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23. Kapitel.
Der stille Winter

Während Franzi Trautmann sich so in ein neues reiches Leben eingewöhnte, waren im Hause Dahland jetzt viele leere Plätzchen; Mama ertappte sich manchmal darauf, daß sie gedankenverloren durch die Räume ging, als müßte sie ihre Kinder suchen.

Sah sie in Axels »Bude« hinein, wo all die Raritäten der glücklichen Schülerzeit an den Wänden hingen, dann dachte sie, was künftig wohl alles hinzukommen würde an Merkwürdigkeiten und Trophäen aus fernen Ländern. Und dann wurde ihr so eigen ums Herz, daß sie sich manches Mal den ihr von den kleinen Buben überbrachten Spruch vorsagen mußte: Ich hab's gewagt! Und ich will eine tapfere Mutter sein!

Kam sie dagegen in Inges kleines Reich, so wurde sie fröhlicher gestimmt. Vermißte sie auch ihre Älteste oft, so gönnte sie ihr doch von Herzen die Reise und all die neuen Eindrücke in dem fremden Lande, das Bekanntwerden mit den Verwandten von der schwedischen Linie.

Auch sagte sie sich, daß dies nur eine Trennung auf kurze Zeit sei. Einen Sohn aber, wenn man den einmal von Hause gelassen hat, bekommt man nie zurück! Er wird selbständig, ein Mann, auf den man gewiß mit Freude, vielleicht mit Stolz blickt, aber – er ist das Kind nie mehr!

Die stillen Stunden benutzte die Rätin zu vielen schönen Briefen an ihre Kinder, und da die Antworten nicht spärlich kamen, da zwischen Ursel und Franzi auch zahllose Briefchen hin und her flogen, war der Postbote nahezu die wichtigste Person für das Dahlandsche Haus.

Die kleinen Jungen fanden, daß Briefträger am Ende noch ein besseres Geschäft sei als Orgeldreher. Denn der letztere wurde oft ärgerlich weggeschickt, wenn er zu lange vor einem Hause leierte; dem Postboten aber lief alles entgegen, er bekam manchmal ein Trinkgeld, oder wenn es sehr kalt war, einen warmen Schluck.

Also spielten sie jetzt Postbote, knifften zierliche Briefchen und packten Pakete, und Elfchen, mit ihren neuerworbenen Schulkenntnissen prunkend, schrieb wunderschöne i und a darauf. Oder auch Ursula mußte sich erbarmen und die vollständige Adresse schreiben, damit die Sendungen richtig abgegeben werden konnten. Und wenn dann die Enttäuschung groß war, weil in dem vielversprechenden Briefe nichts drin stand, mußte Ursula das Spiel noch erweitern und wirkliche Briefe schreiben; denn die Kleinen sagten: »Du kannst das so schön; du hast ja schon an die Fürstin geschrieben.«

Übrigens machten sie es ihr auch leicht und diktierten. So bekam Papa eines Tages folgenden Brief:

»Lieber Papa, ich kann doch auch ganz gewiß Husar werden? Und Du mußt Dich wohl bald für mich erkundigen bei dem Onkel Oberst.

Dein Sohn Robert.«

Und Mama fand in ihrem Nähkorb folgendes:

»Liebe Mama, wenn Du zu Markt gehst, bringe mir doch lieber keine Süßigkeiten mit, und ich will auch keinen Zucker in der Milch mehr haben, sondern lieber fünf Pfennige. Ich muß einen neuen Griffel haben, und Papa sagt immer, es ist alles so teuer.

Dein lieber Bertram.«

Elfchen aber schrieb:

»Liebe Mama, ich hab' so furchtbar viele Freundinnen in der Schule; darf ich wohl mal eine Kindergesellschaft geben? Mehlspeise kann ich selbst machen, von Schnee und 'n bißchen was Rotes, was manchmal Mittags übrig bleibt; das ist dann Eis.

