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2. Kapitel.
Mamas Fund

Das hübsche weiße Haus am Fürstenplatz von Wendenburg, das dem Landgerichtsrat Dahland gehörte, lag in der hellen Nachmittagsonne eines warmen Junitages einladend da, mit vielen offenen Fenstern, zu denen der Duft von den blühenden Büschen des Vorgartens hereinströmte. Aber es war still drinnen, das schöne Wetter schien alle Bewohner ins Freie gelockt zu haben. Nur die Rätin war zu Hause. Sie kam eben aus den im Kellergeschoß gelegenen Wirtschaftsräumen herauf, wo sie mit Wäscheordnen beschäftigt gewesen schien, denn sie trug ein Paket frisch geplätteter Kindersachen und ging damit in das große luftige Zimmer, wo ihr kleines Volk sonst sein Wesen trieb.

Heute waren aber weder die kleinen, lustigen Vagabunden darin, noch ihr blondes Elfchen; der große Tummelplatz im Schloßgarten hatte sie heute zu sehr angelockt, und als die Muschbergen, die alte Kinderfrau vom Papa, die in einem Altenstift ihr Stübchen hatte und sich's zur Ehre rechnete, die Kinder ihres »jungen Herrn« noch manchmal zu betreuen, gerade heute gekommen war, hatte Mama die Kleinen unter diesem sicheren Schutz hinausgelassen.

Verlassen lagen Tiere und Bauklötze, Puppen und Bilderbücher. Die Rätin fing unwillkürlich an, ein wenig aufzuräumen, nicht ohne einen kleinen Seufzer, denn eine musterhafte Ordnung herrschte nun einmal nie in ihrer Kinderstube. War das überhaupt möglich? Gab es Kinderstuben, die noch am Nachmittag aufgeräumt aussahen? Vielleicht. Früher, als Ursula das eigentliche Spielkind gewesen war, die hielt ihre Sachen und Sächelchen von jeher so gut und nett, wie heute ihre Schulbücher. Die machte überhaupt eigentlich nie Mühe, nie Lärm, nie Ansprüche. Noch heute war die Ecke, wo Ursulas Kommode stand, mit dem Bücherbrett darüber und dem alten Kinderstühlchen, auf dem sie immer noch saß, der einzige feste Punkt im Zimmer, wo sonst alle Gegenstände auf Rollen zu gehen schienen, so leicht gerieten sie durcheinander.

Die Rätin trat an die Kommode. Es steckte ausnahmsweise der Schlüssel, was sonst nie vorkam; da konnte sie gleich Ursulas Taschentücher verwahren, die sie eben mit heraufgebracht hatte. Sie zog die oberste Schieblade auf – wie nett und sauber geordnet alles lag! Die Taschentücher, Kragen, Schürzen, Handschuhe, jede Kleinigkeit an ihrem Platz. Im anderen Schubfach die Leibwäsche – wirklich tadellos.

Nur da, was war da? Guckte da nicht zwischen den Hemden ein blaues Papiereckchen hervor? Richtig, das war ein Schreibheft. Sehr erstaunt zog die Rätin es hervor, wie kam Ursel nur dazu? Das sah ihr ja gar nicht ähnlich. Unwillkürlich schlug sie es auf und las die ersten Worte: »Ich bin wirklich sehr unglücklich!« Unglücklich?! Die Rätin las weiter, hielt erschrocken inne und las unwiderstehlich getrieben doch weiter. Sie setzte sich sogar in den Kinderstuhl und war schnell ebenso vertieft, wie sonst Ursula hier in eines ihrer Lieblingsbücher.

Auf dem hübschen, ansprechenden Gesicht der Rätin malten sich die verschiedensten Empfindungen, bis sie plötzlich erschrocken innehielt und vor sich hinflüsterte: »Was, dies Mädchen verschwört sich hier ja wohl gegen Eltern und Geschwister? So sieht es in dem stillen Kinde aus?« bis sie dann weiter las und nun wirklich Tränen in die Augen treten fühlte.

Hier sah das Kind, das sie eben für völlig überspannt gehalten, schon seinen Irrtum ein und klagte sich an – ach, und wie beweglich! Und noch einmal dachte die Mutter, so sieht es in Ursula aus? Eines meiner Kinder ist unglücklich? In unserem schönen, wohlgeordneten, friedlichen Hause ist ein junges Herz, das klagt? Und um was eigentlich? Sind das nicht eingebildete Schmerzen? Oder geschieht dem stillen Mädchen, das nicht die Gabe hat, sich einzuschmeicheln, sich leicht und harmlos alle Welt zu Freunden zu machen, das nicht oberflächlich, sondern eigentlich voll tiefer Anlagen ist, geschieht ihm doch wohl unrecht?

