Joseph Seligmann Kohn
Der jüdische Gil Blas
Joseph Seligmann Kohn

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Eilftes Kapitel

Die Sterbestunde

Asriel hatte nach den Versicherungen Aller, die von seinem frühesten Jugendleben, bis in sein jetzt vorgerücktes Alter, seinen Umgang getheilt hatten, die Auflösung eines Seelenschmerzes durch Thränen nie vorher gekannt. An diesem Jom Kipur war er zum Erstenmale bei diesem Ausbruche der Empfindungen überrascht worden. Hieraus durfte die übermäßige psychische Aufregung seines Innern gefolgert werden. Auf den siechen Körper des Kranken konnten die Einwirkungen nicht lange ausbleiben. Schon am vierten Tage nach jenem Vorgange war seine Lebensmaschine gänzlich zerstört. Es war um die eilfte Vormittagsstunde, als sich die unverkennbaren Vorboten des Todes anmeldeten. Der Kranke sprach mit vollem Bewußtseyn seines jetzigen Zustandes. Die Ruhe seines Geistes ging aus allen seinen Anordnungen hervor. Obgleich am hellen Mittag wurden, wie dies bei dem Sterben eines Frommen Sitte ist, Lichter auf die Wandleuchter und die große zwölfarmige Sabbatlampe gesteckt und angezündet, die Mitglieder der Beerdigungs-Brüderschaft herbeigerufen; und weil Asriel zu den Frommen der Gemeinde allgemein gezählt zu werden pflegte, war es zu erwarten gewesen, daß im Nu der Platz vor seinem Hause mit einer Saat von Männern jedes Alters und Standes übergossen ward, welche Alle mit feuchten Blicken nach den Fenstern hinaufsahen, an den angezündeten Lichtern und dem Drängen der oben befindlichen Beerdigungsbrüdern, die geschäftig hin und her zu wogen schienen, das müßige Auge weidend. Bis zur untersten Treppenstufe herab standen die Mitglieder des Vereins, von denen Einige den Eingang bewachten, damit kein Laie sich unter sie und in das Haus stehle. Einen Sterbenden zu umgeben, ist ihren Augen eine Bevorziehung ihres Ordens, worüber sie wie auf ein nur wenigen Glücklichen zu ertheilendes Recht eifersüchtig wachen. Wohl über ein halbes Hundert Menschen füllten das Krankenzimmer und beförderten ahnungslos das Ende des Sterbenden, indem sie die wenige gesunde Luft noch mehr verengten, wozu mit der Ausdünstung einer so bedeutenden Masse sich noch der Qualm der angezündeten Talglichter mischte. »Ist Rabbi Nachum noch nicht unter Euch?« fragte nach einer langen Pause der Kranke, sich im Bette halb aufrichtend. »Nein!« war die Antwort, »aber bald wird er eintreffen, schon sind zwei Boten nacheinander in seine Wohnung abgeschickt worden,« ließ sich ein rauher Baß aus der Mitte des Haufens vernehmen. Und wieder trat tiefes Schweigen ein.

Von unten herauf drang indeß immer vernehmbarer das Summen der wachsenden Menge. Plötzlich theilte sie sich in zwei Hälften, um dem mit eiliger Miene sich vorwärts schiebenden Rabbi Nachum Durchgang zu eröffnen. Der Rabbi war ein kleines hageres Männchen. Sein bleiches Antlitz war der Verräther vieler Nachtwachen und einer streng ascetischen Lebensweise. Man erzählte sich von diesem Frommen, daß er nur die Sabbat- und Festtags-Nächte durch den Genuß eines Lagers von Federbetten zu ehren pflege, die übrigen Nächte des Jahres hindurch auf harter Erde entschlummere; daß er sich, mit Ausnahme der Sabbat- und Festtage, aller Fleischspeisen und sonstiger kräftiger Nahrungsmittel ängstlich enthalte, ausser den vielen Fasttagen des Jahres, auch noch die Montage, Donnerstage und den letzten Tag vor jedem Neumonde zu Peinigern seines Magens mache, daß er vom frühen Morgen bis zur Mitternacht unermüdet in der heil. Schrift und im Talmud lese, auf der Gasse sich fast nur in jenen Tageszeiten blicken lasse, wenn der Synagogen-Diener zum Gebete riefe. Von allen Gratuiten, welche die Frommen der wohlhabenden Klasse zeitweise ihm zukommen ließen – denn er trieb keinen bestimmten Erwerb –, theilte er den Zehnten unter die Armen, und that noch vieles andere Gute im Verborgenen.

Dieser Würdige hatte seit Jahren mit Asriel auf freundschaftlichem Fuße gestanden. Die Abende der Wochentage hatten sie im gesellschaftlichen Studium des Talmuds zugebracht, die Zusammenkünfte waren jedoch stets in der bequemlichern Wohnung Asriels abgehalten worden. Zu einer ungewöhnlichen Stunde und in einer nicht so angenehmen Absicht keuchte der Ascete jetzt die ihm bekannten Stufen hinan. Sein Blick verrieth den Glaubenshelden, der mit frommer Ergebung sich in den Willen des Allmächtigen fügte, welcher sobald ihm den treuen Gefährten seines Lebens durch den Tod entziehen wollte. »Ach!« – seufzte er wohl vor sich hin – »so sterben sie allmählig ab, die Frommen und Lieblinge des Herrn, und ich bleibe, mir zur Strafe, unter den gesetzvergessenen, entarteten Zeitgenossen allein zurück.«
 

