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1. Kapitel.
Ursulas Stoßseufzer

»Ursel – Ur–su–la!« rief eine helle Stimme durchs Haus. »Wo sie nur wieder stecken mag! Weißt du's nicht, Axel?«

»Wahrscheinlich hat sie wieder ihre Tarnkappe auf!«

»Tarnkappe? Was willst du damit sagen?«

»Na ja, sie versteht doch die Kunst, sich unsichtbar zu machen.«

»Ja, wirklich, du hast recht, und gerade immer dann, wenn sie einem mal nützen könnte.«

»Was nicht oft der Fall ist, meinst du. Mitunter ist die Tarnkappe auch bloß geistiger Art, wir sehen Ursel, aber sie sieht uns nicht. Ihr Persönchen ist vorhanden, aber ihr Geist schwebt wieder wo anders.«

»Ja, sie ist wirklich noch recht wenig zu gebrauchen!«

»Und hat doch so ein glänzendes Beispiel an ihrer Schwester!«

»Alexander!«

»Ingeborg?«

»Nicht respektlos sein gegen deine Älteste.«

»Sind Komplimente respektlos?«

»Du neckst ja doch nur.«

»Ich denke nicht daran! Niemand kann von deinen Vorzügen mehr überzeugt sein als dein Bruder.«

»Du scheinst dich wirklich zum Kavalier auszubilden, aber es steht dir gut. Nun sag nur, wo finden wir Ursula?«

»Was soll die Kleine?«

»Ach, ich dachte, die Kleine wäre einmal groß genug, um die ganz Kleinen eine halbe Stunde beaufsichtigen zu können. Die Eltern sind zum Diner, weißt du, und ich –«

»Du möchtest gern in den Schloßgarten?«

»Fehlgeschossen! Ich möchte Mamas Abwesenheit benutzen und die Truhe zu ihrem Geburtstag fertig machen, und nun fehlen mir Farben.«

»Ich war der Meinung, die Truhe wird gebrannt?«

»Ja, die Brennarbeit ist schon fertig, aber die Flächen werden ausgemalt, ich muß durchaus zu Neumann und mir Chromgelb und Kobaltblau holen.«

»Ist denn die Muschbergen nicht da, daß sie auf die Kleinen aufpassen kann?«

»Nein, Musching kommt heute nicht, sie hat es ›ins Kreuz‹, wie sie sagt.«

»Da wird dein galanter Bruder gehen und die Farben holen!«

»Axel, du bist wirklich nett!«

»Wie immer! Also Stromblau und Koboldgelb?«

Ingeborg lachte und verbesserte, darüber ließen sich neue Stimmen vernehmen: »Inge, kommst du noch nicht?«

»Ja, Kinderchen, eigentlich sollte Ursu –«

»Ach, nicht Ursel, die ist gar nicht lustig! Die guckt immer bloß in ihre dummen Bücher und sagt: Ja, ja – geht nur – ich komme – aber sie kommt nicht.«

»Nun, ich komme. Aber recht artig müßt ihr sein, nicht toben und zanken, Inge hat zu arbeiten.«

Die Stimmen verloren sich im Kinderzimmer.

Inzwischen saß die Vermißte oben im zweiten Stock des Hauses, hatte sich im Fremdenzimmer eingeschlossen und schrieb.

Ahnungslos, daß man sie suchte und daß die Geschwister so über sie urteilten, saß sie in ihrem sicheren Versteck und schrieb in ein blaues Heft:

»Ich bin wirklich sehr unglücklich!

»Und weil ich das niemand sagen kann, darum will ich ein Tagebuch führen, um mich doch einmal aussprechen zu können. Eigentlich müßte ich dazu ein fein in Leder gebundenes Buch haben, das sich verschließen läßt, aber so weit reicht mein Taschengeld nicht, und wenn ich bäte, etwas aus der Sparbüchse nehmen zu dürfen, die Papa in Verwahrung hat, müßte ich ja sagen, wozu ich das Geld haben will. Das aber geht nicht, niemand soll es wissen, daß ich schreibe, sonst necken sie mich, wollen es lesen, es mir wegnehmen – o, ich kann mir schon alles denken! Und darum muß es mein Geheimnis bleiben und ein blaues Schreibheft muß genügen. Das ist auch unauffällig, das werden sie wohl nicht entdecken.

