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37. Kapitel.
Dem Hafen zu

Eine lange Zeit vergeht aber doch, bis Axel wieder einigermaßen zu Kräften kommt. Sie sehen es jetzt alle: Er war noch viel mehr, als er je eingestand, erschöpft gewesen, ehe dies Letzte kam. Ein Glück, daß sein Abschiedsgesuch nun schon bestätigt und er von dem anstrengenden Beruf ganz frei ist. Sie sind alle so froh und möchten es ihm auf jede Weise zeigen, wie glücklich sie sind, ihn daheim zu haben und zu behalten.

Aber Axel bleibt doch etwas melancholisch, und schließlich kommt es heraus, was ihn bedrückt: er macht sich Gewissensbisse, Franzi, die Gesunde, Blühende, mit allen Kräften im Leben Stehende, an sein – Invalidendasein, wie er es traurig nennt, zu binden. Er wollte ihr sogar ihr Wort zurückgeben!

Was Franzi da antwortete, hat niemand genau erfahren; aber es muß wohl so freudig gewesen sein, daß auch der letzte Schatten von Axel weicht und er wieder mutig anfängt, Pläne zu machen.

Alle fühlen es, daß diese letzte Aussprache in der Luft lag; alle atmen auf, wie sie das Ergebnis sehen, wenn auch wohl niemand zweifelte, daß Franzi anders handeln könne, als wie sie tat.

Wer sie am besten in diesen Tagen versteht, und mit wem das Brautpaar die innigsten Auseinandersetzungen hat, das ist Mutter Trautmann. Mit Rührung gedenkt diese ihrer eigenen schmerzvollen Erfahrungen, als sie ihr den jungen stattlichen Verlobten zum Krüppel schossen! Und sie erzählt den Kindern von den Kämpfen, die sie damals durchgemacht, und von der Treue, die ihnen zum Sieg verhalf.

Es wird nun beschlossen, daß die Hochzeit des Paares schon jetzt in aller Stille gefeiert werden soll und daß die beiden dann einen Winteraufenthalt im Süden nehmen, um Axels Gesundheit so viel wie möglich zu kräftigen.

Die jungen Geschwister finden es zwar schrecklich, daß es nun eine Hochzeit ohne Sang und Klang werden soll – Robert und Bertram wollten sich noch einmal recht als lustige Vagabunden zeigen und Elfchen als Student – aber sie müssen sich alle drein ergeben und werden damit vertröstet, im Frühling zur Hauseinweihung ihre Künste zeigen zu dürfen.

Wegen der nicht fertigen Aussteuer tut Ursel eine Art Gelübde, daß sie im Lauf des Winters alles bis auf den »kleinsten Wischlappen« fertig stellen wird, und den Bau, nun, den nimmt Papa Dahland unter seinen besonderen Schutz.

Vierzehn Tage vor der Hochzeit trennt sich Franzi noch einmal aus dem lieben Familienkreise und kehrt in ihr kleines Künstlerheim in Berlin zurück. Die drei Konzerte, die für September in Berlin und Hamburg angesetzt sind, sollen nicht ausfallen. Sie weiß, daß der Ertrag derselben ihnen für den Aufenthalt im Süden gut zu statten kommt.

In ihrer Begleitung reist Elfchen, die sie ihrer alten Freundin Elsner zuführen will und damit zugleich dem neuen »wissenschaftlichen Leben«, wie Elfi sagt. Zur Hochzeit soll sie auf ein paar Tage zurückkommen.

Elfi ist denn auch die Berichterstatterin für die Familie über Franzis Konzerte, und sie spart nicht mit begeisterten Ausdrücken.

