Joseph Seligmann Kohn
Der jüdische Gil Blas
Joseph Seligmann Kohn

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Die hohe, schlanke, ehrfurchtgebietende Gestalt des Rabbi Samuel mischte sich nun in die Masse. In langsam feierlichen Schritten bewegte er sich vorwärts, dahinziehend, wie der Stier vor der Heerde. Ein polnischer Kaftan, vom feinsten Seidenstoffe floß den riesigen Leib herab, und hielt durch zahllose Silberspangen an der Brust zusammen, welche ein weißlich grauer Bart beschattete und der ehrfurchtgebietenden ernsten Miene des Mannes noch mehr an Würde und Bedeutung verlieh. Sein greises Haupthaar barg eine feine polnische Zobelmütze, welche, von ungewöhnlicher Höhe, die ohnehin riesige Gestalt ihres Eigenthümers um so sichtbarer aus der ihn umflutenden Menschenmasse majestätisch hervorragen ließ. – In dem räumigen Badhofe angelangt, dessen eine Gränzwand die Mauer des alten Freithofes bildet, ward die Bahre vor einem aus wenigen Steinen geformten Rednergerüste niedergestellt. Der Rabbi trat alsbald die Stufen hinan und unterbrach die ernste Stille mit folgender Rede:

»Mancher unter Euch, meine Geehrten! fragt sich jetzt vielleicht verwundert, daß auf diesem Platze, wo ehedem nur die Leiche eines Morenu ben MorenuMorenu heißt zu Deutsch: »Unser Lehrer«, und kömmt daher dem Titel »Doctor« ziemlich gleich. Ihn theilen die geistlichen Vorsteher der Gemeinden nur an die geübtesten Talmudisten aus. Ein noch bei weitem größerer Ehrentitel ist es »Morenu Ben Morenu« zu seyn. Ben ist Sohn, und so wird die Bedeutung dieses stolzen Prädicates klarer. einer Trauerrede gewürdigt worden, die Auszeichnung heute selbst einem Manne zukommt, dessen Vater in einem ungünstigen Rufe gestanden, und welcher stets den Unwissenden im Volke beigezählt ward. Wollt Ihr diese dem heutigen Todten zugedachte Ehrenbezeugung erklärlich finden, so vernehmet zuvor folgendes Gleichniß:

