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4. Kapitel.
Ein Sonntag bei der Familie Dahland

Am nächsten Sonntag herrschte im Dahlandschen Hause schon früh eine ziemliche Geschäftigkeit. Inge, die anmutige Älteste, war früh aufgestanden, um noch vor dem Kirchgang allerlei für die Gäste und den Mittagstisch vorzubereiten, und hantierte schon in der Speisekammer, ehe sonst jemand von der Familie erschienen war.

Als dann Papas Klingelzeichen ertönte, ergriff sie eilig das Tablett, auf dem schon alles zurechtgestellt war, und trug es nach oben, denn der Landgerichtsrat mochte von niemand lieber bedient sein als von Inge. Hell und strahlend trat sie ins Zimmer, mit den sicheren Bewegungen, welche die Übung gibt, ordnete sie das Frühstück und mit fröhlicher Unbefangenheit eröffnete sie die Unterhaltung. Der Vater, der sonst gern viel Leben und Bewegung um sich hatte, war des Morgens zumeist recht schweigsam, führte aber Inge das Wort, konnte er auch nicht widerstehen. Erst lächelte er, dann tat er wohl eine Frage, schließlich hatte sie ganz das Feld. Besonders am Sonntagmorgen. Ursel begriff nie, wie Inge so selbstverständlich annehmen konnte, daß all dies Geplauder den Vater interessiere.

Die Mutter, die keine gute Nacht gehabt hatte und etwas später kam, fand bei ihrem Erscheinen Vater und Tochter schon in voller, munterer Unterhaltung. Axel war noch nicht da, Ursel saß schweigend auf ihrem Platz. Sie hatte nicht schlafen können nach ihrem gestrigen Erlebnis, und sah jetzt wieder besonders blaß und in sich gekehrt aus.

»Ich sollte mich schämen, heute so spät zu kommen,« sagte die Rätin lächelnd, »aber meine rechte Hand scheint schon bestens vorgesorgt zu haben: es kommen bereits allerlei Düfte aus den unteren Regionen.«

»Alles im besten Gang, Mama,« sagte Inge, »ich würde getrost das ganze Diner heute auf mich nehmen. Ich gehe auch gleich wieder hinunter, wenn ihr alle versorgt seid. Noch ein Täßchen – beste Rätin?« sang sie schelmisch, »Papa noch einen Toast? Wer macht ihn dir wohl besser als deine Älteste, sag? Hast du auch deinen Aschenbecher – Zeitung? Ja, der Kneifer, der Kneifer! Der ist natürlich wieder nicht da! Ich begreife eigentlich nicht, Papa, der müßte zur Toilette gehören, so gut wie dein Schlips!«

»Richtig, meine weise Tochter, du hast deinen Papa eben immer noch nicht gut genug erzogen. Ursel, sei so gut, hole das Guckglas von meinem Schreibtisch.«

Es war das erste Wort, das an die Kleine gerichtet wurde. Sie sprang so schnell auf, als führe sie wirklich aus tiefem Traum empor, stieß ihre Tasse um, die Inge noch rettete, lief dann in höchster eiliger Beflissenheit durch das große Zimmer, polterte auf dem Schreibtisch mit ein paar Büchern und kam dann mit dem Gewünschten.

»Warum so hitzig, Kind, Papa hat Warten gelernt!« sagte der Landgerichtsrat mit Humor; die Mutter schüttelte ein wenig den Kopf und Inge sagte unbekümmert: »Die Kleine ist eben mit ihren Gedanken nie da, wo sie sein sollte, daher dann das erschreckte Umherfahren.«

Ursel wurde rot und schluckte hastig ihren Kaffee.

»Jetzt geh' ich, Mama,« fuhr Inge fort, »sieh dir nachher mal die Creme an, sie steht prachtvoll. Jetzt rühr' ich die Mayonnaise, das ist ja erst meine ›Forsch‹, wie Muschbergen sagt, wenn sie mich recht bewundern will.«

»Laß dir von Ursel ein wenig helfen,« sagte Mama.

»Ach nein! Wozu? Ich kann das besser allein. Addio so lange.«

In der Tür stieß sie mit Axel zusammen. Daß diese beiden Geschwister waren, sah man auf den ersten Blick. Groß, blond und frisch, mit den gleichen gewinnenden Manieren, welche bei Inge die einer fertigen jungen Dame waren, während sie bei Axel zuweilen noch durch eine knabenhafte Unbeholfenheit gehindert wurden, zuzeiten aber auch schon völlig kavaliermäßig sein konnten.