Deine kleine Elfi.«

Letzteren Brief schrieb Ursel beinahe mit Wehmut. Also Elfchen fing jetzt schon an, »furchtbar viele Freundinnen« zu haben! Sie würde gewiß immer ein beliebtes, glückliches Kind sein. – Aber war Ursel jetzt nicht auch glücklich? Sie hatte es nun so, wie sie früher manchmal gedacht, daß es schön sein müsse: sie war die Älteste zu Hause!

Und sie fühlte, daß auch Mama sie so ansah, ihr manche kleine Pflicht von Inge übertrug, manch eingehendes Gespräch mit ihr pflegte.

Es war wirklich, um eine gute aufmerksame Tochter sein zu können, wie sie sich's in kindlicher Phantasie ausgemalt hatte, nicht nötig, daß eine Mutter krank und hinfällig wurde, oder ein Vater verarmte. Mama war frisch und gesund, Papa unermüdlich im Amt – aber dennoch! Wie viel konnte man einander geben, an Fürsorge, Liebe und Zutraulichkeit.

Letzteres besonders war es ja, was Ursula früher gefehlt, was sie so wenig zugänglich auch für andere gemacht hatte.

Der Kampf der verschlossenen Naturen, die es so schwer haben im Leben, obgleich sie oft die wertvolleren sind im Vergleich zu den allzeit Fertigen und Mitteilsamen, bei denen alles Gute auf der Oberfläche liegt, was so oft auf noch mehr schließen läßt, als wirklich vorhanden ist!

Eine Veränderung gab es auch noch für Ursel, daß sie jetzt Inges Zimmer benutzen durfte, dort ungestört arbeiten, lesen und auch manchmal Besuch empfangen konnte. Ja, auch Besuch! Ursel war nicht mehr so völlig einsam. Die Mitschülerinnen, denen sie in der ersten Zeit langweilig und unverständlich gewesen war, fingen zum Teil an, sich für sie zu interessieren. Sie wurde zuweilen eingeladen und auf Mamas Wunsch mußte sie darauf eingehen.

»Deine Franzi kann und soll gern die Erste bleiben in deinem Herzen, Kind; aber du mußt dich doch daran gewöhnen, sie künftig nur selten hier zu haben. Du würdest allein stehen, wie es früher mein Kummer war und wie es dir auch nicht gefallen würde, wenn du erst die Schule verlassen hast. Darum nimm das Entgegenkommen von einzelnen freundlich auf.«

Ursel sah das ein, und als Vicky von Sontheim sich immer deutlicher ihr näherte, wich Ursel nicht mehr aus; aber sie unterließ nicht, in jedem Brief an Franzi zu erwähnen, wie sie sich jetzt ständen, und wie intim sie noch nicht wären und auch niemals werden würden.

Vicky, als die Tochter des Hofmarschalls, hatte natürlich die Geschichte von Ursels Brief an die Fürstin und allem, was danach kam, gehört und das hatte ihr die stille Ursula Dahland plötzlich interessant gemacht. Sie dachte es sich der Mühe wert, diese näher kennen zu lernen. Als Ursula zum ersten Male einen Abend bei Sontheims verlebt hatte, kam sie beinahe begeistert zurück, und zwar – von Vickys Mutter!

»Das ist eine Frau!« schrieb sie an Franzi, »wenn die ins Zimmer kommt, wird alles hell. Sie sieht aus wie eine Fürstin, so groß und schlank und aufrecht, und sie spricht und gibt sich so, aber man fürchtet sie gar nicht. Man liebt sie gleich, und vor heller Bewunderung benimmt man sich auch selbst besser als sonst. Ich war wenigstens beinahe mit mir zufrieden!

»Auf dem Tisch im Salon lag Deine Decke; wie mich das anheimelte! Und Frau von Sontheim meinte, ich vermißte gewiß meine Freundin Franzi Trautmann sehr; Vicky aber würde sehr gern mit mir öfter verkehren. Wir könnten uns ja ein Kränzchen einrichten!