Ein Reicher war lange im Besitze eines kostbaren Brillantringes gewesen. Einer der vielen Edelsteine, von welchen er eingefaßt war, hatte durch das häufige Tragen jenes Schmuckes sich von seinem Platze abgelöst, und dessen Verlust war von dem Eigenthümer nicht sobald bemerkt worden, als er alle Juweliere der Stadt nach der Reihe besuchte, hoffend, irgendwo ein ähnliches Steinchen aufzufinden, um die Lücke in dem Ringe auszufüllen. Jedoch vergeblich suchte der Mann nach einem solchen Funde. Nichts wollte sich passen. Ein Schlaukopf rieth dem Betrübten, daß er bei einem Glaser Hülfe suche. Dieser sollte ein zweckmäßig geschaffenes Spiegel-Glasstückchen in den leeren Raum des Ringes anzubringen, sich die Mühe geben, und die Täuschung Anderer, auf welche bei diesem Ringe Alles ankomme, müßte gewünschter Maßen erfolgen. Der Besitzer des Ringes befolgte jenen Rath und alle Welt hielt seitdem das zwischen den noch übrigen Brillanten des Ringes nun hervorschimmernde Spiegelglas gleichfalls für einen Juwel. Mit diesem Gleichnisse wollte ich Euch nur andeuten, daß in unserm verderbten Zeitalter, wo die frommen gottgefälligen Männer merklich seltener werden, man, wenn es an Juwelen fehlt, auch ein Spiegelchen nicht verachten dürfe. Ueberdies war ja Rabbi Asriel Spiegel ein Mann, der ganz im Sinne des Herrn wandelte, ein Pfleger der Kranken, ein Speiser der Armen, ein Bekleider der Nackenden, ein fleißiger Leser im Gesetze. Von seinen Glücksgütern machte er stets nur einen frommen Gebrauch. In seinem Hause war es, wo die Forscher in der Schrift, sich zu versammeln pflegten, und Gottes Wort floß daselbst von den Lippen der Frommen. Aber ach! die Gottesfürchtigen nehmen zusehends ab, und die Sünder triumphiren. Die Jugend ist entartet, sie hat sich vornehm abgewendet von den Gebräuchen der Väter und schämt sich der alten Sitte. Die Gemara und die Bücher des Gesetzes haben sie vertauscht mit Schriften voller Tand, und halten sich zu den Völkern der Erde. Sie haben angefangen, die Häuser der Unreinen zu besuchen, essen und trinken mit ihnen, die Thoren! Sie ahnen nicht, daß sie deswegen doch verspottet werden und angefeindet von den Unbeschnittenen. Sie haben sich ihr Schicksal nicht verbessert für das Zeitliche, und dennoch büßen sie als Uebertreter unserer Gebote das künftige Leben ein. O hättet ihr euern Kindern keine Bücher der andern Nationen in die Hand gegeben, sie wären glücklich und zufrieden, wie eure Vorältern geblieben. Sie würden sich, nur mit dem Studium des göttlichen Gesetzes befassend, für das ewige Leben würdig vorbereitet haben. Nur jetzt, wo Ihr Euch in falsch verstandener Aufklärung den Völkern der Erde zu nähern strebt, und ihre Sitten nachzuahmen Euch abmüdet, jetzt erst seyd ihr ihnen zum Spotte geworden, und schon fallen Viele thöricht ab vom Glauben der Vorfahren. Aber nichts hilft es ihnen in den Augen der Andern. Die Verachtung, welche auf unserm Volke lastet, sie waschen sie nicht von ihrem Gesichte. Die Thoren! Wehe über sie! Sie haben nichts gewonnen bei dem Tausche und auch noch das ewige Leben verwirkt. Und das sündige Zeitalter ist es, welches den Zorn des Ewigen über uns ausgießen heißt, und noch mehr verzögert die Ankunft des so lange schon erwarteten Erlösers. Und sie starben dahin, die wenigen Frommen, ein Opfer für die sündige Mitwelt.«

In diesem Tone war der eifervolle Schwärmer noch lange fortgefahren und hatte den gewünschten Zweck nicht verfehlt, nämlich auf die Thränendrüsen der Umstehenden zu wirken, und ihnen eine heftige Erbitterung gegen ihre anders denkenden Mitbrüder und sogenannten Aufklärer einzuflößen. Nun hatte aber der Rabbi seinen Sermon geendet, und plötzlich ließ es sich wie fernes Rollen des Donners vernehmen. Auf ein gegebenes Zeichen knarrte, mit dumpfem Gepolter der, von allen Seiten mit Bretterwänden umdeckte, massiv gezimmerte Leichenwagen herbei, seine Beute in Empfang zu nehmen. Und wieder aufkrächzend, schallte die heisere Stimme des Schamis diesmal durch die freiere Himmelsluft hinaus. Er begann, wieder einige Mitglieder des Beerdigungsvereins, welche an diesem Tage noch nicht von ihm bedacht worden waren, ihrem Range und Alter gemäß aufzurufen, damit sie den Todten von der Bahre abnehmen und in den Wagen schieben möchten.