»Eigentlich schreiben ja nur berühmte Leute ein Tagebuch, während ich gar keine Aussicht habe, das jemals zu werden. Ich habe keine Talente und bin überhaupt ein recht gewöhnliches Menschenkind, nicht mal ein bißchen hübsch! Nie werde ich so aussehen und sein, wie meine Schwester Inge, nie den Menschen gefallen. Ich finde sie wirklich auch reizend, sie ist so blond und so hell, und immer freundlich gegen alle Leute – nur nicht grade immer gegen mich! Aber das kommt davon, weil ich so garstig bin, – nun und davon kommt wiederum mein Unglück!

»Inge ist zwanzig Jahre alt. Wie sie als Backfisch gewesen ist, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen, denn ich bin fünf Jahre jünger, aber sie war gewiß immer nett. Sie hat wohl stets alles mögliche im Hause tun dürfen, was man mir nicht anvertraut; Mama nennt sie gegen Fremde ihre ›rechte Hand‹ und Papa lächelt, sowie er sie nur sieht. Meine kleinste Schwester Elfi hängt auch sehr an ihr, und die beiden zusammen sehen oft aus wie ein Bild, so hübsch, denn Elfi ist auch solch süßes blondes Ding.

»Alle meine Geschwister sind blond, ich bin die einzige Schwarze. Meine dicken Zöpfe sind auch nur Kummer für mich, denn sie sind so schwer zu regieren. Ich zerbreche so viel Kämme und mag es nicht, wenn mein Haar nicht glatt sitzt. Früher, als Mama mir noch das Haar machte, ach ja! Aber seit wir kein Kindermädchen mehr halten, ist die süße Mama eigentlich nur für die Babies da.

»Wir haben nämlich noch zwei entzückende kleine Jungen, die noch nicht fünf Jahre alt sind, Zwillinge. Sie sollten zuerst Max und Moritz heißen, schlug Papa vor, aber das verbat sich Mama, und es wäre auch wirklich schade gewesen, sie so richtig als böse Buben bezeichnet zu sehen. Nun heißen sie Robert und Bertram, das hat Papa durchgesetzt, und er sagt oft: ›Na, meine kleinen lustigen Vagabunden?‹ Was das bedeutet, weiß ich eigentlich nicht, und Mama mag es auch nicht, aber Papa ist nun einmal sehr für das Necken.

»Von ihm ließe ich es mir ja auch, ach wie gerne! gefallen, denn ich finde meinen Vater einfach herrlich! Aber mir gegenüber hat er niemals Lust zum Necken, ich bin viel zu langweilig.

»Aber desto mehr Grund dazu sucht sich Axel, unser Primaner, aber der ist wirklich mein Feind! Das ist kein Necken mehr; ich denke immer, er will mir weh tun, und das muß mich doch unglücklich machen!

»Das sind also meine Geschwister. Eigentlich sind wir drei große und drei kleine Kinder, zwischen mir und Elfi sind zwei Geschwister gestorben. Ach, die eine Schwester, die nur ein Jahr jünger war, als ich, wäre gewiß meine Freundin geworden, die ›Intima‹, wie sie in der Schule sagen, und wie eigentlich jede in der Klasse eine hat, nur ich nicht!

»Ja, wir sind drei Große und drei Kleine, und ich, ich weiß nicht, wo ich hingehöre. Zu den Großen – das ist so eine Sache! Es heißt doch alle Augenblicke: ›Das ist noch nichts für dich, Ursula!‹ ›Geh ein wenig hinaus, Urselchen, wir haben etwas zu reden‹ (Inge mit ihren Freundinnen). ›Das versteht so 'n Backfisch nicht!‹ (Axel).

