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27. Kapitel.
Ingeborgs Abschied

Als alle Gäste wieder abgereist waren, wurde die plötzliche Stille im Dahlandschen Hause beinahe schmerzlich empfunden. Nur die Kleinen frohlockten! Wenn gar zu viel »große Leute« da waren, wurde das auf die Dauer doch langweilig. Es gab zwar oft was Gutes zu essen, besonders an Kuchen und Mehlspeisen, man wurde auch öfter mal zärtlich getätschelt und geküßt, aber so recht Zeit hatte eigentlich niemand!

Der einzige Trost war also, die Großen im Spiel nachzuahmen, und so wurde vor allem »Brautpaar« aufgeführt. Einer von den kleinen Jungen wurde dann als Mädchen angekleidet, erstens, weil das ein Hauptspaß war, und zweitens, weil Elfchen als »zu groß« erklärt wurde; das ginge nicht, denn Inge sei wohl groß, aber Erik noch viel größer! Sie taten, als wenn der Schwager ein Riese wäre, und Robert reckte seine kleine Bräutigamsnase nach Kräften in die Luft. Elfchen drückte die Würde der »Mama« gewöhnlich durch eine Morgenhaube aus und wurde bedeutet, daß sie auch eine sehr wichtige Person vorstelle, denn war das Brautpaar nicht immer mit Mama zusammen? Hatte Mama wohl jetzt jemals Zeit für ihre kleinen Kinder?

Aber nun war ja diese Ausnahmezeit vorbei, und das Leben kehrte einigermaßen ins alte Geleise zurück. Im stillen freilich dauerte die Bewegung noch fort, denn man rüstete ja schon zu Inges Aussteuer.

So schwer und unglaublich es den Eltern zuerst schien – die jungen Leute wollten im Winter Hochzeit machen! Im Winter sollte Inge in das fremde kalte Land ziehen, von dem sie freilich lachend erklärte, ihr sei es schon warm und vertraut.

Inge war übrigens wundervoll abgehärtet; das gerade hatte dem Vetter zuerst solchen Eindruck gemacht, daß sie so frisch und unverzagt auf alles losging, was auch mit Anstrengung verknüpft war.

Und als er erklärte, wie er gerade im Winter viel mehr Zeit habe, erstlich zum Reisen und dann sich zu Hause gemütlich einzurichten, als er ihr ausmalte, welche traulichen Tage und Abende sie gerade um Weihnachten in dem schönen alten Holzhause verleben könnten, war sie mit Freuden bereit, schon Ende November ihm zu folgen.

Es bedurfte auch keiner allzu großen Ausrüstung; denn in dem alten reichen Gutshause, aus dem Eriks Eltern nur gerade so viel mitnehmen wollten, wie sie in ihrem künftigen kleinen Haushalt gebrauchten, waren solche Schätze von selbstgewebtem Leinen, daß Inge nur für ihre Person zu sorgen brauchte.

Die Kinder spielten jetzt eifrig »Brautpaar«.

Die Schwestern saßen nun noch so viel wie möglich zusammen, nähend und stickend, und dabei lasen sie sich vor. Nur nordische Literatur! Ursels von jeher so beliebte Frithjofsage kam noch einmal zur Geltung, und Inge hörte mit Staunen, wie die kleine Schwester ganze Gesänge daraus vortrug, ohne ins Buch zu sehen, und mit welch inniger Begeisterung sie »schön' Ingeborg« sagte.

Aber sie lasen auch Björnsons anmutige und tiefe Erzählungen und begeisterten sich für Naturschilderungen und Szenen wie zum Beispiel die, wo der Wacholder und die Fichte sich eines Tages bereden: Wollen wir nicht die Felswand bekleiden? Wie auch die Birke dazu hilft und das Heidekraut mitgenommen sein will, und wie die Felsenwand lächelt zu diesem liebevollen Bemühen der Pflanzenwelt.

Solche Schilderungen veranlaßten Inge, von dem zu erzählen, was sie selbst schon kannte von der nordischen Heimat, und sich auf das zu freuen, was Erik ihr für die Hochzeitsreise im Winter versprochen hatte.

