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8. Kapitel.
Kein Geheimnis mehr

Eilig wie noch nie, fast glühend vom raschen Gang, kam Ursel am nächsten Tage in der Gärtnerei an. Sie hatte ja die Einladung ihrer Mutter an Franzi zu überbringen für den nächsten Sonntag!

Vor der Tür saß sie und stickte wieder an der mühsamen Decke. Langsamer als sonst stand sie auf und sagte ernsthaft: »Bist du dennoch da, Ursel? Ich erhoffte es nicht.«

Ursel in ihrem Eifer rief, ohne etwas an der Freundin zu merken: »Natürlich bin ich da, und zwar –«

»Natürlich?« wiederholte Franzi, »gestern schien es dir nicht natürlich, und ich muß dir sagen, Ursel, daß ich seit gestern über etwas nachgedacht habe, worüber ich sehr erschrocken bin.«

»Franzi – was denn?«

»Ja – sag mal, du bist wohl heimlich zu mir gekommen? Deine Eltern wußten es nicht, und du bist bange, daß sie es nicht erlauben – oder warum erschrakst du gestern abend so, als dein Bruder kam?«

Ursel stand entgeistert und konnte nur noch einmal »Franzi!« hervorbringen.

»Ist es, weil du dich schämst, mit mir so schnell bekannt geworden zu sein, weil ich nicht vornehm bin, – weil ich hier arbeite und verkaufe?«

Franzi sagte das mit einem so schmerzlichen Ernst, daß Ursula voll Schrecken die Hände vors Gesicht schlug und in Tränen ausbrach.

»Das kommt von der Heimlichkeit,« schluchzte sie, »das hab' ich nun davon, daß du so schlecht von mir denkst! O Franzi, so schlecht kennst du mich noch?«

Nun war Franzi ebenso erschrocken und sagte betreten: »Wenn ich dich gekränkt habe, verzeih mir, aber – ich war auch gekränkt!«

»Das seh' ich, und ich bin außer mir!«

»Und Mutter meinte auch, als ich ihr das von gestern abend erzählte, sie dürfe es nicht erlauben, daß du so oft zu mir kämst und hier bliebest, wenn deine Eltern es nicht wüßten. Wir hätten gar keine Ansprüche zu machen und täten am besten, für uns allein zu bleiben; eindrängen in vornehme Häuser sollt' ich mich gewiß nicht.«

Ursula hörte plötzlich auf zu weinen, faßte Franzi um die Schulter und sagte: »Dies ist eine schreckliche Geschichte, – aber was du eben sagst, ist alles dummes Zeug! Wir sind nicht vornehmer als ihr, und ich würde mich in die Erde schämen, wenn ich je dächte, ich könnte mich mit dir überhaupt vergleichen, die du besser und klüger und fleißiger bist als alle Mädchen, die ich kenne!«

Franzi lachte unter Tränen und sagte: »Nun übertreibst du furchtbar, Ursel!«

»Nicht im geringsten! Und nun hör doch nur, was ich dir heute sagen wollte: Meine Mama läßt dich grüßen und einladen, nächsten Sonntag, also übermorgen, bei uns zu Mittag zu essen und den ganzen Tag bei uns zu bleiben. Ist das nicht fein? Und wirst du nun nicht wieder so häßlich von uns denken, du liebe Böse?«

Franzi war rot geworden und sagte: »Das – mußt du selbst meiner Mutter sagen, Ursel.«

»Natürlich, gleich! Wo ist sie?«

»Vorn im Zimmer.«

Ursel sprang ungestüm auf, sie hatten völlig die Rollen getauscht. Ursel von einer beinahe leidenschaftlichen Lebendigkeit und Franzi verlegen.

Frau Trautmann, die emsig bei einer Näharbeit saß, sah die beiden kommen und tat einen leisen Seufzer. Die sanfte, bescheidene Ursula Dahland hatte es ihr auch angetan; mußte sie nun diesem Verkehr, der ihre Tochter so glücklich machte, selbst ein Ende bereiten, lediglich aus Taktgefühl?

Die beiden Mädchen kamen ins Zimmer und Ursel trug gleich ihre Bitte vor, herzlich und natürlich, gar nicht so töricht scheu und befangen, wie sonst.

Frau Trautmann nahm ihre Brille ab, hinter der die schönen, aber angestrengten Augen hervorkamen, und sagte: »Das ist ja fast zu viel Freundlichkeit von Ihrer Mutter, liebes Fräulein Ursel; gleich auf einen ganzen Tag?«

»Ja,« entgegnete Ursel lebhaft, »Mama sagt, wir wollen es gleich gründlich nachholen, weil ich es so lange versäumte, ihr Franzi vorzustellen.«

»Und warum haben Sie es versäumt, mein Kind?« fragte Frau Trautmann und richtete einen forschenden Blick auf Ursula, aber Franzi fiel ein: »Quäl sie nicht, Mutterchen, wir haben uns eben schon das Leben schwer gemacht! Nun ist alles gut, und nicht wahr, du erlaubst es?«

Mama sagt, wir wollen es gleich gründlich nachholen, weil ich es so lange versäumte, ihr Franzi vorzustellen.