»Und zu den Kleinen? Soll ich denn in der Kinderstube meine Arbeiten für die erste Klasse machen? Das ist manchmal kaum möglich. Axel hat eine ›Bude‹, wie die Primaner sagen, wo er ›büffeln‹ kann, so ungestört und so spät, wie er will. Inge hat ein kleines Boudoir, in dem sie allerlei hübsche Dinge treibt und ihre Freundinnen empfängt, aber ich?

»Wir haben ein so schönes Haus, aber mir kommt es noch immer wie ein fremdes vor. Ich habe keine Stelle, die mir gehört! Früher war es anders. Zu Hause – ich sage noch immer so, wenn ich an Steinberg denke, wo wir früher wohnten – da war's viel anders! Vielleicht nicht so hübsch für fremde Leute, ich glaube, ein bißchen altmodisch, nicht elegant, aber viel Platz! O, was für Ecken und Winkel, was für Kämmerchen und Verschläge! Meine kleine, liebe Stube auf dem obersten Boden – o, ich bekomme so schreckliches Heimweh, wenn ich nur daran denke! Es war wirklich nur ein Kämmerchen mit einem winzig kleinen Fenster, ausgeklebt mit zusammengesuchten Bildern statt der Tapete, aber alles, was drin war, gehörte mir. Meine Puppensachen und meine Bücher, mein Kinderstuhl und der kleine Glasschrank, und meine ersten Topfblumen. Es war da im Sommer freilich oft sehr heiß, aber ich machte mir nichts draus, der Winter war schlimmer, dann durfte ich die Stube gar nicht benutzen. Ich konnte immer den Frühling nicht erwarten, wo ich oben reinmachte und einzog.

»Nun sind wir fort von Steinberg, wo Papa Amtsrichter war; er ist ans Landgericht nach der Residenz versetzt, und hier wohnen wir nun in dem schönen, neuen Hause am Fürstenplatz.

»Ich gehe in eine große Schule, wo wir viel, viel lernen müssen, mehr noch als in Steinberg, obgleich unser lieber Rektor auch was verlangte. Aber das schadet nicht, ich lerne gern. Lernen ist noch das beste. Was soll ich auch anders? Als Schulkind weiß man immer, was man zu tun hat, – bei allem anderen fühle ich mich unsicher, kann nichts und bin nichts.

»Ich beneide Inge oft so sehr, und Neid ist doch etwas so Schlechtes! Nicht, daß alle sie lieber haben als mich, das begreif' ich ja – aber daß sie so sein kann, wie sie ist, immer vergnügt und gewiß immer mit sich zufrieden. Wie das sein mag! Und dann, daß sie so vieles im Hause tun darf und kann, was man mir nicht erlaubt.

»Ach, älteste Töchter haben es immer besser! Oder auch einzige Töchter. Wie oft hört und liest man, wie eine einzige Tochter ›des Hauses Segen‹ genannt wird. Wenn die Mutter krank ist, nimmt sie ihr alle Arbeit ab, wenn der Vater Unglück hat, vielleicht sein Vermögen verliert, ist sie sein Trost, hilft ihm verdienen, und all' so was. Was kann ich jemals sein oder tun?

»Ich glaube, wenn ich heute oder morgen tot bliebe, mich vermißte kein Mensch! Und ist das nicht traurig?«

Erst am folgenden Tage konnte sie fortsetzen:

»Ich glaube, gestern habe ich etwas sehr Unrechtes geschrieben. O lieber Gott, verzeih mir! Ich wollte doch gewiß nicht, daß mein Papa sein Geld verlöre oder meine Mama krank würde, nur damit ich etwas für sie tun könnte. Und meine lieben Geschwister, die wollt' ich doch nicht hingeben, nur um die ›Einzige‹ zu sein? O, es ist schrecklich! Aber so was mach' ich immer, wenn ich so ganz, ganz allein mich fühle, wenn niemand sieht und fühlt, wie mir ist!

