Joseph Seligmann Kohn
Der jüdische Gil Blas
Joseph Seligmann Kohn

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Zehntes Kapitel

Die Anklage

Die Wiederkunft der Familie Spiegel hatte diesmal für mich viel Aehnliches mit der Rückkehr einer Familie vom Begräbnisse eines ihrer Verwandten. Wir sahen wohl beim Scheiden den geliebten Todten, nicht ohne das Gefolge der betrauernden Eltern und Geschwister, die Wohnung der Lebenden verlassen; aber kehren die Freunde von dem Leichenfelde zurück, vermissen wir doch ein theueres Haupt unter ihnen. Als ich, die Angekommenen begrüßend an den Kutschenschlag eilte, half ich den beiden Alten und ihren Söhnen aus dem Wagen, die Tochter vermißte mein Blick; und die Grausamen! schienen sie mir doch mit den Mienen zürnen zu wollen, weil nicht im ersten Momente des Wiedersehens schon die Glückwünsche zu der vollzogenen Heirath von meiner Lippe strömen wollten.

»Hat während unserer Abwesenheit nichts von Bedeutung sich ereignet?« fragte Asriel, als ich ihm beim Aussteigen helfend meinen Arm bot. Die Frage war von seiner Seite mechanisch und gedankenlos erfolgt, wie es die Weise so vieler Menschen, die mehr spielend als planmäßig, nur den Faden zu einem Gespräche zu erfassen streben. – »Allerdings!« versetzte ich. »Vom Magistrate ist eine amtliche Aufforderung herabgekommen, daß Sie über die bisherige Führung des jüdischen Hospitals sich bücherlich auszuweisen haben.«