»Franzi hat über alle Maßen schön gesungen,« schreibt sie. »Die Menschen waren aber auch ganz toll! Ich glaube nicht, daß ein Herz ungerührt geblieben ist. Es steht auch in der Zeitung, daß man Fräulein Trautmann noch niemals so auf der Höhe ihrer Kunst sah, und daß es ein wahrer Jammer sei, daß diese begnadete Sängerin sich schon jetzt ins Privatleben zurückziehen wolle. Ja, ja, Axel, niemand wird sie Dir gönnen, das schreib Dir nur recht hinters Ohr und trag Herrn Bauers Kammersängerin hübsch auf Händen, daß sie Dir nicht davonläuft.«

Bei dieser Briefstelle wird Axel wieder etwas erregt, aber Ursel tröstet: »Elfi ist ein dummes Mädel, du mußt dich wirklich an Mama und mich, an uns alte Frauen halten! Wir wissen es besser. Und wir kennen doch unsere Franzi.«

Ja, sie kennen sie wohl. Die jetzt von ihren neuen großen Erfolgen heimkehrt, ist immer dieselbe für die Ihrigen, und mehr als je fühlen alle, wie fest sie seit lange auch zur Dahlandschen Familie gehört.

Zwei Gäste sind aber doch zu der stillen Hochzeit gekommen: Fräulein Elsner und Komteß Leontine Wehrburg. Letztere hat sich einfach angemeldet, und man ist allgemein recht gespannt auf sie. Franzi hat sie mit Axel vom Bahnhof geholt, und die Bekanntschaft der Kindheitsgefährtin mit Franzis Verlobten geschah in großer Lebhaftigkeit. Nun aber stehen sich Ursula und Leontine zum ersten Male gegenüber, und die Neugier, das gespannte Forschen in beiden Gesichtern ist für die Zuschauer höchst ergötzlich. Tausendmal haben sie voneinander gehört, manche Photographie gesehen, manchen Brief gelesen, und doch ist die Wirklichkeit nun so völlig anders!

Ursula ist nicht das schüchterne, kindliche Geschöpfchen mehr, sondern eine stattliche junge Frau mit einer unbewußten sanften Würde, und Leontine erinnert kaum noch an den eckigen Backfisch mit dem quecksilberigen Wesen, den unberechenbaren Stimmungen. Sie ist eine kräftige blühende Erscheinung, der man die Landdame ansieht, die Züge nicht gerade hübsch, aber interessant und lebensvoll.

Nach einem kurzen Augenblick des Anschauens streckt sie beide Hände aus und sagt: »Frau Ursula, wir waren geborene Feinde, aber schließlich – die gleiche Zuneigung überwindet alles.« Damit küßt sie die junge Frau auf beide Wangen, und diese, die eigentlich eine kleine feierliche Begrüßungsrede im eigenen Hause halten wollte, weiß vor Überraschung nichts weiter zu tun als das Komteßchen wieder zu küssen; damit ist alle Befangenheit geschwunden, und Leontine fügt sich schnell und leicht dem neuen großen Kreise ein.

Daß sie von anderer Art ist als alle Dahlands und Trautmanns, läßt sich freilich nicht verkennen; aber diese Art ist auch eine tüchtige, wie Franzi und Fräulein Elsner, die ihre Tini noch ganz anders in Erinnerung haben, mit inniger Freude bemerken. Die Luft des Wehrburger Hauses hat sie gesund gemacht, und sie hängt mit der größten Liebe an den dortigen Verwandten, die sie völlig wie eine Tochter halten.

»Du siehst, Franzi,« sagt sie lachend zu dieser, »ich habe nun weder Lehrerin, noch Stütze, noch Jungfer zu werden brauchen, und doch verdien' ich mir mein Brot. Onkel sagt jedesmal, wenn er mir mein Taschengeld gibt: ›Nun, für welchen neuen Posten kannst du jetzt wieder Gehaltsaufbesserung verlangen? Denn du herrschsüchtiges Mädel mischst dich ja in alles!‹ Freilich bin ich ein bißchen herrschsüchtig, aber sie meinen doch, daß sie sich alle recht wohl dabei befinden.«

»Auch die Vettern?«

»Auch die! In unserem ›Männerstaat‹, wie Tante Adelheid immer sagt, tut etwas weibliches Regiment sehr gut.«

»Wer spricht von weiblichem Regiment?« fragt Axel herzutretend.