Frau Trautmann überlegte einen Augenblick, aber da rief Ursel, förmlich mit einem Anflug von Schelmerei: »Ich habe gar nicht zu bitten brauchen, meine Mutter war's, die zuerst sagte: ›Dann sollt ihr den nächsten Sonntag zusammen verleben, wir alle wollen deine Franzi kennen lernen‹.«

Nun lächelte Frau Trautmann und war gewonnen, und die Mädchen gaben sich rückhaltlos ihrer Freude hin, machten Pläne für den Sonntag, wo sie sich schon in der Schloßkirche treffen und dann zusammen in Ursels Elternhaus gehen wollten. Aber Franzi mahnte bald: »Urselchen, nimm's mir nicht übel – ich muß sticken! Laß uns wieder unter die Linde gehen, ja? Draußen ist's heller als hier.«

»Was hast du denn immer zu sticheln,« wunderte sich Ursel, »wer bekommt diese furchtbar mühsame Decke?«

»Wer? Ja, das ist mir auch noch ein Geheimnis.«

»Wieso?«

»Ja, Ursel, das weißt du auch noch nicht: deine Freundin ist nicht bloß Gemüseverkäuferin und Hausstütze – sie stickt auch für Geld.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, Mutter und ich, beide. Oder glaubst du, die wunderfeinen Hemden mit der gestickten Passe, die Mutter da eben hatte, die wären etwa für mich?«

»Ich hab' nicht darüber nachgedacht,« gestand Ursel.

»Die sind für ein Geschäft. Die Stickerei hab' ich größtenteils schon in Wehrburg fertig gestellt, die Maschinennäherei macht Mutter. Sie müssen bald abgeliefert werden – ich habe noch die Namen zu sticken, aber solange Mutter sie unter den Händen hat, arbeite ich an der Decke.«

»Und wohin kommt die?« fragte Ursula mit großen Augen.

»Das ist's eben, ich weiß es noch nicht. Ich habe sie schon in Wehrburg angefangen, Fräulein Elsner hat mir die feine Spitzenarbeit gezeigt. Den Filetgrund, den man sonst fertig kauft, hat Mutter so schön gemacht; so ist diese ganze Arbeit von uns, und ich möchte sie gern irgendwo ausstellen zum Verkauf.«

Sie hielt die sehr akkurat und sauber gearbeitete Gipüredecke in die Höhe, und Ursel sagte bewundernd: »Sie ist wunderschön!« und plötzlich kam ihr ein Gedanke. »Ich weiß, wo du sie ausstellen mußt! Der Frauenverein hat hier eine Verkaufsstelle für so etwas, mit einem Schaufenster; dahin bringen wir die Decke! Da kaufen viele reiche Leute, manchmal auch die Fürstin. Ja, die gute Fürstin-Mutter muß dein Kunstwerk kaufen! Wäre das nicht prachtvoll?«

»Ja,« rief Franzi lebhaft, »das ist ein guter Gedanke! Ich meine nicht das mit der Fürstin, so hoch versteigen sich meine Wünsche nicht gleich, aber das mit dem Frauenverein.«

»Ja, und Mama kann dir das leicht besorgen, sie gehört zu den Vereinsdamen, und weißt du, dann bringt man es leichter an.«

»Freilich, ein bißchen Schutz ist immer gut,« meinte Franzi ernsthaft.

Ursel war noch allzu vertieft in diese Angelegenheit und sagte: »Aber müßt ihr euch so sehr anstrengen, habt ihr nicht genug hier im Hause zu tun?«

»O ja, wir hätten wohl, aber Mutter versteht die Kunst, die Zeit doppelt zu nehmen. Sie kann unglaublich viel leisten!«

»Und sieht doch so zart aus.«

»Ja, aber ihr Wille! Sie will alles daransetzen, unseren Wilhelm auf der Universität zu erhalten.«

»Das kostet gewiß sehr viel?«

»Kannst dir wohl denken! Ein Stipendium hat er ja glücklicherweise, aber das Leben kostet doch immer was, wenn man auch so bescheiden ist wie Wilhelm.«

»Und du? Das Geld, was du verdienst, gibst du das auch für deinen Bruder?«

»Nein, damit – bezahl' ich meine Klavierstunden!« rief Franzi mit glücklich triumphierendem Ton.

Ursel verstummte.

Klavierstunden, die ihr selbst ein notwendiges Übel dünkten, die sie lieber heut als morgen aufgegeben hätte, die verdiente sich diese Franzi durch mühselige Stickereien! Auf einem jämmerlichen, verstimmten Klavier übte sie mit dem größten Eifer, wenn alles andere getan war, wenn die Hände beinahe hart und steif von vielerlei Arbeiten waren, und der Obergärtner – der Hausherr – der sah das gar noch scheel an!