Unwillkürlich schlug sie das Heft auf und las die ersten Worte.

Jetzt hörte sie die Haustür gehen und gleich darauf im Korridor einen leisen, etwas müden Schritt. So ging Ursula! Der Mutter fiel es plötzlich auf, daß der Schritt müde und traurig klang.

Sie barg das blaue Heft schnell wieder an der Stelle, wo sie es gefunden, so schnell, als hätte sie selbst ein unerlaubtes Geheimnis, und trat dann an das Schränkchen der kleinen Brüder.

Da kam Ursula herein. Groß und mager, mit den schweren braunen Zöpfen, die ihr solchen Kummer machten, mit dunklen Augen in einem blassen, feinen Gesicht, das großen Ernst, ja fast einen Zug von Verdrossenheit zeigte.

Ein schneller Blick ging nach der Kommode, und als sie den Schlüssel stecken sah, flog eine brennende Röte über ihr Gesicht. Aber da rief die eifrig beschäftigte Mutter schon: »Bist du da, Urselchen? Ich habe deine Wäsche hergelegt, du verwahrst sie dir ja am liebsten selbst, nicht wahr?«

Das klang beruhigend, Ursula atmete auf: Mama war noch nicht an der Kommode gewesen! Freundlich sprach diese weiter: »Bist du denn für heute fertig mit Studieren, mein Kind, ja? Ich gönnte dir's, daß du diesen wunderschönen Tag auch einmal recht genössest. Mich dünkt, ihr werdet jetzt reichlich angestrengt in der Schule, du kommst mir recht blaß vor.«

»Es ist mir nicht zuviel, Mama,« sagte Ursula ruhig, »aber für heute bin ich fertig.«

»Das ist gut, da benutze es recht und tummle dich draußen.«

»Wie soll ich das machen?« fragte Ursula mit einem kurzen, trockenen Lachen, »in diesem kleinen Garten?«

»Mach doch einen Spaziergang mit Inge!«

»Inge spielt Tennis im Schloßgarten, sie begegnete mir eben.«

»Ach ja, freilich, und so ein Backfischlein wird noch nicht aufgenommen in den Klub. Und die Brüder sind um diese Zeit auch nicht allzu galant,« fuhr Mama halb scherzend, halb bedauernd fort, »Axel –«

»Axel hat sich mit einem Freund zum Segeln verabredet.«

»Und du? Magst du dich denn gar nicht einer von deinen Mitschülerinnen anschließen?«

»Die radeln alle.«

Da hielt Mama sie plötzlich umfaßt. »Mein armes Mädelchen,« sagte sie zärtlich, »da muß Mama sich wohl mit dir zusammentun.«

»Du? Du gehst doch gewiß mit Papa spazieren.«

Mama lachte beinahe verlegen: dies Kind ließ sich nichts vormachen zum Trost! »Allerdings,« sagte sie dann, »gehe ich ja gewöhnlich mit Papa, du hast wohl recht; das ist nun einmal sein Wunsch, sein Vergnügen nach den langen Gerichtssitzungen. Und heute erwartet er allerdings noch besonders, daß ich mitkomme –«

»Siehst du wohl,« sagte Ursula ruhig, immer mit dem gleichen Gesicht.

»Ja, Herzchen, ich soll mit Papa nach Heckendorf gehen; du weißt, sein Freund Leuthold mit Familie ist dort zur Sommerfrische eingetroffen. Sie haben uns schon Besuch gemacht, den müssen wir erwidern.«

»Ja, Mama. Ich ginge auch sehr gern allein; zu Hause – ich meine in Steinberg – bin ich so oft allein ins Feld gelaufen, aber hier darf ich das nicht.«

»Nein, mein Kind, so wie du zuerst hier anfingst, um den ganzen ›stillen See‹ zu laufen oder ins Nußholz, das geht allerdings nicht. Aber in der Nähe –«

»Im Schloßgarten sollen wir auch nicht allein gesehen werden; Fräulein Röder hat es verboten.«