»Ich, Herr Kapitänleutnant! Sie finden das wohl ein gefährliches Thema am Tage vor der Hochzeit?« neckte sie.

»Allerdings! Aber was soll ich dagegen machen, ich armer Invalide?«

So nennt er sich selbst jetzt oft in seiner Neigung zur Selbstquälerei, aber sie finden das alle sehr übertrieben.

Wie er mit Franzi an den Altar tritt, ist doch noch viel von dem blonden Wiking an ihm, wie Mama im stillen glücklich feststellt. Franzi aber in ihrer frischen kraftvollen Schönheit, mit dem warmen Leuchten in den dunklen Augen, sieht aus wie das verkörperte Leben selbst, das auch für Leid und Ungemach gewappnet ist.

Nun zieht das Paar gen Süden, und viele glückliche Briefe fliegen von der Riviera nach Norden; auch besteht zwischen den beiden Familienhäusern ein beständiger Austausch dieser Nachrichten.

Im folgenden Winter lebt nach langer Zeit wieder einmal Inge als Gast im Vaterhause, und ihre Gegenwart ist für Mama die beste Ablenkung von sorgenden Gedanken um Axel.

Inge ist noch immer sehr schön, stattlich und sicher, letzteres aber nur so viel, als gut und richtig ist für eine Frau, besonders für eine solche, die einem großen Hauswesen vorsteht. Von dem Übermut aber und der persönlichen Eitelkeit ihrer früheren Mädchenjahre ist nichts mehr zu spüren.

»Ich hab' einen gar strengen Gebieter,« sagt sie eines Tages scherzend zu Ursula. »So verwöhnt und verzogen wie du werd' ich niemals.«

»Werde ich verwöhnt?« fragte Ursula erschrocken.

»Aber sehr, mein Kleinchen!«

»Ach, wirklich, Inge?«

»Ja, ja, aber es schadet nichts. Du brauchst das, mein Herz; dein schüchternes liebes Ich käme sonst nie ganz zum Vorschein. Mich freut nur, daß Wilhelm, der ein so großer Pädagoge ist –«

»Nun, Frau Schwägerin, was hat der große Pädagoge verschuldet?« unterbricht hier Doktor Wilhelm, der aus dem Nebenzimmer eintritt.

»Er hat seine Frau in Grund und Boden verdorben,« sagt Ursel mit so kläglicher, reumütiger Miene, daß alle in herzliches Gelächter ausbrechen, bis jeder einzelne seine Meinung sagen muß, ob es sich so verhalte, und Papa mit dem Gutachten schließt, daß man mit einiger Mühe und bei recht heller Laterne wohl noch ein gutes Haar an dem schwarzbraunen Schopf der kleinen Frau finden könne! Und so ist es immer sehr heiter und gemütlich in Ursels Heim, besonders nach Weihnachten, wo der Kreis durch ein lebendiges Weihnachtspüppchen noch vergrößert wird, ein ebenso schwarzbraunes Mägdlein wie seine Mama, das gerade am Heiligabend seinen Einzug im Doktorhäuschen hielt.

Mit Rosen von der Riviera wird es am Tauftag geschmückt, und Franzi schreibt dazu: »Alle Deine Feste feierst Du, geliebte Schwesterseele, wenn ich fern bin! Wie schwer wird es mir heute, nicht dabei zu sein und das kleine Bündelchen über das Taufbecken zu halten! Wäre ich noch der leichtbeschwingte Sing- und Wandervogel, ich breitete heute, glaub' ich, meine Flügel aus und ließe den blühenden Süden zurück für ein winterliches Land und ein gemütliches Stübchen. Aber eine gute Frau bleibt, wo sie hingehört, das weißt Du am besten. Und meinem lieben Axel würde ein solches Davonfliegen um diese Jahreszeit schlecht bekommen. Das ist es ja gerade, was seine Gesundheit früher so angriff, der allzu häufige und rasche Klimawechsel. Jetzt tut diese stetige milde Temperatur Wunder. Mama wird entzückt sein, wenn sie ihn sieht – er wird der alte stramme Wiking wieder! Aber warten muß Mama noch ein wenig; vor Mai dürfen wir nicht kommen. Axel meint auch, jetzt sei er wohl endlich ersetzt und entthront; wenn ein Enkelchen da sei, träten immer die Söhne zurück. Ist es so, Mama?«

