeitung herbeizuführen suchen. »Denn«, fragt Piscator schlicht, »was ist denn das, die Kunst?« Ihre Elemente, erkennt er, sind »die Wünsche des menschlichen Herzens«, vollauf befriedigt, wenn der Schufterle sich des Kindesmords rühmt; ihre Forderungen sind »Bedingungen des klaren Verstandes«, durchaus erfüllt, wenn ein Sketch von Schiller seine Aktualität durch die »Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Problemen« beweist. Die Masse muß es bringen, und dem Fortschritt in der Kriegführung entsprechend, ist das Schicksal des Theaters »auf Gedeih und Verderb mit den Notwendigkeiten, Forderungen und Schmerzen dieser Masse verbunden«.

Es hat letzten Endes keine andere Aufgabe, als den Menschen, die ins Theater strömen, all das bewußt zu machen, was noch mehr oder minder unklar und verworren in ihrem Unterbewußtsein schlummert.

Denn die Verwirrung im Unterbewußtsein der Menschen ist so groß, daß sie beinahe an die im Bewußtsein der Literaten hinanreicht. Aber in Wahrheit bedeuten deren Experimente das letzte Ende des Theaters, und neben allen Flausen, die ein großstädtischer Sensationspöbel goutieren mag – eben jene »Oberen Fünfhundert«, denen Herr Piscator das Theater zu entreißen vorgibt –, bestehen die Forderungen der Masse mehr denn je darin, daß einer dem andern auf der Bühne ein Bein stellt, in den Bauch stößt, den Stuhl unterm Hintern wegzieht. Die geistigen Wirkungen, die Piscator durch den Räuberrummel erzielt, in Ehren – aber gleichzeitig verdankte Herr Shaw einen Kassenerfolg ausschließlich Umständen, wie daß eine Bisgurn von einem Löwen gefressen werden könnte und daß in dessen Haut ein Statist steckt, der dem zahmen Gatten die Pfote reicht. Da gab es einen Lachsturm, welcher aber wieder nicht zu vergleichen war mit der Wirkung eines Komikers in Hauptmanns »Biberpelz«, einer Dichtung, die die Regie Viertels doch bemüht war nicht zu Schaden kommen zu lassen: er setzte sich »letzten Endes« auf die Bank, so daß sie in die Höhe ging. Die Dankbarkeit des Publikums für diesen Effekt zeigte immerhin deutlich an, was noch mehr oder minder unklar im Unterbewußtsein der Masse schlummert. Aber anstatt die stahlharte Erkenntnis zu formulieren, daß der Fortschritt von der Postkutsche zum Flugzeug den Gedankenweg rapid verlangsamt hat, daß die Entwicklung vom wochenlang laufenden Brief zum Radio plus Fernsicht mit der Vertrottelung übereingeht und daß der militaristische Aufschwung von 1814 zu 1914 eben durch die Verkümmerung der Phantasie erst ermöglicht wurde, anstatt dessen reformieren die Literaten das Theater nach den Bedingungen des luftleeren Raums und opfern der Ideologie des Schwachsinns die überkommenen Kulturwerte. Herr Piscator wird auf der hoffnungslosen Suche nach den neuen Erlebnissen, die die Zeit »stark genug wäre gegen die vergangenen zu setzen«, mir vielleicht darin zustimmen, daß es schon etwas bedeuten würde, ein künstlerisches Dokument zu schaffen, das eben diese Ohnmacht zur Gestalt brächte und das, ein Kunstwerk gegen die Zeit, nichts anderes zum Erlebnisinhalt hätte als den fluchwürdigen Rückschritt des menschlichen Geistes im Bann der technischen Entwicklung, den Zusammenbruch der Menschheit im kriegerischen Fortschritt von 1814 zu 1914. Ein solches Werk ist vielleicht vorhanden, und vielleicht hat es Piscator auch an dem guten Willen nicht fehlen lassen, es in die Obhut seiner Regie zu nehmen. Ich meine die »Letzten Tage der Menschheit«, welche, soweit ein Werk ohne Hilfe der Tagespresse mitteleuropäisches Ansehen erlangen kann und sofern dies ein Erfolg ist, ihn errungen haben – in einem Maße, daß jene selbst von Zeit zu Zeit einen Ruhm, den sie nicht gemacht hat, bestätigen muß. Herr Piscator wird mir darin zustimmen, daß dieses Drama wie kein anderes geeignet wäre, ihm die Komparserie zu Dank zu verpflichten. Ich bin verdächtig, seine Inszenierung der »Räuber« nur aus dem Grund für eine Übeltat zu halten, weil er meinem Namen das zweite s appliziert hat, das dem seinen freilich eher gebührte, sei es als Zischlaut, sei es zur Bezeichnung des groben Unfugs, den er an dem Denkmal eines Nationaldichters verübt hat. Aber wenn Verletzung der Eitelkeit mein Urteil bestimmte, sollte nicht ihre Entschädigung dazu noch besser imstande sein? Hätte mein Vorurteil gegen Piscator, von so kleinem Anlaß erregt, nicht vor der großen Aussicht dahinschwinden müssen, als mir sein Wunsch bekannt wurde, die »Letzten Tage der Menschheit« zu inszenieren? Wenngleich nicht von ihm selbst, so habe ich immerhin doch erfahren, daß er hier eine Aufgabe für die Berliner Volksbühne erblicke und daß er sich bemüht habe, in der Zeit, da das Buch vergriffen war, ein Exemplar aufzutreiben. Von mir hätte er keines erhalten, doch vermute ich, daß er von meinem Widerstreben Kenntnis bekam. Herrn Reinhardt ließ ich solcher Kenntnis durch eben den Vertreter teilhaft werden, den er zu mir geschickt hatte, und er erschien mir im Vergleich mit dem Aufreißertum, das heute Berlin rebellisch macht, als ein Hort der Theaterkultur. So sehr ich überzeugt bin, daß die im Gebrüll der Kanonen erprobten Erkenntnisse in meinem Werk wie in keinem andern Produkt der Kriegswelt formuliert sind und hier wie sonst nirgends das Theater »mit den Notwendigkeiten, Forderungen und Schmerzen der Masse verbunden« wäre, so entschieden widersetze ich mich der Aussicht, deutschen Bühnenruhm einer Verbindung von Kinokünsten mit der schmachvollen Armut des schauspielerischen Worts zu verdanken. Den mißwirkenden Kräften der Zeit, deren Erfolg nur der Triumph über den Wert sein kann, die Polemik gegen sie selbst anzuvertrauen, das wäre nicht der Hohn, den ich meine. Sie mögen sich im Stofflichen und im Mißverständnis dessen, was ihrem Begriff von Expressionismus zu entsprechen scheint, von diesem Werk angezogen fühlen – durch keine Faser ist sein Weltleid mit der grinsenden Zeitbejahung ihres Umsturzes verbunden. Sie haben aus der Forderung an die Kunst, sich dem Fortschritt von der Postkutsche zum Flugzeug und vom Säbel zur Gasbombe anzupassen, wirklich so etwas wie eine Weltanschauung gemacht. Daß Sprache eine erledigte Sache sei – soweit sie nicht zur Verständigung im Warenverkehr dient – und daß man sich mit dergleichen in einem Zeitalter nicht mehr abzugeben habe, »das Jazz und Beton hat«, war das Bekenntnis eines führenden deutschen Literaten, als irgendwo das Gespräch auf mich und meinen Wahn gekommen war. Doch auch in jener Rundfrage über die Art, wie man heute Klassiker spielen solle, hat Herr Bertolt Brecht seine stahlharten Erkenntnisse formuliert:

Nach seiner Räuber-Inszenierung sagte mir Piscator, er habe erreichen wollen, daß die Leute, die das Theater verließen, gemerkt hätten, daß 150 Jahre keine Kleinigkeit seien.

Da Piscator diesen Erfolg auch bei mir erzielt hatte und ich mir vorstellte, daß ich innerhalb dieses Zeitraums beinahe unter erstklassigsten Künstlern auf derselben Szene des Staatstheaters gestanden wäre, auf der nun die Komparsen hausten, ward mir ordentlich feierlich zu Mute. Ich weiß, er hat sie nur entfesselt, weil wir vom Gebrüll der Wirklichkeit taub geworden sind. Aber Brecht weiß auch, warum eine so radikale Umwälzung des szenischen Lebens notwendig war. Das klassische Repertoire habe sich »als hinreichend brüchig und vermottet herausgestellt«:

Man konnte es tatsächlich nicht mehr wagen, es in seiner alten Form erwachsenen Zeitungslesern anzubieten. Wirklich brauchen davon konnte man nurmehr den Stoff. (Gewisse klassische Stücke, deren reiner Materialwert nicht ausreicht, sind für unsere Epoche ungenießbar.)

Während man natürlich Shakespearelesern ohneweiters den Börsen-Courier darreichen dürfte. Doch sie sollten sich eben mit diesem begnügen:

Ganz unumwunden: ich meine, daß es nicht den geringsten Sinn hat, ein Stück von Shakespeare aufzuführen bevor das Theater imstande ist, die zeitgenössische Produktion zur Wirkung zu bringen.