Wie ein Donnerschlag hatte diese Botschaft auf den nervenschwachen Mann gewirkt. Die Farbe war aus dem Gesichte gewichen und die Beine wankten. »Narr! was giebts da zu erschrecken?« strafte ihn die beherztere Hausfrau, welche vom Angstfieber zwar gleichfalls befallen, ihre Empfindungen jedoch gut zu bemänteln verstand. Ein ununterrichteter Zeuge hätte aus dem Verfärben des guten Mannes unfehlbar einen für dessen Rechtlichkeit nachtheiligen Schluß gezogen. Asriel hatte aber bei der vieljährigen Verwaltung seines Amtes nicht nur Nichts veruntreut – was hätte den wohlhabenden Mann dazu verleiten sollen? – sondern auch noch aus seinen eigenen Mitteln den Deficit manches Jahres gedeckt. Ordnungsgeist und regelmäßige Buchführung waren Bedingnisse, die zu erfüllen nicht in seinen Kräften lag. Allein die lobpreisenden Aeußerungen derer, welche die Anstalt oft besuchten und die Krankenpflege musterhaft gefunden hatten, so wie die Asriel geltenden Segensprüche der Reconvalescenten hatten bis jetzt keinen Grund herbeigeführt, von Herrn Spiegel über die Verwaltung seines Amtes Rechenschaft zu heischen. Ueberdies war ein solcher Posten kein beneidenswerther; er fordert Zeitaufwand, übermäßige Geduld und Geldopfer. Wenn der bisherige Hospital-Inspicient, noch immer nicht auf die Idee verfallen war, seinen Commandostab, womit die läßigen, pflichtvergessenen Krankenwärter regiert werden mußten, freiwillig niederzulegen, so hatte Herrn Spiegel theils Mitleid mit den hülfebedürftigen Kranken, welche sodann aller Hoffnung entblößt worden wären, davon abgehalten; theils auch setzte er eine Ehre darein, als Vorsteher einer der ältesten Synagogen in der Gemeinde und Chef der BeerdigungsbrüderschaftBei den Juden, so wie bei den meisten orientalischen, Völkern streift die Ehrfurcht gegen die Todten fast über die Gränzen des Komischen hinaus. Niemand würde es wagen, einen Leichenknochen auf dem Todtenacker von seinem Platze zu rücken. Das Wiederaufgraben einer Leiche ist daher in ihren Augen ein großes Verbrechen. Die Begräbnißkosten sind ungeachtet des, in der Regel, prunklosen Leichenzuges, dennoch sehr bedeutend: doch wird auf die Vermögens-Umstände des Verstorbenen Rücksicht genommen. Die Abschätzung ist der Willkür des Chefs der Beerdigungs-Commitées überlassen und diese Begräbnißgelder fallen in die Leichenkasse, woraus die Beerdigungs-Spesen für Mittellose bestritten werden. Diese beschränken sich nicht auf die Leichenkleider, den Sarg und die 4 Fuß breite Erde, die zur Schlafstätte des Todten dienen sollen; sondern hiervon werden auch die Männer besoldet, welche für die Seele des Abgeschiedenen einige Abschnitte in der Mischna ablesen – und dieser Herren müssen mindestens zehne seyn – nebstdem auch das Leichengefolge bilden. Das Waschen und Ankleiden der Leiche, so wie die Grablegung und das Tragen der Bahre ist sogar Ehrensache, und kommen daher bloß den Mitgliedern des Beerdigungs-Vereins zu, welchen auch die vornehmsten Familienväter aus der Gemeinde beizutreten pflegen. Dieser Verein wird, wegen seiner ernsten Tendenz, zum Unterschiede von andern religiösen Brüderschaften vorzugsweise: Der heilige Verein genannt. – Es giebt auch einen weiblichen Klubb dieser Art, doch beschränkt sich der Frauen Amt auf das Waschen, Ankleiden und die Grablegung weiblicher Todten. Die Ceremonie des Tragens der Bahre, so wie die Begleitung der Leiche ist auch hier die Sache der Männer. – Die wichtigsten andern männlichen Vereine sind die Beschneidungsbrüderschaft und der Verein für Hülfsbedürftige und arme Kranke. Ein anderer weiblicher Verein beschäftigt sich damit, arme Bräute auszusteuern. zwei so wichtiger Aemtern, noch ein drittes, die Inspection des Krankenhauses hinzuzufügen. Diese dreifache Amtswürde hatte Asriel längst in der Achtung der Gemeindeglieder dermaßen erhoben, daß sein Name von allen Zungen mit ungeheuchelter Ehrfurcht ausgesprochen wurde. Wesentlich trug hierzu der Ruf seiner talmudischen Gelehrsamkeit bei. Die Abnahme eines dieser Aemter konnte dem ehrliebenden Manne nicht gleichgültig seyn, am wenigsten, wenn, wie im vorliegenden Falle, eine obrigkeitliche Behörde sich in die Sache zu mengen beschlossen hatte. Wie sehr müßte dieser Umstand dem Verdachte Nahrung geben. Neider hatte auch dieser Mann, Neider und Feinde galten aber ihm, wie vielen andern Leuten, als gleichbedeutend.

Der Ankläger war der Spitalarzt gewesen. Dieser hatte dem leichtaufgereitzten Asriel ein hartes Wort nicht vergeben können, welches kürzlich dem ganz in Galle aufgelösten Inspector gegen ihn in der Hitze des Wortwechsels entfahren war. Ein Krankenvater, wie es deren wenige giebt, hatte er zu einer ungewöhnlichen Stunde der Nacht, sich in das Hospital verfügt, die Wachsamkeit der Wärter zu prüfen. Bei einem der Leidenden hatte plötzlich die Krankheit einen lebensgefährlichen Charakter angenommen. Der eiligst nach dem Arzte ausgeschickte Bote kam mit einem Bescheide des Aesculaps zurück, welcher mehr seine Bequemlichkeitsliebe als dessen Pflichtgefühl bewährte. Die Krisis des Kranken wurde immer bedenklicher und so entschloß sich der Inspector in eigner Person den Arzt aus den Federn zu locken. Dort setzte es einen heftigen Wörterkampf, und der Doctor hatte von jener Stunde an den Racheplan entworfen. Es war ihm nicht unbekannt, wie Asriel seine Verwaltung des Amtes aus dem Stegreife fortsetzte, indem zu einer regelmäßigen Buchführung über Einnahme und Ausgabe ihm Willen und Sachkenntniß zugleich mangelten. Diese Seite war die verwundbarste, und eine Mittelsperson, welche sich als Werkzeug für des Doctors Rache brauchen lassen wollte, indem sie bei der Behörde den Angeber machte, ein so wackeres Individuum war nicht schwer aufzufinden gewesen.