»Denk Dir, ich Einsiedler, wie ich oft in der Schule genannt worden bin, mit einem Kränzchen! Es ist nun wirklich was draus geworden. Wir sind nur vier, Vicky, Olga Rettich und Magda Henseler. Es mag ja recht nett werden. Gestern bei Henselers hat es mir gut gefallen. Magdas Mutter war auch eine Weile bei uns und empfahl uns Bücher zum Vorlesen.«

So hatte denn Ursel nun wirklich einen kleinen Verkehrskreis, und wenn es auch nicht gleich zu dem kam, was sie unter Freundschaft verstand, so war's doch eine freundliche Anregung, die ihrem äußeren Wesen und Sein nur zum Vorteil gereichte.

Sie quälte sich jetzt nicht mehr mit Gedanken, daß sie »dumm« sei oder »häßlich« oder »zurück«, und daß niemand sie leiden möge; sie ging ruhig und einfach ihren Weg, ohne über Zurücksetzungen oder Bevorzugungen nachzudenken.

Mama nahm mit inniger Freude jede Gelegenheit wahr, ihre junge Tochter, in der jetzt so viel zur Entwicklung kam, immer näher an sich heranzuziehen. Und Ursula, in der Sehnsucht nach völligem Vertrauen, in dem Drang, alle inneren Unklarheiten loszuwerden, faßte eines Tages plötzlich einen Entschluß und erzählte Mama von ihrem Tagebuch mit dem Zusatz: »Willst du es lesen, Mama, ehe ich es verbrenne?«

Die Mutter zögerte einen Augenblick, dann nahm sie Ursulas Hand und sagte: »Und wenn ich es schon gelesen hätte?«

Ursula wurde rot und blaß, und nachdem die Mutter erklärt hatte, wie sie dazu gekommen, rief sie: »Du hast es gelesen? Und du bist mir nicht böse gewesen – hast nichts gesagt – mich nicht beschämt? O Mama!«

Sie drückte den Kopf an der Mutter Schulter und mochte nicht wieder aufsehen.

Mama aber sagte: »Böse war ich nicht, meine Ursel, aber traurig natürlich. Ich hatte nie so etwas mit einem meiner Kinder erlebt. Aber es hat uns nicht geschadet. Dir nicht –, denn du hast, grade wenn du deine Klagen niedergeschrieben hattest, immer gleich erkannt, wie viel Ungerechtfertigtes dazwischen war, und bist zu guten Vorsätzen gelangt. Und mir – hat es die Augen öffnen helfen über mein stillstes Kind, das anders war als die anderen, aber mir gewiß nicht weniger lieb! – Sieh, Ursula, das Schwerste für eine Mutter ist es, wenn sie sieht, ein Kind wendet sich ab, will gar nicht die Liebe und Zärtlichkeit der Ihren! So aber war's ja nicht bei dir! Dein junges Herz glühte für uns, aber wußte es nicht zu zeigen. Es glaubte nicht an seine eigene Kraft, und darum auch nicht an die Möglichkeit, von uns so wiedergeliebt zu werden.«

Ursula richtete sich mit großen verklärten Augen auf. Mama hatte nicht nur im Tagebuch, sondern auch in ihrer Seele gelesen. Und sie hatte sich seitdem – Ursel fühlte es jetzt ganz genau – nur liebevoller um alles gekümmert, was Ursel betraf, hatte ihr so viel gewährt und die große Freundschaft ihres Lebens mit solcher unendlichen Güte gefördert.

»Du hast es gelesen? Und bist mir nicht böse gewesen?«

»Du warst zu viel allein,« fuhr Mama fort, »du standest zwischen den Großen und Kleinen, und da gerade, als ich dies erkannte, als ich dir von ganzer Seele eine Freundin wünschte, da gab der Himmel dir Franzi! Denn so müssen wir es doch auffassen, wenn ich dich auch ihr auf den Weg geschickt habe – mit dem Spargelkörbchen!« schloß sie mit leichterem Ton, um der Rührung Herr zu werden.