Immer muß sie sich viel Neckerei gefallen lassen, die liebste Mama, wenn es ihren Ältesten betrifft; aber sie erträgt es sehr liebenswürdig. Ob sie aber die ist, die das Enkelchen am meisten verhätschelt, bleibt eine große Frage; denn Papa Dahland hat noch nie so oft den Weg vom Fürstenplatz nach dem Heckendorfer Weg gemacht wie jetzt, und manches Mal treffen sich beide Großeltern unverhofft in Ursels Wohnstube.

Darüber vergeht der Winter, und allmählich sproßt wieder das erste Grün im Schloßgarten und auf allen lieben Wegen.

In Heckendorf steht das neue Haus fix und fertig, mit Sorgfalt und Bedacht gebaut, und nach Möglichkeit ausgetrocknet, so daß es jeden Tag bezogen werden kann.

Da schreiben endlich die Reisenden, daß sie auf dem Rückwege sind und sich langsam der Heimat nähern.

Nun erwacht in Ursel, der allzeit Bescheidenen, häuslich Zufriedenen, plötzlich ein nie empfundenes Reisegelüst, und sie legt Wilhelm einen Plan vor, der diesen hoch aufhorchen läßt.

Die beiden haben keine Hochzeitsreise gemacht; es paßte damals nicht gut mit der Zeit und lag auch ihrem bescheidenen Sinn fern. Wilhelm war zu glücklich, eine feste, einträgliche Anstellung zu haben, die ihm erlaubte, eine Häuslichkeit zu gründen, und Ursula wieder erschien dieses Heim so reizend und beglückend, daß sie meinte, nicht noch mehr verlangen zu dürfen. Die schöne fremde Welt sparten sie sich gern noch auf.

Aber jetzt – wie wär's, wenn sie den Geschwistern entgegenreisten? Gerade um Pfingsten, wo Wilhelm doch Ferien hat? Wenn man sich in Heidelberg träfe? Heidelberg, das von jeher Wilhelms Sehnsucht war, das er nicht kennen lernte, weil er nur in norddeutschen Universitäten studieren durfte?

Ja, das ist ein köstlicher Plan! Und Wilhelm ist umso leichter dafür gewonnen, als er in diesem Winter eine gute Extraeinnahme hatte durch populärwissenschaftliche Vorträge, die sich eines regen Zuspruchs erfreuten.

Die hübsche Summe sollte zwar eigentlich der kleinen »Alexandra« gehören, wie sie anfangs beschlossen, aber – »braucht so ein zartes Wiegenkind jetzt schon ein Kapital?« fragen sie sich zweifelnd, und: »Nä, nä!« schallt es hinter der grünseidnen Gardine hervor.

Beide Eltern lachen fröhlich, aber dann kommt die bedenklichere Frage: Was wird aus Baby Alexandra, wenn sie auf Reisen gehen wollen?

Nun, die Großeltern sind ja da, die lieben guten, die nur zu gern das Wägelchen mit den grünseidenen Gardinen bei sich aufnehmen werden.

Aber da zeigt es sich einmal, daß man sich selbst in Großeltern verrechnen und täuschen kann!

Wie Ursel und Wilhelm fröhlich und vertraulich mit ihrem Plan herausrücken, den Geschwistern zu Pfingsten bis Heidelberg entgegenzureisen, und zugleich die Bitte daran knüpfen, daß Großmama sich klein Alexandras annehme, will diese auf einmal weder von Großmutterwürde noch von häuslichem Einhüten etwas wissen. Sie will vielmehr auch mit nach Heidelberg, gewiß! Sie und Papa!