Auch dieser Ehrendienst war beendet, und also bald rasselte der Wagen über das ungleiche Steinpflaster jenes Platzes dumpf dröhnend dahin, und die vielen Hunderte der Leichenbegleiter folgten ihm in den verschiedensten Richtungen. Ein nicht geringer Haufe war den Pferden voraus geeilt, die überdies nur langsam vorschreitend, sich bewegten. Auch hätte sie an einem schnellern Paßgange die schwärmerisch aufgeregte Menge sehr gehindert, welche den Wagen von allen Seiten dicht umflutete, so daß es für die aus den Fenstern blickenden Gaffer den Schein gewann, als würden Pferde und Wagen von dieser Menschenmasse, gleich einer leichten Bahre, dahin getragen. Konnte die Räder doch ohnehin Niemand gewahren. Je weiter der Zug durch die Gassen der Altstadt vorschritt, desto sichtbarer schloß sich der Haufe müssiger Gaffer und Straßenjungen, conglominirend und wie ein Schneeball anwachsend, dem dunkeln Strome dieser festlich schwarz gekleideter Leichenbegleiter an. An andern Tagen des Jahres konnte ein ähnlicher Zug nur sehr geminderte Aufmerksamkeit erregen; denn die Masse in viele Kutschen zertheilt, würde sich wenig von einem Leichenzuge der christlichen Religionspartheien unterschieden haben. An diesem Tage jedoch, welcher wie bereits mehrmalen erwähnt, unter die jüdischen Feste gezählt ward, ist das Fahren, gleichwie am Sabbat ungestattet, und daher der Gebrauch der Kutschen für das Leichengefolge versagt. – Auf den Wällen des Neuthores standen zahllose Gruppen müßiger Spaziergänger, den herannahenden Leichenzug mit lebhafter Ungeduld erspähend. Aber die begränzende Stadtmauer bildete keinen Scheidepunkt für die dem Todten nachzügelnden Waller. Bis zu seiner Ruhestätte ihn zu geleiten war ein Vorsatz, welcher ungeachtet der noch ziemlichen Wegesweite bis zum neuen Freithofe Alle gleich stark beseelte.

Die Thore desselben standen bereits geöffnet, ihr heutiges Opfer zu empfangen, und einzelne der vorausgeeilten Leichenbegleiter guckten, an diesen Pforten des Todes ungeduldig der Ankunft des Zuges harrend, in den zwischen Gartenmauern fortlaufenden hohlen Paß hinab, über dessen holperigen Pfad sich die schwere Last des Leichenwagens mühsam herauf arbeitete. Endlich polterte dieser durch die weitaufgähnenden Thore des Friedhofes über die bemoosten Gräber dahin und das zahlreiche Gefolge stimmte den dumpfmurmelnden Todtengesang an:

»Der Schöpfer richtet seine Wesen, der Herr in den Höhen und auf Erden, welcher tödtet und belebt, der Gott der Langmuth und der Milde, sein ist die Vergebung und das Erbarmen. – Lebe der Mensch ein Jahr oder Tausend, sein Name fällt doch der Vergessenheit anheim; aber der Ewige vergilt ihm nach seinen Thaten, der Allwissende! – Der Ewige gab, der Ewige nahm, der Name des Herrn sey gepriesen! Und der Herr, er vergiebt dem Sünder, und wird nicht den Becher seines Zornes über ihn ausgießen. Bedenke, daß wir Staub nur sind und gebrechliche Wesen!«