Mama überlegte einen Augenblick, dann meinte sie lächelnd: »Wenn ich aber einen Auftrag für dich hätte, der dich quer durch den Schloßgarten führt? Wenn du mit einem Körbchen am Arm gesehen würdest und Fräulein Röder selbst begegnete dir, so wärest du entschuldigt. Du kannst mir nämlich wirklich einen Gefallen tun, ich möchte gern vom Schloßgärtner recht schöne Spargel haben für morgen; wir bekommen doch Besuch, weißt du.«

»Nein, ich weiß es nicht. Wer kommt denn?«

»Ach, hast du es nicht gehört? Eben diese Freunde von Papa, Rechtsanwalt Leuthold mit Frau und Tochter.«

»Eine Tochter auch?« fragte Ursel mit schwachem Aufleuchten in dem stillen Gesicht.

»Ja, eine Tochter von neunzehn Jahren, Inge freut sich schon auf sie.«

Wieder eine Freundin für Inge! Ursels Miene trübte sich, und die Mutter verstand jetzt plötzlich diese neue Enttäuschung ihres stillen Kindes, dessen sehnlichen Wunsch: »Hätte ich doch eine Freundin!« sie ja eben gelesen hatte, und sie konnte ein wehes Gefühl nicht unterdrücken. Könnte sie ihr's doch schaffen, was sie brauchte! Diese Einsamkeit ging wirklich nicht länger an.

Herzlich sagte sie nun: »Aber in den nächsten Tagen gehen wir gewiß einmal zusammen, wir beide allein, oder wir fahren nach dem Rohrwerder; nächste Woche habe ich viel Zeit. Und heute holst du mir die Spargel, nicht wahr? Line plättet noch und kommt nicht mehr dazu. Drei Pfund hätte ich gern. Hier ist Geld, ich weiß nicht, was sie heute kosten. Laß dir die besten geben, hörst du?«

»Ja, Mama. Soll ich gleich gehen?«

»Wie du willst, Kind; es ist ja nicht mehr zu warm.«

»Nein, wunderschön.«

»Dann will ich dir das nette Spankörbchen geben, das mit der Brandmalerei, damit kannst du dich immer sehen lassen.«

»Ach, Mama, das weißt du doch, daß ich mir daraus gar nichts mache, Körbe und Pakete zu tragen. Die anderen in meiner Klasse schämen sich immer sehr damit, aber ich finde das lächerlich.«

»Noch gar nicht ein bißchen residenzmäßig angehaucht?« scherzte Mama. »Nun, mir bist du jedenfalls umso lieber als meine kleine Steinbergerin.« Sie küßte Ursula herzlich und strich ihr über das Haar. »Wollen wir deine Zöpfe noch mal flechten? Der eine ist etwas rauh; komm, es ist gleich geschehen.«

In Ursels Gesicht stieg langsam eine feine Röte und sie lächelte scheu. Sollte Mama doch – –? Der unglückliche Kommodenschlüssel! Könnte Mama das Tagebuch gefunden haben? Aber nein, dann hätte sie jetzt betrübt oder böse sein müssen, und sie war gerade so engelsgut! Nein, sie durfte doch nicht wieder so klagen im Tagebuch, auch wenn es niemand sah.

Still und reuevoll saß sie, und Mama sprach auch nicht mehr, während sie die schweren Zöpfe bürstete und flocht, bis sie glänzten. Dann ging sie hinaus, denn sie hörte ihren Mann kommen, der sicher gleich etwas von ihr wünschen würde. Einmal kam sie noch zurück, händigte Ursula den kleinen Korb ein und machte sich dann fertig zum Spaziergang nach Heckendorf.

Als sie bald darauf mit ihrem Mann das Haus verließ, bildeten die beiden ein Paar, von dem man wohl begreifen konnte, daß das Töchterchen von einem »einfach herrlichen Vater« und einer »süßen Mama« sprach.

Landgerichtsrat Dahland war groß und kräftig, frisch und blondbärtig, kaum erst eine Spur ergraut. Die Rätin, eine zierliche Frau, dunkelblond, mit einem Gesicht, in das jeder mit Freude blicken mußte, so lieb und sonnig war es meistens, und so jugendlich noch. Ursula blickte ihren Eltern nach, seufzte ein wenig und lief dann an ihre Kommode. Da lag das blaue Heft noch, tief in der Wäsche verborgen! Es war niemand dabei gewesen.

Mit unbeschreiblicher Herzenserleichterung zog sie den Schlüssel ab.


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