Sind es nicht mehr als zwanzig Jahre her, daß sie zusammen eine größere Reise machten? Immer unterblieb es, der Kinder, des großen Haushalts und der Kosten wegen. Jetzt aber geht es! Mama fühlt das genau, und Papa, der ihr strahlendes verjüngtes Antlitz mit größter Freude sieht, sagt ohne weiteres: »Natürlich reisen wir!«

Um das Enkelchen braucht man trotzdem nicht bange zu sein; es ist ja noch eine Großmutter da, die es mit tausend Freuden in ihre Obhut nimmt, die auch die »Vagabunden«, die nun schon recht gesetzten Obersekundaner gern ein wenig bemuttert, wenn es nottut.

Nun geht es an Reisevorbereitungen jeglicher Art. Koffer und Taschen werden nachgesehen, Papas Fernglas gereinigt, Schuhzeug und Garderobe geprüft und ergänzt, Touristenschirme gekauft, und endlich verschaut sich Ursel – zum ersten Male! – in einen neuen Hut! Einen Reisehut mit blauem Schleier, den Papa ihr auch sofort großmütig kauft und der ihr allerliebst steht. Zum ersten Male auch lernt Ursel im Kursbuch, das sonst sieben Siegel für sie besaß, Bescheid und stellt die ganze Reiseroute zusammen. Über Kassel und Frankfurt am Main wird es gehen, und Ursel, die Gründliche, prüft sich ernstlich, ob sie von diesen Städten, denen Papa auch einen Aufenthalt zugedacht hat, genügend weiß, um dort mit Genuß und Verständnis Umschau halten zu können.

Axel und Franzi haben geschrieben, daß sie am Donnerstag nach Pfingsten in Heidelberg eintreffen wollen und vier bis fünf Tage da zu bleiben gedenken. Also fahren die Wendenburger am Tage nach Pfingsten früh ab, um ja zur rechten Zeit in der lieblichen Neckarstadt zu sein und die Heimkehrenden mit ihrem Empfang zu überraschen. Denn diese ahnen nichts von dem Unternehmen ihrer Lieben.

Ein etwas bewölkter, aber frischer Frühlingsmorgen ist es, an dem das alte und das junge Paar sich aufmachen. Für die Reise das angenehmste Wetter, und was die Stimmung anbetrifft, so gibt's da kein einziges Wölkchen.

Jeder der vier Reisenden hat seinen besonders freudigen Gesichtspunkt, von dem aus er die Fahrt betrachtet. Papa wird sein altes, vielgeliebtes Heidelberg wiedersehen, in dem er studierte und die schönste Zeit seiner Jugend verlebte. Mama wird ihre Kinder eine Woche früher in die Arme schließen und dann beruhigten Herzens auch die schöne Gegend genießen können, von der Papa zeitlebens schwärmte. Ursel, die ja durch ihre Besuche bei Ingeborg schon einiges von der Welt kennt, reist doch zum ersten Male mit ihrem Mann zusammen, und Wilhelm – ja, der reist überhaupt zum ersten Male! Seine Jugend ist voller Entbehrungen gewesen, seine Studien hat er mit Mühe und äußerster Einschränkung möglich gemacht – zu Reisen war nie etwas vorhanden.

Und dabei – es scheint Ursel wieder aufs höchste bewundernswert – weiß Wilhelm am allerbesten Bescheid! Jede Gegend, die sie durchfliegen, weiß er genau zu bezeichnen, von jedem Fluß und Wasserlauf weiß er, woher und wohin.

In den Städten, wo sie kürzeren oder längeren Aufenthalt nehmen, findet sich Wilhelm am schnellsten zurecht, in den Schlössern und Kunstsammlungen zeigen sich wieder seine gründlichen historischen Kenntnisse und sein feiner Kunstgeschmack, womit er Ursel immer aufs neue imponiert.