Als dann das Scheiden wirklich heranrückte, wurde es dem Landgerichtsrat vielleicht am schwersten von allen in der Familie. Für ihn war und blieb Inge immer der Inbegriff von Sonnenschein, er allein hatte vielleicht nie die Schattenseite ihres sonst durch so viele Gaben ausgezeichneten Wesens erkannt, und er ließ sich seinen Kummer bei so vielen kleinen Gelegenheiten merken, daß Ursula noch einmal von ihrer alten Zaghaftigkeit befallen wurde und dachte: »Wie werd' ich jemals Inge ersetzen können? Papa wird mich nie so ansehen, und ich werde mir vorkommen wie ein Eindringling in Inges Reich.«

Und Inge, wie dieses ahnend, sagte in der letzten Stunde, in der sie sich noch einmal aussprachen: »Ihr sollt mich ja nicht vergessen, aber – ihr werdet mich auch nicht entbehren! Du, liebe Ursel, wirst allmählich den Eltern mehr werden als ich. Ich suchte noch so viel außerhalb des Hauses, so viel Vergnügen und Anerkennung in der Gesellschaft – du wirst mehr und mehr den Eltern leben und auch im Hause alles leisten, worauf es ankommt. Nur ein wenig Selbstvertrauen, Urselchen, den Überschuß von mir, den Erik nicht haben will, den laß ich dir zum Erbe!«

Sie küßten sich herzlich dabei, und wenn Ursel auch meinte, daß sie dies Vermächtnis wohl nie antreten würde, so dachte sie doch noch oft dieser Stunde und der letzten vertraulichen Worte ihrer Schwester.

Von oben bis unten in Pelz und warme Stoffe gekleidet, reiste Inge dann Ende November mit ihrem Mann gen Norden, und bald kamen Briefe mit Schilderungen der interessantesten Seereise im Winter, mehr aber noch von der Freude, nun im eigenen Hause sich gemütlich einzuleben. Nun saß sie auch als echt schwedische Frau am Webstuhl, und Wandteppiche und allerlei Bildwerk entstanden unter ihren Händen, wie zu Zeiten der sagenhaften »schön' Ingeborg«.

Franzis zweiter Winter in Berlin gestaltete sich noch viel reicher und mannigfaltiger als der vorige. War ihr der Unterricht auf der Hochschule bisher schon Freude und Lebensaufgabe gewesen, so wurden ihr jetzt die Gesangstunden zur wahren Wonne. Sie brachte außer der Stimme so viel natürliches Talent zum Singen mit, daß ihre Lehrmeisterin sich hüten mußte, zu sehr zu zeigen, wie viel sie von dieser Schülerin erwartete.

Aber dieses Semester wurde nicht nur reicher und schöner, sondern auch weit anstrengender! Franzi wollte und durfte natürlich nicht ihr Klavierspiel vernachlässigen, behielt auch wöchentlich eine Stunde bei und übte treulich nach wie vor.

Dazu kam, daß sie sich in den Kopf gesetzt hatte, sie könne nicht immer nur annehmen, was sie für ihren Unterhalt in Berlin gebrauchte, sie müsse selbst etwas hinzu verdienen. Kostete doch alles so schrecklich viel! Und wenn die Fürstin zwar alles gab, was Unterricht, Noten und Pension betraf, so blieb doch noch so manche kleine nötige Ausgabe, zu der es ihr fehlte. Und die Mutter mochte sie nicht um Geld bitten! Sie wußte, daß dies Jahr Wilhelm noch den bescheidenen Zuschuß brauchte.

So hatte sich denn Franzi in aller Stille nach einer Beschäftigung umgesehen, die ihr ein kleines Taschengeld einbringen sollte. Handarbeit wollte sie machen wie in Wendenburg; es standen ja alle Tage Anzeigen in der Zeitung, die sich auf dergleichen bezogen.

Freilich, als sie anfing, nach solchen Ankündigungen auf Suche zu gehen, merkte sie bald, daß es doch nicht so leicht sei, etwas zu erreichen. Es waren immer »viel mehr Störche als Frösche«, wie Herr Bauer zu sagen pflegte, das heißt es fanden sich wohl zwanzig und noch mehr Personen für jede einzelne ausgeschriebene Arbeit.

Oft kam Franzi zu spät, die weiten Wege ermüdeten sie und die Zeit, die sonst ihrer Musik zu gute kam, war unnütz verloren.