Der Schreck hatte Asriel auf das Krankenlager geworfen. Vor einiger Zeit schon hatte sich ein Ansatz zur Brust-Wassersucht gebildet. Der durch viele Nachtwachen und häufiges Fasten geschwächte Mann, welcher überdies schon mit starken Schritten auf das Greisenalter zuschritt, hatte dem Angriffe, welchen der Schreck, über die gegen ihn vorgebrachte gerichtliche Anzeige, auf seine untergrabene Gesundheit gemacht, kein Corps von Jugendkräften entgegen zu stellen, und mußte demnach unterliegen. Zwar wurde eine weitere Aufforderung an Spiegel, sich wegen der gegen ihn erhobenen Anklage zu vertheidigen, durch einige von mir den Amtspersonen verabreichten Goldstücke weislich unterdrückt; jedoch die Krankheit hatte in dem siechen Körper bereits zu tiefe Wurzel gefaßt, und trotzte den Bemühungen der Aerzte.

Das Neujahrsfest war herangenaht, jener furchtbare Tag, an welchem der rabbinischen Mythe zufolge, der König der Könige über die Völker zu Gerichte sitzt und entscheidet über Leben und Tod, und bestimmt die Schicksale der Erdenkinder für das kommende Jahr. Da vermochten die Warnungen der Freunde und des Arztes nichts über den unbeugbaren Sinn des frommen Asriel; und er entstahl sich seinem Krankenlager, und eilte schon um drei Uhr Morgens dem Bethause zu. Der dicke Herbstnebel, welcher um die Septemberzeit in den Frühstunden sich auf die Erde lagert, so wie die achtstündige ununterbrochene Andacht, die bis zum Mittage währte, Alles dies wirkte dermaßen nachtheilig auf den Kranken ein, daß sein Uebel einen noch weit hartnäckigem Character annahm und schon Besorgnisse für das Leben Asriels eintraten. Zwar wurden reichliche Almosen unter die Armen vertheilt, und in allen Synagogen Psalme für die zu ermittelnde Wiedergenesung des Kranken abgebetet, aber ihre Kraft wollte sich diesmal nicht bewähren. Die Aerzte bedeuteten an dem wenige Tage nachher einfallenden Buß- oder Versöhnungsfeste ( Jom Kipur genannt) den Kranken ernstlich, daß er auf das biblische Verbot nicht achten, und Speise zu sich nehmen müsse, wenn er seinen Tod nicht beschleunigen wolle. Hart war es für den frommen Mann, an diesem furchtbar ernsten Tage nicht der allgemeinen Andacht in der Synagoge beiwohnen zu können, weil ihn die Krankheit nun fortwährend das Bette zu hüten gebot; aber noch gräßlicher erschien ihm der Gedanke, an diesem Hauptfasttage des Jahres Nahrung zu sich zu nehmen. Als nun die Aussprüche Rabbi Zalels und des Rabbi Nachum, zweier ihm sehr befreundeten Gottesgelehrten – mit dem Erstern haben schon die frühern Kapitel dieses Buches, den geneigten Leser bekannt gemacht – sich mit den Warnungen der Aerzte vereinigten, so mußte Asriel wohl das harte Geschick über sich ergehen lassen, und den Suppen-Napf zu leeren, sich beherzt anschicken. Wie der Gläubige nun den Löffel erfaßte, um den flüssigen Inhalt des Tellers auszuschöpfen, fühlte er sich plötzlich von seinen Empfindungen übermannt, und drohte sich in Thränen und Wehklagen aufzulösen. »Wehe ist über mich eingebrochen! unnennbares, unaussprechliches wehe!« – klagte er mit Herz- und Ohrzerreißenden Jammertönen – »habe ich also das Furchtbarste erleben müssen, am Jom Kipur Speise zu nehmen!« Bei diesen Worten schluchzte er aus der Tiefe des Herzens, bis er erschöpft in einen der Ohnmacht ähnlichen Schlaf verfiel, und wie bewußtlos plötzlich in die Kissen zurücksank.


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