Hochinteressant sind diese Reisetage, aber in Frankfurt am Main schläft Mama Dahland doch mit dem freudigen Gedanken ein, daß nun nichts Neues, nichts Interessantes, nichts Wichtiges in fremden Städten mehr vor ihr liegt, daß nur eine einzige Nacht sie noch trennt von dem Wiedersehen mit den teuren Heimkehrenden.

Am nächsten Tage, am Ziel angekommen, begeben sie sich sogleich zum »Alten Ritter«, dem ältesten Hause Heidelbergs, wo sie wissen, daß Axel und Franzi Quartier nehmen wollen, und die erste Frage an den herbeieilenden Oberkellner lautet: »Ist Korvettenkapitän Dahland vielleicht schon angekommen?«

»Jawohl, mein Herr! Die Herrschaften sind Vormittag eingetroffen, haben gespeist und sind jetzt zum Schloß hinauf.«

»So gehen wir auch gleich hinauf,« drängt Mama, der es gar nicht recht ist, daß die Kinder doch vor ihr angekommen sind.

Papa sagt aber bestimmt: »Erst wird gegessen und ein wenig geruht! Die beiden treffen wir noch immer; von da oben steigt man fürs erste nicht wieder zu Tal!«

So geschieht es, und endlich gegen halb fünf Uhr sind sie auf dem Wege zum Schloß. Zum ersten Male im Leben benutzt Ursel eine Drahtseilbahn, und ihr ist nicht ganz wohl, wie sie dieselbe wieder verläßt; aber dann wird das Schwindelgefühl doch bald vergessen, wie sich die Ruine des Schlosses zeigt, rötlich leuchtend auf dem grünen Waldhintergrund.

Und nun nimmt der Schloßhof sie auf und in tiefem Schweigen lassen alle den unvergleichlichen Eindruck auf sich wirken. Das ist schöner, als jeder von ihnen auch im Traum sich hat vorstellen können. Selbst Papa, der doch ein ersehntes Wiedersehen feiert, kann sich nicht besinnen, daß ihm in den glückseligen Studententagen das Bild je so schön erschien wie heute.

Im Anblick der Heidelberger Schloßruine.

Dort der »Friedrichsbau«, dem man freilich die Erneuerung ansieht, der »gläserne Saalbau« mit der Loggia, hier der entzückende Erker am »Bibliothekbau«, von dichtem Grün umwuchert – überall der blühende Holunder, der fast betäubend duftet, und Vogelstimmen ringsum, so laut jubilierend, als sei das gefiederte Volk das einzig herrschende Geschlecht in dieser Burg.

Sonst ist alles so still, kein Schwarm von Reisenden stört die köstliche Einsamkeit. Wunderbar, fast rosenfarben leuchtet gerade der »Otto-Heinrichsbau« gegen den blauen Himmel, der wie lichtes Glas auch in den edelgeformten leeren Fensterrahmen liegt, da – läßt ein Ton sie aufhorchen.

»Draußen ist es still und friedlich,
Alle sind ins Tal gezogen,
Waldesvögel einsam singen
In den leeren Fensterbogen ...«

singt eine schöne, ach, so bekannte Stimme, und in einem der »leeren Fensterbogen« flattert plötzlich ein blauer Schleier; es ist etwas anderes als ein »Waldesvogel«, was da singt.

Ausgestreckte Arme fliegen in die Höhe, ein Rufen und Jauchzen – dann ein Poltern drinnen in den Ruinen. Schneller, als dem Führer lieb ist, steigen die zuerst gekommenen Fremden in den Schloßhof, und hier, an einem der herrlichsten Orte Deutschlands, wird nun ein köstliches Wiedersehen gefeiert.

Dann sitzen sie zusammen auf dem breiten Schloßaltan und schauen in das liebliche Tal; sie wissen nicht, wo anfangen mit Fragen und Erzählen, fallen immer wieder in ein glückliches Schweigen und Anschauen; sie wandern endlich durch den wundervollen Park der »Terrasse«, besuchen Scheffel und Goethe, denen man hier Denkmal und Verstafel gewidmet, und kommen erst in eine alltäglich menschliche Stimmung zurück, wie sie in der »Schloßwirtschaft« einkehren und sich eingestehen, daß sie »doch ein klein wenig Hunger und Durst haben«.