Sie sollte zwar täglich hinausgehen, gewissenhaft ihre Pausen im Studium innehalten; aber dann sollte es eine wirkliche Erfrischung, ein ruhiges Spazierengehen sein, kein Hetzen und Stürzen nach entfernten Straßen in einem unbekannten Stadtteil, kein Warten in dumpfen Geschäftsräumen, um dann schließlich doch unverrichteter Sache zurückzukehren.

Endlich aber hatte sie etwas erreicht. Eine Art leichter Stickerei wurde ihr übertragen, die zwar sehr schnell fertigzustellen war, aber auch dementsprechend gering bezahlt wurde. Und so entsetzlich eintönig und langweilig in der Ausführung! Aber das sollte nicht schaden; Franzi hatte ja so viel Interessantes zu denken, daß die Zeit bei so mechanischer Beschäftigung ihr doch niemals lang werden konnte.

Aber woher die Zeit eigentlich nehmen? War nicht schon der ganze Tag besetzt? Es schien schwierig, sich diese Muße noch abzuzwacken; aber sie machte es dennoch möglich, stand etwas früher auf, kürzte ihren Spaziergang ab, saß nie mehr nach Tisch ein Halbstündchen feiernd oder lesend, nahm auch zu ihren Besuchen bei Leontine ihre Handarbeit mit.

Daß immer alles zu bestimmter Zeit geliefert werden mußte, regte sie etwas auf; aber wenn sie dann einen Karton voll Sachen fortgebracht hatte und mit einem bescheidenen Sümmchen zurückkehrte, empfand sie doch eine gewisse Befriedigung.

In der Pension waren manche Veränderungen eingetreten, neue Pensionärinnen, mitunter auch so weltfremde, wie Franzi damals selber gewesen, denen gegenüber sie sich nun schon als alte Berlinerin fühlte und sich gern behilflich zeigte, wo sie konnte.

Fräulein Zimmermanns Liebling war sie vom ersten Tage an gewesen; ja die alte Dame hatte zu ihrer Allerjüngsten das größte Vertrauen und wagte es, sich auch zuweilen über ihre Sorgen und Schwierigkeiten auszusprechen. Und Guste, die Vielgeplagte, ging durchs Feuer für Fräulein Trautmann! Auch die Portierleute unten nannten sie einfach »unser Fräulein« oder »die kleene Schwarzbraune«, und die Kinder aus der Kellerwohnung grüßten sie vertraulich.

Portiers »Willem«, ein kleiner drolliger Stöpsel von sechs Jahren, war ihr besonderer Freund, und obwohl sie nie Bonbons oder dergleichen für ihn hatte, sah er doch immer mit einer gewissen Erwartung zu ihr auf.

Eines Tages gab Franzi Willem ihre Notenmappe einen Augenblick zu halten, während sie die Handschuhe zuknöpfte.

»Die scheene Mappe,« sagte der Kleine und streichelte das grüne Leder.

»Bilder sind leider nicht darin,« erwiderte Franzi; er fiel ein: »Det weeß ick. Da is Musike drin!«

Franzi lachte, und er fuhr fort: »Wat is dat für 'n Kopp da drauf, Fräulein?«

»Der Kopf von einem Mann, der wunderschöne Musik gemacht hat.«

»Junge!« rief Franzi entzückt, »du mußt Musikant werden!«

»Laß sie mal sehen, die Musike!«

Franzi nahm ein Notenheft heraus und hielt es dem kleinen Frager belustigt hin.

Er machte ein kritisches Gesicht und meinte wieder: »Ja, aber klingt se denn ooch? All die kleenen dicken schwarzen Köppe un Striche – de klingen doch nich?«

»O ja, sie klingen, wenn man es nur recht versteht! Hör mal, dies klingt so!« Sie trommelte mit den Fingern und sang eine kleine heitere Stelle aus einem Mozartschen Andante.

Willem hörte mit offenem Munde und verständnisinniger Miene zu, und als seine große Freundin dann eilig fortging, trommelte er auf sein Lederschürzchen und pfiff die eben gehörte Melodie.

Am nächsten Tage erwartete er Franzi wieder und rief triumphierend: »Hab's wohl jehört, wie du oben Musike jemacht hast!«

»Wirklich?« fragte Franzi. »Woher wußtest du denn, daß ich es war? Da spielen doch mehr Damen Klavier!«

»Hab' doch jehört, wie du so wie gestern machtest: Bum, bum – trallera, la, bum!« und er schmetterte ihr mit stolzer Miene die paar Takte Mozart vor.