Kaum war der Rabbi in das Krankenzimmer getreten, als Asriels Antlitz zum letztenmale im Dämmerstrahl der Freude leuchtete, bevor seine Lebenssonne ganz untertauchen sollte. »Bist du also auch gekommen, Bruder Nachum?« lispelte der sterbende Freund und fuhr zur Menge gewendet fort: »Nun könnt ihr das Gebet mit mir beginnen!«Dies Gebet: Al Chef genannt, welches aus einem alphabetisch geordneten Register der gangbarsten Sünden besteht, wird nicht nur von den Sterbenden, sondern auch am Jom Kipur und endlich auch am Vermählungstage von dem Brautpaar abgebetet; denn dieser Tag hat bei den Israeliten eine nicht minder ernsthafte Bedeutung. Auch fasten die Verlobten an ihrem Vermählungsfeste, während sich ihre Umgebung einer rauschenden Freude überläßt.
 

Nach einer kleinen Stunde war der Kranke wieder in die Kissen zurück gesunken, um schöner entschlummern zu wollen. Die Lippen bewegten sich. Man hielt eine Bettfeder an seine Nase, und als man diese Lebensprobe wiederholte, bewegte sie sich nicht mehr. Dies war ein gültiges Zeichen, daß die Seele ihre Hülle verlassen hatte.
 

Der Vorsteher des Vereins berief einen der Bediensteten zu sich, welcher einen bestimmten Jahrsgehalt von der Brüderschaft bezog, und unter andern Verrichtungen auch diese hatte, daß er in sämmtlichen Synagogen zur Zeit der Morgenandacht den dort vorfindlichen Mitgliedern des Vereins den Tod einer Person und die Stunde des Begräbnisses anzeigte. Bei dem Leichenbegängnisse hatte er wiederum die Namen derjenigen anzurufen, welche das Oberhaupt des Vereins oder in seiner Abwesenheit dessen Stellvertreter mit einer Amtsverrichtung bei der Leiche zu beehren gedachte. Ein solcher Mann mußte die Länge der Dienstzeit eines jeden Mitgliedes aus der Brüderschaft, wohl im Gedächtnisse haben, denn ein Bejahrterer, welcher später angerufen worden wäre, könnte diese Zurücksetzung leicht übel vermerken; und Versehen dieser Art, haben schon folgenreiche Zwistigkeiten und Spaltungen in der Gemeinde entstehen lassen.
 

Dieser Bedienstete, Schamis genannt, war jetzt zu seinem Chef hingetreten, um von ihm die Namen derjenigen zu vernehmen, welche aus der Masse der Anwesenden vorzugsweise bedacht werden sollten; denn nur einige Wenige konnten bei dem einfachen Geschäfte des AbhebensSobald er Kranke verschieden ist, wird er aus dem Bette herabgehoben und auf die Erde gebreitet, ein Seelenlicht ihm zu Hauptens gestellt, und die Leiche mit einem Tuche bedeckt. Bald hernach finden sich die Männer ein, welche, wie schon in einer Note des ersten Kapitels bemerkt worden, durch Ablesen einiger Abschnitte aus der Mischna die bösen Dämonen von den Todten abhalten sollen. Diese Lesungen dauern jedoch eine ganze Woche nach dem Begräbnisse fort, obschon sodann nur vor und nach den Andachtsstunden. Eines dieser Männchen, das ausser jenem Nahrungszweige keinen andern kannte, erhielt einstens eine gerichtliche Vorladung. Auf die, an ihm gestellte Frage, welches Gewerbe er betreibe? antwortete er mit überraschender présence d'esprit: Ich studiere mit den Todten! der Leiche mitwirken. Der Schamis bestieg, um von den Andern bemerkt zu werden, einen Schemmel, und begann die Namen derer zu verlesen, welche die Leiche anfassen sollten. Spaßhaft war es anzusehen, wie mehrere der Anwesenden, besorgend, daß ihre kleinere Statur sie übersehen lassen werde, sich auf die Zehen stellten, um den Aufrufer an ihre Gegenwart zu erinnern.

Als die Ceremonie des Abhebens vorüber war, verlief sich die Menge allmählich, den aus einer Nebenstube wieder heraustretenden Hausgenossen das Terrain überlassend, von welchem die fremde Populace sie eine Stunde hindurch verdrängt hatte. Jetzt begann das Wehklagen unter den Verwandten des Verstorbenen, und die Mägde, welche bei den sämmtlichen Wohnpartheien dieses Hauses dienten, erhielten die Weisung, alles vorräthige Wasser auszugießen.Das Haus, worin jemand gestorben, wird nebst den beiden angränzenden, als durch die Leiche verunreinigt, gehalten. Alles in denselben befindliche Geräthe zu zerstören, würde zu kostspielig seyn, das Unbrauchbarmachen des vorräthigen Wassers ist jedoch ein Schaden, von welchem sich auch der Aermste leicht wieder erholen kann. Aus diesem Grunde lassen die umsichtigen Rabbinen es bei dem Ausgießen des Wassers bewenden. Die Pünktlichkeit, mit welcher man diesem Gebote Folge leistet, beweiset abermals die Scheu vor talmudischen Autoritäten, wenn die – pecuniären Vortheile nicht gefährdet werden.


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