»Aber dies ist ja mein Geheimbuch, niemand wird es finden und lesen, hier kann ich aufrichtig sein. Aufrichtig? Das ist auch nicht das rechte Wort. Was ich gestern zuletzt geschrieben, war dumm und häßlich. Aber es kommt alles davon, weil ich so unglücklich bin.

»Hätt' ich nur eine Freundin!

»Ob ich wohl eigentlich dumm bin? Manchmal muß ich es glauben. In den Schulstunden zwar, da kann ich nicht sagen, daß ich die Lehrer nicht verstände, nicht mitkommen könnte. Im Gegenteil, ich möchte manchmal noch mehr wissen, als sie uns sagen, oder als in den Büchern steht; ich muß über alles noch so viel nachdenken! Aber wenn ich mit meinen Klassennachbarinnen über etwas sprechen, sie etwas fragen will, was mir noch nicht völlig klar ist, dann kommt es, daß die anderen mich dumm finden. ›Laß doch bloß dies verrückte Fragen,‹ sagen sie dann, ›da kann einem so bang davor werden.‹ Oder: ›Das weißt du nicht? Na, hör mal, du bist aber etwas –!‹ ›Etwas zurück!‹ sagt eine andere, mit einer milden Geringschätzung, und dann werd' ich innerlich wütend.

»Ich bin gar nicht zurück! Wir hatten in Steinberg eine sehr gute Privatschule, und ich hatte nach dem ersten Halbjahr hier eines der besten Zeugnisse in der Klasse und wurde gleich versetzt. Das ist es also nicht, lernen kann ich ebensogut wie die anderen, und die Lehrer tadeln mich nicht.

»Es muß etwas anderes sein, was mir fehlt und warum sie mich dumm finden, ich weiß es nicht; aber die anderen wissen es vielleicht, und darum kann ich zu keiner Vertrauen fassen.

»Inge hat so viele Freundinnen, immer wieder neue! So war es in Steinberg, und so ist es hier. ›Die schöne Schwedin‹ wird sie genannt, weil sie so aussieht, wie man sich die herrlichen, blonden Nordländerinnen denkt, und weil wir auch eigentlich aus Schweden stammen. Das heißt zu der Zeit, als die Küste unseres Landes schwedisch war, ist Papas Familie hier ansässig geworden.

»Ich interessiere mich nun sehr für schwedische Geschichte und für Beschreibungen des Landes, und die Frithjofsage, nach deren Heldin meine Schwester ja Ingeborg heißt, weiß ich beinahe auswendig. Die lernte ich noch in Steinberg, in meiner geliebten Bodenstube. Da hab' ich manchmal laut deklamiert; o, wenn das jemand gehört hätte! Aber niemand hat's, ich bin ganz sicher, und hier – ach, hier ist nicht an so was zu denken.

»In diesem schönen, neuen Hause gibt's keine versteckten Winkel, keine übrigen Kämmerchen; hier heißt es oft noch, es ist nicht genug Platz da. Also ziehe ich mit meinen Schularbeiten von der Kinderstube in die Eßstube, und wenn da aufgedeckt wird, versuch' ich's in Inges Stube, und wenn sie Besuch bekommt, gehe ich wieder in die Kinderstube zurück. Und wenn die kleinen, lustigen Vagabunden toben, und Elfchen ihre Puppen laut in den Schlaf singt, mache ich meinen Aufsatz. Das ist mein Bestes und Liebstes in der Schule, schriftlich geht überhaupt alles besser als mündlich. Und wenn wir ein Thema aus der Geschichte oder Sage haben, dann vertiefe ich mich manchmal so, daß ich wirklich das Geschrei und das Spielen überhöre.

»Ach, Helden, Helden schildern! Menschen, die etwas Gutes und Großes gewollt und – es auch getan haben!«


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