»Junge!« rief Franzi entzückt, »du bist ja ein Prachtkerlchen; du mußt Musikant werden!«

»Will ick ooch,« sagte Willem stolz, »kein Schuster un kein Schneider nich, ick wer' Flötiste oder Trommelschläger!«

Nun war die Freundschaft zwischen den beiden erst recht besiegelt, und eines Tages sagte die Portiersfrau ein bißchen verlegen und doch zutraulich: »Ach Fräulein, der Junge, der Willem, hat jetzt nichts im Kopp, als daß er möcht' Fräulein Musike machen hören! Mal dichte bei, Mutter, sagt er, mal sehen, wie die schwarzen Köppe tun, wenn se klingen wollen! Wär's wohl sehr unbescheiden, wenn ich Fräulein bäte, ihn einmal mit nach oben zu nehmen?«

»O gern, Frau Lehmus,« antwortete Franzi freundlich, »schicken Sie ihn doch gleich! Der kleine Bursch macht mir ja selbst so viel Spaß.« – Eine Viertelstunde darauf läutete der frischgewaschene, strahlende Willem oben an der Tür, und auf Gustes erstaunte Frage: »Na, wat willst du denn?« antwortete er prompt: »Fräulein besuchen.«

»Welches Fräulein denn?«

Er zögerte einen Augenblick, und dann kam's lustig heraus: »De kleene Schwarzbraune!«

Da lachte Guste, und auch Franzi steckte schon den Kopf aus der Tür, um ihren kleinen Gast in Empfang zu nehmen. Dann spielte sie ihm in allem Ernst etwas vor, und der Junge hörte ernsthaft zu. Schließlich untersuchte er das Klavier von unten und oben, schlug selbst ein paar Töne an und freute sich darüber, daß unter seinen kleinen Fingern wirklich welche kamen, besah immer wieder kopfschüttelnd die Noten und hörte dann mit so klugem Ausdruck zu, wenn Franzi ihm etwas erklärte, daß diese zum ersten Male dachte: »O hätt' ich einen solchen kleinen Schüler!«

Aber Willem war doch noch zu klein, eben erst in die Schule gekommen; an dem konnte sie ihre Unterrichtslust nicht befriedigen, obwohl der Portier eines Tages sagte: »Ach Fräulein, was jäb' ick drum, wenn der Junge Musik lernen könnte! Wat hab' ich immer für Musik jeschwärmt!«

»Also daher hat er es,« meinte das junge Mädchen freundlich, »na, Meister Lehmus, was nicht ist, kann ja noch werden! Lassen Sie ihn nur erst ein bißchen heranwachsen; nächstes Jahr will ich es gern mal mit ihm versuchen.«

Aber Franzi sollte schon jetzt dazu gelangen, ihre Unterrichtskunst zu probieren, und zwar durch Vermittlung der Portiersleute. Es wohnte im Hinterhause in sehr bescheidenen, aber nicht unfreundlichen Räumen eine Witwe, die wohl bessere Tage gekannt hatte und nun ein stilles, arbeitsames Leben in großer Einschränkung führte.

Von dieser erzählte Frau Lehmus, da Franzi die Bewohner des Hinterhauses natürlich nicht kannte, lobte die fleißige Frau und die netten Töchter und sagte schließlich: »Ach, Fräulein, ich weiß, die kleine Lieschen wünscht sich so brennend jerne Klavierunterricht, die Mutter aber kann nich viel bezahlen und traut sich drum bei keinem Lehrer anzufragen. Fünf Groschen will se dran wenden – was meinen Sie, Fräulein, können Sie es dafür tun?«

Voll Spannung hatte Franzi zugehört und rief nun ohne Besinnen: »Ja, ja, ich will es tun! Lassen Sie Lieschen Braun nur zu mir kommen.«

Es kam aber nicht Lieschen, sondern die Mutter selbst, und nach manchen bescheidenen Einwendungen ihrerseits, ob sie es auch wirklich für so geringes Honorar von Fräulein Trautmann annehmen könne, nach freundlichen Versicherungen von Franzi, daß sie sich so etwas gerade gewünscht hätte, kam dann eine Verabredung zu stande, und das überglückliche Lieschen Braun erschien zweimal wöchentlich oben in der Pension, gewöhnlich von Willem Lehmus bis an die Gangtür begleitet.