»Du mußtest mich schicken, weil dein lieber Wunsch für mich schon erhört war,« sagte Ursula bewegt und küßte Mamas Hand. Diese nahm sie noch einmal in die Arme, und Ursula sagte nur noch leise: »Wie schön ist jetzt alles! Ich dachte, nach diesem Sommer würde mir der Winter recht traurig vorkommen, aber er ist wunderschön!«

Schön fand auch Ingeborg ihren Winter, aber in anderer Weise. Ihre Briefe waren voll Lust und Leben, ihr Aufenthalt in Schweden schien ein fortgesetztes Fest.

Zuerst war sie auf einem Gut gewesen, hatte die große Gastlichkeit dieser Gegenden kennen gelernt, sowie manche neue Haussitte. Sie hatte sich gehörig draußen getummelt, und als der frühe Winter eintrat, war sie auf Schneeschuhen von einem Hof zum anderen gefahren, oder im Schlitten über den See!

Karin und Erik, ihre jungen Verwandten, schienen sich ihr mit Begeisterung angeschlossen zu haben, und jetzt in der Hauptstadt erweiterte sich ihr Kreis von Tag zu Tag. In Stockholm schien die Geselligkeit im vollen Gange, und nach der Art, wie Inge sich darüber ausließ, bekam sie ein volles Maß von allem, was man sich im Gesellschaftsleben nur wünschen kann. Fast war es den Eltern zu viel!

Der Vater meinte: »Wenn es nur nicht ihrer Gesundheit schadet!« und die Mutter fügte nachdenklich hinzu: »Und ihrer Seele! Sie wird uns zu eitel gemacht; es spricht mir ein reichliches Maß von Selbstbewußtsein aus ihrem Ton.«

Aber Inge schlug auch andere Saiten an. Sie schwärmte für das schwedische Land, und mitten aus dem Trubel der Hauptstadt schien sie sich manchmal hinauszusehnen nach Göstaborg mit seinen verschneiten Wäldern und seinem blitzenden See, nach den dortigen Verwandten, die ihr bis jetzt doch die Liebsten seien. Leider kämen Karin und Erik nicht nach Stockholm, weil zu Hause unentbehrlich. Erik zumal besorge eigentlich die ganze Verwaltung des großen Guts, auch mache er sich nichts aus hauptstädtischem Leben. Ehe Inge nach Deutschland zurückkehre, würde sie jedenfalls die letzte Zeit noch in Göstaborg zubringen; so sei es ausgemacht.

Hier ließ die Rätin den Brief sinken und sah gedankenvoll vor sich nieder. Die Möglichkeit, daß aus der kurzen Trennung eines Winters doch eine dauernde werden, daß ihre Älteste in dem fremden Lande eine neue Heimat finden könne, stieg in ihr auf. Sie sann und sann, ohne mit jemand darüber zu sprechen, und dachte schließlich: »Urselchen, wie bald kann's kommen, daß du die Älteste zu Hause bist! Gottlob, nun bist du aber auch mein mir völlig vertrautes Kind.«

Ursula korrespondierte nicht viel mit der Schwester, desto mehr aber zu ihrem eigenen Erstaunen – mit Axel. Und sie war stolz auf die genauen Schilderungen seines Lebens und merkte sich alle technischen Ausdrücke so gut, daß sie immer folgen konnte, wenn Papa aus der Zeitung über Marineangelegenheiten vorlas. Sie fand jetzt, daß sie doch erstaunlich viel zu lernen habe, abgesehen von der Schule; denn was mußte sie nicht auch um Franzis willen alles in ihren Ideenkreis aufnehmen, was ihr sonst ferngelegen hatte!


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