Der Wagen hielt nun inne, vor dem gähnenden Grabe. Wieder ertönte die Stimme des aufrufenden Schamis, und die Bedachten traten stolz hervor aus der Menge, schoben den Deckel, welcher die Hinterwand des Wagens bildete, mit kräftigem Rucke hinweg, und hoben die Leiche heraus. Andere wieder empfingen von diesen die Last und breiteten sie auf die Bahre, andere luden die Stangen der Bahre sich auf die Schultern und schritten mit ihrer Bürde die wenigen Schritte bis zum Saume des Grabes. Wieder andere betteten den Todten in den schlecht gezimmerten SargDer Sarg eines Juden verdient kaum diesen Namen, denn er besteht aus vier locker zusammengehefteten, schlecht gehobelten Brettern. Man hofft auf diese Art um so schneller die Verwesung der Leiche zu bewirken, weil den Versicherungen der Rabbinen zufolge, die Dämonen auch auf den Frommen einen Theil ihrer Macht auszuüben vermögen, so lange die Auflösung des Leibes nicht ganz stattgefunden hat. Daher bedingen Schwärmer in ihrem letzten Willen nicht selten, daß man sie ohne alle hölzerne Einfassung in dem einfachen Leichengewande der Erde übergebe., und ließen ihn an Stricken hinab in die feuchte Grabeshöhle. Unten standen Mehrere schon harrend, die letzten Functionen an der Leiche zu verrichten. Als nun Alles vollendet war und die Grabbereiter sich anschickten, mit ihren Schaufeln die aufgeworfene Erde wieder zuzufüllen, zerstreute sich endlich die Masse nach allen Richtungen hin. Die Mehrzahl jedoch folgte meinem Eleven, dem traurenden Sohne des verblichenen, in die Stube des Friedhofwächters, wo Liebmann zum ersten Male den KadischDieses Wörtchen zu Deutsch: Heilig enthält ein Gebet, das aus den vielfachsten Lobsprüchen an die Gottheit zusammengesetzt ist, in welchen nach bestimmten Absätzen des Sprechers der Chor, welcher mindestens aus zehn Personen männlichen Geschlechts bestehen muß, mit den Worten: »Der Name des Herrn sey gepriesen, Ewigkeiten hindurch!« einfällt. Als Verfasser dieses Hymnus wird vom Talmud der berühmte Pharisäer Rabbi Akiba genannt. Die jüdische Legende erzählt folgenden Umstand, der den Rabbi zur Abfassung des Kadisch vermocht haben soll. Akiba hatte einst auf einem einsamen Holzwege einen Mann gewahrt, der vom Wirbel bis zur Zehe verkohlt, ein Holzbündel auf seinem Rücken, seufzend daher keuchte. Die gespenstische Erscheinung fesselte lange die Aufmerksamkeit des Rabbi. Er ging daher auf ihn zu, um die Ursache dieses seltsamen Aussehens und seines Kummers ihn befragend. Da vernahm er, daß der Fremde seiner Sünden halber in der Hölle weile, nach jedesmaligem Verbrennen wieder aufzuleben verdammt sey, um ein frisches Feuerbad sich bereiten zu lassen, und daß er selbst das Holz, welches der Flamme Nahrung gebe, aufzusuchen, zu fällen, und auf seinem Rücken an den Ort der Qual hinzutragen verurtheilt worden. Der Rabbi fragte ihn hierauf, ob er einen männlichen Erben zurückgelassen, und in welcher Stadt sich dieser befinde? Nachdem die Gestalt alle Fragen des Frommen treu beantwortet hatte, wurde sie von ihm mit der Versicherung entlassen, daß die Sache bald eine günstige Wendung nehmen werde. Rabbi Akiba verfügte sich in die ihm angewiesene Stadt, unterrichtete die Wittwe des Verdammten von dem traurigen Schicksale ihres verstorbenen Gatten, studierte ihrem noch unmündigen Sohne den zu dieser Gelegenheit abgefaßten Hymnus ein, und nachdem der Knabe das Jahr hindurch täglich dreimal im Beiseyn von zehn Männern den Hymnus abgebetet hatte, war der Leidende von seiner Höllenqual vollkommen frei geworden. – Daher zeigen sich jüdische Eltern sehr betrübt, wenn sie keinen männlichen Erben aus ihrer Ehe erwachsen sehen, oder wenn dieser wegen seines lockern Wandels dem Vater wenige Hoffnung bietet, daß er seinem Schatten einst den Liebesdienst mit dem Kadisch fleißig erweisen werde. In solchen Fällen jammert der betrübte Vater klagend seinen Angehörigen und Bekannten: »An diesem Kinde habe ich mir leider einen schlechten (d. h. unzuverlässigen) Kadisch auferzogen!« So komisch auch dem christlichen Leser der Grund dieses Kummers dünken mag, wirkt eine solche Klage aus dem Munde eines Vaters dennoch sehr erschütternd auf die Zuhörer ein. abbetete, welcher, dem jüdischen Volksglauben zufolge, wohlthuend auf die Seele des Verstorbenen einwirken soll. – Hierauf strömte die Masse wieder der Stadt und ihren Wohnungen zu, mit dem Aufzählen lobenswerther Handlungen und einzelner Charakterzüge aus dem Leben des Verblichenen den weiten Rückweg sich verkürzend.


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