Dabei lösen sich denn die Zungen auch anders, und ein lebhaftes Erzählen hebt an.

Axel sieht außerordentlich gekräftigt aus, Mama bestätigt es mit Wonne, und Franzi meint mit strahlendem Necken: »Er kann am Ende noch wieder Dienst tun!«

»Nein, nein,« wehrt die Mama, »jetzt ist er unser, kein Schiff bekommt ihn wieder!« Und sie fängt schnell an, von dem fertigen Hause in Heckendorf zu berichten, das so einladend dasteht, daß gewiß niemand sich aus ihm wieder fortsehnen wird.

Kein stolzer Bau, aber anmutend und zweckentsprechend, ein rechtes »Heim«. Sie erzählt auch von dem hübschen großen Zimmer, wo Franzis Flügel stehen soll, wo sie singen wird.

»Und unterrichten!« fällt Franzi lebhaft ein. »Das habe ich mir fest vorgenommen, mir in Wendenburg wieder einen kleinen Wirkungskreis zu gründen, so viel meine Hausfrauenpflichten es zulassen.«

Das finden alle nur zu loben, und auch Axel ist damit einverstanden, denn er weiß selbst zu gut, wie schwer es ist, von einem geliebten Beruf zu scheiden. Ihm erzählt dann Mama von dem Zimmer mit dem breiten dreiteiligen Fenster nach dem See zu, wo sie sich Axels Schreibtisch hindenkt, und den lieben vor Anker gegangenen Sohn davorsitzend, mit der Ausarbeitung seiner Reisetagebücher, all seiner reichen Erfahrungen und Erlebnisse beschäftigt!

Endlich mahnt ein kühles Abendlüftchen zum Aufbruch, und langsam steigt man auf den gewundenen Wegen den Schloßberg hinab. Im Tal ist es schon dunkler, und auf der »alten Brücke« stehend, sehen sie überall die Lichter aufblinken und ein trauliches Abenddunkel die alte Stadt einhüllen. Müde von aller Freude und allem Schönen suchen sie endlich ihre Zimmer im »Ritter« auf, und wenn auch hin und wieder ein fröhlicher Studentengesang ihren Schlaf unterbricht, so schadet das weiter nicht. Papa murmelt noch im Traum: »Alt-Heidelberg, du Feine –«

Der nächste Morgen steigt wieder ebenso sonnig und schön wie der vorige herauf. Früh steht man schon auf der Gasse vorm »Alten Ritter«, die drei Frauen schlendern über den Gemüsemarkt und freuen sich an der bunten Herrlichkeit, kaufen erste Kirschen und Erdbeeren ein und werden gerührt beim Anblick der prächtigen Spargel.

Dann geht's wieder aufs Wandern, diesmal zum jenseitigen Ufer hinüber. Die Jungen klettern auf steilen Stufen zwischen den Weinbergen herum, suchen von den über die Mauern wuchernden wilden Rosen zu haschen und schmücken ihre Hüte. Die Alten wandeln ruhig den »Philosophenweg«, überschauen die Stadt und das malerische Tal und in sinnendem Gespräch – ihr Leben.

Am Abend aber trägt ein Schifflein die drei Paare wieder in schönster Harmonie über den Neckar.

Glückliche Menschen! Auf den ersten Blick wohl nicht anders, nicht ausgezeichnet vor vielen. Wer aber näher zusieht und sie wirklich kennt, dem wird es doch vorkommen, als sei ihre Lebensauffassung wahrer und echter, ihre Tüchtigkeit ernster, ihre Fröhlichkeit reiner, ihre Liebe tiefer gegründet. Und darum ruht auf ihnen der Segen des Himmels.

 

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