Ja, es war ein reiches Leben voller Tätigkeit und Anregung in jeder Art, und Franzi merkte es lange nicht, daß es allmählich zu viel des Guten für sie wurde.

Aber Frau Professor Gerstenberg merkte es! Ihre liebe Schülerin ließ zwar nicht an Fleiß und Aufmerksamkeit nach, aber die Fortschritte entsprachen doch nicht ihren Erwartungen. Die junge, weiche Stimme wurde nicht kräftiger, sondern schwächer! Ja, sie schien manchmal völlig ohne Schmelz, und es konnte vorkommen, daß Franzi unrein sang!

Dann wurde sie rot und ängstlich, und Frau Professor sagte schließlich: »Wir müssen pausieren, Fräulein Trautmann. Nicht bloß heute, sondern überhaupt eine Weile die Stunden aussetzen – vielleicht vier Wochen, möglich auch, daß vierzehn Tage genügen.«

Franzi erschrak aufs äußerste, so daß die Lehrerin begütigend fortfuhr: »Nun, erschrecken Sie nicht zu sehr; das kommt bei Anfängerinnen öfter vor. Ich meine zwar, Sie nicht überanstrengt zu haben, aber eines tritt zum anderen; vielleicht verlangt auch Ihre frische kräftige Natur, über die ich meine Freude hatte, einmal eine Ausspannung.«

»Muß ich auch zum Arzt gehen?« fragte Franzi leise und unglücklich.

»Nein. Hiervon verstehe ich noch genug, da brauchen wir keinen Arzt. Es ist keine Halskrankheit im Spiel, nur allgemeine körperliche Abspannung. Sie müssen Ruhe haben. Üben Sie auch nicht viel Klavier in dieser Zeit, gehen Sie fleißig an die freie Luft, lesen Sie etwas Hübsches und so weiter. Vor allen Dingen sprechen Sie nicht zu viel und laut.«

So hatte Franzi plötzlich Ferien und fühlte sich furchtbar unglücklich! Sie mochte niemand von ihrem Kummer erzählen, und es vergingen auch mehrere Tage, bis man es in der Pension bemerkte, daß die kleine Lerche schwieg.

Nun setzte das gutmütige Fräulein Zimmermann gleich mit besonderer Pflege ein; Franzi mußte schon zum Kaffee ein Ei oder Schinkenbrot essen, und bekam Mittags kräftiges Malzbier. Guste aber kam heimlich mit »Hoppelpoppel«, Eigelb mit Zucker geschlagen, und verkündete: »Hab' ich vom Eierkuchen abjespart; merkt keiner, wenn eins weniger dran ist!« Oder sie brachte Backpflaumen und behauptete, die täten allen Sängerinnen gut.

Franzi war sehr gerührt, aber betrübt blieb sie doch! All die schöne Zeit, die sie nun verlor! Sie wußte gar nicht, was damit anfangen. Ihre Stunden an Lieschen Braun gab sie weiter und bemühte sich, wenig und leise zu sprechen. Auch stickte sie noch für das Geschäft, aber neue Arbeit wollte sie doch lieber nicht mehr holen; sie sollte sich ja ausruhen.

In dieser Zeit sah Frau Professor Gerstenberg sich einmal nach ihrer Schülerin um. »Nun, wie steht's, Fräulein Franzi; können wir bald wieder anfangen? O, noch immer etwas matt, das Stimmchen? Nun, nur Geduld, wenn die Märzsonne erst kräftig scheint, wird's schon wieder gut werden. Nur nichts mit Gewalt erreichen wollen! Sie wohnen hier ja sehr nett, und was machen Sie da? Leichte Handarbeit – das ist recht, nur nicht zu viel.«

Verlegen packte Franzi auf ihrem Tisch etwas zusammen; da stieß sie einen Karton herab, und eine Menge fertiger Stickereien fiel heraus. Die Professorin stutzte.