Das ist die der Leute, die für den Börsen-Courier schreiben und deren Führer ihren Anteil an dem Zusammenbruch des Theaters wie an dem der Sprache in dem stolzen Bekenntnis verkündet:

Wir halten uns für an diesem Untergang in prominenter Weise beteiligt.

Ich schätze mir gewiß die Ehre, mit diesem prominenten Vertreter der Betonalen den Zeitraum und insbesondere das Sprachgebiet zu teilen, aber ich möchte doch glauben, daß es selbst für das, was man statt Shakespeare erwachsenen Zeitungslesern anzubieten wagt, eine Rücksicht der Zimmerreinheit gibt und daß einem gewissen Sturm und Drang nur ein Hinauswurf entsprechen könnte. Herr Brecht rät ernsthaft – und das wird hunderttausend Zeitgenossen vorgesetzt, die es ganz probabel finden –, mit der klassischen Literatur Schluß zu machen, weil »man sich auch nichts davon versprechen darf, aus den neueren Stücken die Gesichtspunkte herauszuklauben, um sie auf ältere anzuwenden«, also Shakespeare, falls man von ihm schon »den Stoff brauchen« könnte, durch Gesichtspunkte von Brecht zu verjüngen, anstatt diesen als ganzen zu nehmen, wenn man schon das Glück hat, ihn zu haben. Aber mag man selbst von den Leuten, die schlechter schreiben als das Publikum, verstehen, daß sie sich zur Journalistik drängen, so bleibt die Beziehung der neuen Künstler zur Kunst ein Geheimnis, das tief hinter ihrer Gedanklichkeit zurückliegen muß. Diese Galopins, die der Entwicklung voranlaufen und in jedem verkehrstechnischen Betrieb als fünftes Rad am Wagen vielleicht verwendbar wären – was für ein Motor ist es nur, der sie zu den Dingen der Kunst treibt? Man möchte doch glauben, daß der Bestand eines Dichtwerks, von dem wohl eher schon die nächste Generation gerade den »Stoff« nicht brauchen kann, sich durch die innere Aktualität für jede beweist, die überhaupt noch imstande wäre, den geistigen Anteil zu nehmen, den es ihr vorbehält. Man möchte glauben, daß sich am Wert doch nur ein Unvermögen des Zeitalters beweisen könnte, welchem eben in den Maßen der Notwendigkeit und der Möglichkeit die Zucht des schauspielerischen Worts entgegenzuwirken hat. »Aktuell« ist die Überwindung des Zeitwiderstands, die Wegräumung des Überzugs, den das Geräusch des Lebens dem Gehör und der Sprache angetan hat. Für aktuell aber halten die Zutreiber der Zeit den Triumph des Geräusches über das Gedicht, die Entstellung seiner Geistigkeit durch ein psychologisches Motiv, das der Journalbildung erschlossen ist, und die Belebung des Schauplatzes durch Erkennungszeichen des neuen Lebens. Der unergründliche Flachsinn gibt vor, der Erkenntnis, daß Shakespeares Gehalt »in jeder Gestalt zur Wirkung gelangt«, am besten durch einen Hamlet im Smoking zu dienen und einen Fortinbras, der mit Tanks ankommt, um eine Thronrede abzuschnarren. Es wäre schon ein Experiment der Frechheit, den Ewigkeitswert solcher Belastungsprobe auszusetzen, der er nicht gewachsen sein kann, weil doch der reinste Ton es mit dem eingemischten Mißton nicht aufzunehmen vermöchte. In Wahrheit ist es der Plan, ein schmarotzendes »Zeitbewußtsein« mit einer Region zu verkuppeln, zu der es keinen seelischen Eingang mehr hat, aber umsomehr den Drang, sich dort ohne kulturelle Hemmung, wie nur der Parvenu in der Hofloge, gütlich zu tun. Nein, die Forderung, lieber gleich Brecht aufzuführen, scheint nicht so ganz unbillig, wenn man bedenkt, was diese Berliner Regisseure in den letzten Jahren mit Shakespeare aufgeführt haben und wenn man sich insbesondere auch vergegenwärtigt, wie das Fräulein Bergner als Viola geredet hat was sie wollte und als Rosalinde, wie es den Berlinern gefällt. Denn sie lieben die Abwechslung, in ihrem Horizont ist die Welt an jedem Tag neu erschaffen, und wenngleich der Mensch aus Gemeinem gemacht ist, so nennt er doch dort alles eher seine Amme als die Gewohnheit. Dem Wert mißtrauend, weil er besteht, den Überraschungen des Drecks immer zugänglich, haben sie zur Enttäuschung keine Zeit. Der Revolution gewinnen sie den Reiz des Nochnichtdagewesenen ab, so zwischen der Prügelmassage und den Geschäften, ohne für diese fürchten zu müssen, weil ja die Revolutionäre beteiligt sind. Es ist den Bürgern ein Nervenkitzel, die Klassiker als eine »bürgerliche Angelegenheit« erledigt zu sehen von einem Umsturz, dessen Gedanken und Sprache den bürgerlichsten Hohn souveräner Zeitknechtschaft verkünden und dessen Nüchternheit allen Anspruch des Geistes als verjährt proklamiert, weil sie ihn niemals erfüllen könnte. Als ob »epigonisch« – das wichtigste Wort der Zeitschnauze – nicht gleichermaßen die Impotenz wäre, die, abhold der alten Konvention, dem Wesenlosen die neue erfindet; als ob auf worttoter Szene ein Tumult der Komparserie nicht der nämliche Kitsch wäre wie ein Räubergesangverein von anno dazumal und der nämliche Plunder, im Vordergrund kurzlebiger als die erstarrte Staffage der Persönlichkeit, deren Entfaltung sie nicht gehindert hat und an der es heute fehlt. Sei es, daß von dieser Tatsache durch Lärm abgelenkt werden soll, sei es, daß der Mangel selbst zur Sensation wird, es ist unter allen Umständen ein übles Geschäft, das keine Verbindung mehr mit Menschlichem hat. Um kein Atom revolutionärer als der Stolz des Fortschrittsbürgers auf jene »Jetztzeit«, die seit Schopenhauer das sprachliche Kainszeichen ihrer Mißgeburt führt, ist dieses auftrumpfende Bewußtsein, in einer Jazz-Zeit zu leben. Doch in welchem andern Kulturkreis als dem deutschen hätte ein Revolutionär so allen Verdienerseelen aus der Seele gesprochen wie ein Moriz Seeler, der in der Rundfrage über die Klassiker das Bekenntnis abgelegt hat:

Im übrigen wünsche ich mir persönlich, daß etwa eine Aufführung der » lphigenie« von Goethe, falls ich genötigt wäre, ihr beizuwohnen, mich ebenso interessieren, fesseln und erregen möge, wie z. B. ein guter amerikanischer Film, ein ausgezeichneter Detektivroman oder das Auftreten des Varietéclowns Grock.

Doch es gibt auch Leute, die der Neunten Symphonie ein Fußballmatch oder dem Buch Hiob ein Kreuzworträtsel vorziehen, ja es kann gar kein Zweifel sein, daß sie in der Majorität sind. Aber daß sie, wenn sie in diesem Sinn zur Frage der Erziehung des Menschengeschlechts den Mund aufmachen, Druckerschwärze nicht hineinbekommen, sondern vielmehr in die Hand, um ihre Entscheidung noch zu propagieren, das ist das weit größere Elend. Doch das Weltanschauliche, wie sie ihr Minus nennen, wird ja erst durch die »Keßheit« erfüllt, mit der sie es bekennen, und nichts fehlt, wenn solch ein Bekenntnis über die Iphigenie noch durch den Hinweis auf »Schöne Frauen – Schöne Wäsche« vom Leinenhaus Fleischhauer Tauentzienstraße unterbrochen wird. Wie richtig dann alles geht, zeigt »letzten Endes« ein Stürmer namens Traugott Müller, dem man die Übung von Treu und Redlichkeit gegenüber Klassikern zugetraut hätte und der sich offenbar durch schwere Enttäuschungen zur knappsten Antwort auf die Frage, wie man sie heute spielen soll, durchgerungen hat:

»Tendenzpolitisch (Piscator!).«

Und durch die Debatte um den bedrohten Kulturwert von Piscators Schöpfung gellt die Stimme eines andern Kämpfers, des Ernst Toller, dem sein persönlichstes Opfer für die Revolution zwar alle menschliche Anerkennung sichert, aber keine Amnestie für seine dichterischen Taten. (Leider hat er nunmehr auch jenes durch eine üble Verwertung für Mosse entwertet.) Er rief:

Das Drama muß radikal oder gar nicht sein!