»Nun, du sagst ja gar nichts mehr?« rief Franzi lachend, »diese Handarbeitsangelegenheit gefällt dir wohl nicht?«

»Ach, Franzi, ich wünschte nur eben in Gedanken, du könntest meine Klavierstunden bekommen! Ich lerne beim besten Lehrer und die Stunde kostet drei Mark. Ich wollte lieber, Papa bezahlte sie für dich, und du brauchtest dich nicht so zu quälen.«

»O, so was fang nur nicht an, Ursel; diese Qual läßt sich noch ertragen. Aber sag, magst du denn keine Musik?«

»O ja, eigentlich sehr gern, aber lieber hören, als selber spielen. Ich hab' auch kein Talent und meine Finger sind nicht geschaffen dazu, mein Lehrer sagt es selbst. Inge, meine Schwester, spielt und singt.«

»So? Spielt sie schön? Spielt sie Beethoven?«

»Ich glaube nicht sehr viel, sie mag lieber andere Musik. Alle lieben ihre Tänze so sehr und die kleinen Lieder, in denen zum Schluß immer irgendwas Drolliges vorkommt; da wird dann immer geklatscht und gelacht.«

Franzi sah nachdenklich auf. »So sehe ich die Musik nun nicht an, zum Lachen und Amüsieren. Musik ist heilig und groß, ernst, oft traurig sogar, aber immer groß!«

Sie schwieg und sah in die Ferne, Ursel fand einen völlig neuen Ausdruck in den sonst so heiteren schwarzen Augen.

»Bei wem hast du denn Stunden?« fragte sie endlich beinahe schüchtern.

»Beim Schloßorganisten. Ob er der beste Lehrer ist, wie deiner, weiß ich nicht, aber sehr gut und gründlich nimmt er es mit mir, das ist gewiß. Einen Taler nimmt er auch nicht für die Stunde, wenigstens von mir nicht; Fräulein Elsner hat an ihn geschrieben, nun tut er es für eine Mark. Aber du kannst doch glauben, daß ich tüchtig sticheln muß, um so viel zusammen zu bekommen! Ich möchte so gern das Klavier stimmen lassen, das beim Umzug sehr gelitten hat, aber noch geht es nicht!«

»Also wollen wir schnell die Decke verkaufen!« rief Ursel stürmisch, »wie viel fehlt noch dran?«

»In fünf Tagen kann sie fertig sein, wenn ich täglich zwei Stunden zum Arbeiten komme; das ist aber auch das Äußerste, was ich an Zeit erübrigen kann.«

»Könnte ich dir doch helfen! Nächste Woche gehen ja meine Ferien an, aber ich verstehe diese Arbeit nicht.«

Franzi ließ die Decke sinken und umarmte Ursel. »Du bist ein Engel, und ich habe heute bös von dir gedacht! Verzeih mir's nur.«

In diesem Augenblick flog ein Rad vorbei, oder vielmehr, es verlangsamte seinen Gang vor der Gärtnerei, und eine Primanermütze wurde geschwenkt.

Diesmal erschrak Ursel nicht, sondern lachte fröhlich. »Das ist Axel!«

»Dein Bruder sieht dir gar nicht ähnlich,« meinte Franzi, und Ursel sagte: »Ach nein! Meine Geschwister sind alle blond und sehr hübsch, du sollst mal Inge sehen!«

»Na und du? Bist du etwa nicht hübsch?«

»Ach nein, gewiß nicht!« beteuerte Ursel so überzeugungsvoll, daß ihre Freundin lachte.

»Früher fand ich mich schon deshalb garstig, weil ich nicht blond bin, wie meine Geschwister, aber jetzt –« sie wurde rot – »jetzt sehe ich, daß auch schwarzes Haar hübsch sein kann!«

»Hier dieses meines Hauptschmucks wegen?« rief Franzi schelmisch. »Ich will dir was sagen, ob schwarz oder blond, darauf kommt's nicht an. Du bist ein süßes Seelchen, und das seh' ich an deinen Augen!«

Als Ursula endlich gegangen war, sprang Franzi zu ihrer Mutter und rief frohlockend: »Nun, Mutter, was sagst du?«

»Ich freue mich, mein Kind, und gönne dir diese Aussicht auf Sonntag von Herzen. Nur – sonderbar bleibt es doch, daß Ursula nicht früher zu Hause von dir gesprochen hat; denn daß sie es nicht getan, ist mir klar. Kannst du dir denken, Franzi, daß du es mir so lange verheimlicht hättest?«

»Nein, Mutter, ich nicht! Du sagst ja aber öfter, ich habe das Herz auf der Zunge!«

»Der Mutter gegenüber schadet das auch nicht. Ich möchte es wenigstens nicht anders.«

»Alle Mütter sind aber auch nicht wie du! Und Ursel ist sehr schüchtern – vielleicht muß ich mich auch ein wenig vor Sonntag fürchten – vielleicht ist Frau Dahland eine sehr strenge Frau?«


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