»Was ist denn das? Doch nicht alles selbst gearbeitet? Ja, Kind, haben Sie denn einen Laden hier?«

Franzi erklärte errötend den Zusammenhang, und Frau Gerstenberg wurde sehr ernst. »Aber Fräulein Trautmann. Das ist alles sehr gut gemeint, sehr lieb gedacht, aber Sie tun doch ein großes Unrecht damit!«

Franzi erschrak, und die Lehrerin fuhr fort: »Nun ist es ja völlig klar, woher die Stimmlosigkeit und das elende Aussehen kommen. Sie haben sich nicht bei uns überanstrengt, sondern hier auf eigene Hand! Stunden gegeben und Stickereien für Geschäfte gemacht – was nicht noch?! Nein, nein, das muß alles aufhören, auf meine Verantwortung. Sagen Sie – wie ist es doch – ich meine, Ihre Fürstin bezahlt für Ihre Ausbildung?«

»Ja,« sagte Franzi leise, »ich bekomme alles dazu; aber das Leben in Berlin ist doch so teuer, und es finden sich immer wieder kleine Ausgaben und nötige Anschaffungen, von denen ich nichts sagen mag!«

»Und da setzen Sie lieber Ihre Gesundheit, Ihre Stimme, Ihre Zukunft aufs Spiel? Törichtes Mädchen, ich kann Ihnen freilich nicht böse sein, aber ich sollte es eigentlich.«

»Ich habe es nicht gewußt, daß ich mir schaden könnte!«

»Gewiß, aber jetzt wissen Sie es, und nun folgen Sie mir. Diesen Plunder hier, den sollen Sie zwar nicht gerade zum Fenster hinauswerfen, aber doch schleunigst im Geschäft abliefern, fertig oder unfertig, und dann –«

»Aber mein Lieschen darf ich doch behalten?« forschte Franzi ängstlich. »Sie macht gerade so nette Fortschritte.«

»Nun, wenn Ihr Herz so dran hängt – und wenn Sie leise und wenig sprechen wollen! Was bekommen Sie denn für die Stunde?«

»Fünfzig Pfennig.«

Die Professorin wandte sich ab, und ein eigentümlicher Ausdruck flog über ihr Gesicht. Dann nahm sie Franzis Kopf in beide Hände und sagte liebevoll: »Sie sind ein tapferes Mädchen! Ich hoffe zum Himmel, die Kunst wird Sie einmal reich entschädigen und Sie frei und selbständig machen. Aber für jetzt nehmen Sie ohne Scham an, daß man für Sie sorgt, und seien Sie nichts als dankbar. Sie werden es Ihren Wohltätern gewiß noch heimzahlen! Es klingt recht gut und heroisch, ›aus eigener Kraft‹ etwas zu erreichen, aber es ist in diesem Fall nicht möglich. Sich abarbeiten und dabei die Stimme pflegen und bilden, das paßt nicht zusammen. Sie sehen, Sie haben bis jetzt mehr Schaden als Nutzen davon gehabt.«

»Ich sehe es ein,« gestand Franzi betrübt, und Frau Gerstenberg fuhr fort: »Heute möchte ich eine kleine Zerstreuung für Sie. Kommen Sie mit mir, Sie waren gewiß lange nicht im Opernhaus?«

»Ach, noch gar nicht.«

»Was –! Den zweiten Winter in Berlin und noch nicht in der Oper?«

»Ich komme ja häufig in Konzerte durch die Freibillette von der Hochschule, aber Theater –«

»Nun, jetzt sollen Sie aber ins Theater! Heute hören wir uns ›Lohengrin‹ an.«

Franzis Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Strahlend und glühend saß sie am Abend neben ihrer verehrten Lehrmeisterin im Opernhaus, und für die erfahrene Frau war es ein seltener Genuß, den Eindruck zu beobachten, den diese Wunderwelt auf das empfängliche junge Gemüt ausübte.

Von diesem Tage an lebte Franzi sichtlich wieder auf, und als der März kam, zeigte es sich, daß Frau Professor recht gehabt: Die Stimme war ausgeruht und wurde bald voller und schöner als je. Bei der Osterprüfung an der Hochschule war Franzi Trautmann diejenige, auf die das gesamte Lehrerkollegium aufmerksam wurde und die auch dem geladenen Publikum am meisten Freude machte.

So klang dieser Winter, der eine Weile ein ernstes Gesicht gezeigt hatte, für Franzi doch noch schön und freudig aus.


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