Es kann aber auch, wie sich erwiesen hat, beides sein. Was da in Protestversammlungen und Kundgebungen, zum heillos vermengten Schutz von Freiheit und Pfuschertum, zusammengeredet wurde, rechtfertigt günstigsten Falles den Umsturz eines Sprichworts, indem es sich doch mehr denn jemals zeigt, daß wes das Hirn leer ist, des der Mund übergeht. Und wie sich in dieser nur außen gewendeten Welt durchaus herausstellt, daß der neue Zweck vom alten, tödlichen Mittel lebt und der geistige Betriebsstoff des Fortschritts ein Gesinnungsfett der Neunzigerjahre ist, so verläuft auch dieses Lanzenbrechen der Unpathetiker in Ordnung. Das Gerede eines Freisinns, dessen ranziges Pathos das behauptete »Zeitbewußtsein« bis zur Parodie in Abrede stellt, ergänzt das Bild eines Dilettantismus, der mit dem heftigsten Drang zur Erneuerung nichts auf die Beine stellt als ein frisch auf die Welt gekommenes Epigonentum. Es dürfte aber den Vertretern dieser ganzen Richtung, die mir nicht paßt, alles in der deutschen Welt eher gelingen, als mich blöd zu machen! Nicht allein, daß ihre Leistungen das Pech haben, da einmal auf einen »Kritiker« gestoßen zu sein, der der typischen Forderung, es selber besser zu machen, ausnahmsweise gewachsen ist. Nein, mein Zeitbewußtsein, hellhörig jedem heutigen Mißton erschlossen und die Gerechtsame des Gedenkens einer hohen Vergangenheit wahrend, dringt aus dem rechten Verständnis für die aktuellen Nöte auf Bescheidenheit. Wohl wäre es unnütz, Verluste zu beklagen, und unbillig, dem Mangel aus ihnen einen Vorwurf zu machen. Aber seinem impertinenten Versuch, sich nicht allein durch Künste des Ersatzes, sondern auch durch die Verunehrung des Wertes schadlos zu halten, werde ich entgegenstehen, solange mein Dasein mit meiner Erinnerung reicht! Falsches Leben mag sich dem Betrug, falsche Wirtschaft dem Zustand fügen, daß jede dieser Mittelmäßigkeiten, die sich das Ekelwort »prominent« zulegen, mehr Gewinn hat als zwei Laube-Generationen höchster Schauspielkunst. Aber von den Taten eines Komparsenführers werden wir uns nicht die Epoche machen lassen, unter deren Sturmtritt das verklungene Wunder des Goethewortes, nachgeschöpft aus lebendigem Munde zur Andacht einer fühlenden Menschheit, zum Gespött der Zeitungsbuben wird. Von dem Unvermögen, die schmählichen Kniffe der Renovierung am Sprachwerk zu betätigen und ohne sie es zu erleben, werden wir ihm keine Unehre widerfahren lassen. Ich glaube, mein Vorurteil gegen die Persönlichkeit, in deren Namen und Zeichen sich neuestens diese Bestrebungen geltend machen, auf eine Art begründet zu haben, daß man ihm die volle Deckung mit meinem Urteil nicht bestreiten wird, in einem Grade, der aus der Geistigkeit einer Schiller-Aufführung die Impresa einer Dostojewski-Feier geradezu rekonstruieren ließe. Daß ich beeinflußt war, steht fest. Aber könnte man glauben, daß mein Urteil nicht stark genug gewesen wäre, um des Vorurteils gar nicht zu bedürfen, vielmehr selbst die Gestalt zu schaffen, die es ihm vorgeschaffen hatte? Nur für die Zukunft könnte sie, da sie durchaus die Zeit vertritt, der Ergänzung noch fähig sein. Wohl ist es ein Problem der »Weltanschauung«, das da zur Lösung steht, und ich fühle mich, bis zum Dostojewskihaften, berufen, mir die Welt, in der es die Gemüter aufregt, gründlich anzuschauen. Außerhalb aller Betriebe stehend, der des Besitzes wie der des Umsturzes, werde ich immer wagemutiger und also immer gefährlicher dem Geschäft. Es ist höchste Zeit, daß mit mir abgerechnet werde. Und da jede einzelne Kraft teils durch Schwäche, teils durch Verehrung gehemmt ist, erhoffe ich mir eine solidarische Kundgebung der Literaten und Komparsen. Wenn die Zeit noch einen Funken von Zeitbewußtsein hat und von einem Gefühl dafür, was sie ihrer ehrwürdigen Gegenwart schuldig ist, so trete sie ihrem unerbittlichsten Widersacher entgegen. Auf die Gefahr hin, daß die Abrechnung eine Pleite ergibt, aus der keine Weltanschauung mehr zu gewinnen wäre!


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