Inge rief ihm einen »Langschläfer!« zu und ging hinaus. Axel küßte Mama die Hand, überzeugte sich durch einen Blick in ihre Tasse, daß sie noch keinen allzu großen Vorsprung hatte, und fand sich glänzend gerechtfertigt. Er schenkte sich selbst Kaffee ein, und mit einem Seitenblick und in nicht kavaliermäßigem Ton meinte er: »Könntest einen auch wohl 'n bißchen bedienen, Fräulein Ursche; Backfische wissen doch nie, wozu sie da sind.«

Oh, oh – das ist zu viel, das treibt ja gleich über!

»Axel!« mahnte die Mutter, und sagte dann zu Ursel gewandt: »Geh in die Speisekammer und hilf Inge ein wenig; du hast noch eine Stunde Zeit bis zum Kirchgang.«

»Inge mag es ja nicht,« sagte Ursula mit leisem Widerstreben.

»Aber ich wünsche es,« erwiderte Mama, und Ursula stand gehorsam auf. Aber nur zögernd langte sie unten an.

»Hat Mama dich geschickt?« fragte Inge nicht gerade freudig überrascht, »na, dann hilf ein wenig. Es ist zwar nicht nötig, aber –«

»Dann kann ich es ja auch lassen,« sagte Ursula verdrossen.

»Sei doch nicht gleich so empfindlich! Ich meine nur, wenn man alles erst zeigen muß, tut man's ja schneller allein.«

Ursula stand stumm und wartete.

»Sieh – binde diese Gläser auf, nimm die Rumläppchen ab – so – und lege mit dem Löffel sorgfältig die Früchte in die Glasschalen. Aber geschickt, Kleine, nicht die Ränder vollklecksen – nicht zu voll – auch genug Saft, oh, oh, das ist zu viel, das treibt ja gleich über! Ich sag' ja, ich mach' es schneller allein.«

Mutlos stand Ursula, nahe daran, zu weinen. So war es immer! Inge konnte alles, aber sie glaubte auch so sicher daran, daß sie es am besten verstand, und Geduld für beigegebene Lehrlinge hatte sie gar nicht.

»Was machen wir jetzt mit dir? Kannst du die guten Dessertteller aus dem Schrank nehmen und mit einem Tuch abputzen? Keinen zerbrechen? Ach, das ist wohl schon wieder eine Beleidigung!«

»Aber Inge, laß mich doch! Ich bin doch gar nicht so, daß ich immer gleich alles kaput mache.«

»Schön, schön, weine nur nicht gleich!«

»Wer weint?!«

Inge lachte. »Du bist ja heute recht kratzbürstig, Kleine; komm, wir wollen uns wieder vertragen. – Sag mal – freust du dich auf den Besuch heute?«

»Ich wüßte nicht, warum!«

»Ursula! Was für eine Antwort!«

»Na ja, für mich ist doch kein besonderes Vergnügen dabei; es sind ja nur große Leute.«

»Das ist wahr, aber Anna Leuthold ist sehr liebenswürdig; wenn du nicht so scheu und steif sein willst, kannst du immer ein bißchen mit uns beiden zusammen sein.«

»Danke.«

»Auch nicht getroffen? Na hör mal, mich wundert's nicht, daß du noch keine Freundin in der Schule hast.«

»Vielleicht will ich gar keine haben.«

»Das ist's ja eben! Das finde ich sehr unnatürlich und unliebenswürdig.«

»Ich könnte nicht immer gleich ein Dutzend Freundinnen haben wie du!«

»Nein, so weit wirst du es wohl nicht bringen im Leben. Wie die wohl beschaffen sein müßte, die dir gefiele! Sag mal!«

»Das kann dir ja egal sein.«

»Hör mal, nun hab' ich aber genug! Nun, bitte, spare mir deine Hilfe!«

Inge, die so lange mehr lustig und unbekümmert gesprochen hatte, wurde nun böse, und Ursula, die sich ursprünglich nur ein wenig hatte wehren wollen gegen allzu große Bevormundung, fühlte sich allmählich so gereizt, daß sie die häßlichen Antworten nicht zurückhalten konnte. Aber jedesmal tat es ihr hinterher leid, und in dem ihr geläufigen Gefühl »O, wie bin ich unglücklich!« verließ sie endlich die Speisekammer.

So endeten öfter die Versuche der Schwestern, etwas Gemeinsames vorzunehmen.

»Natürlich habe ich die Schuld,« dachte Ursel, »denn Inge ist doch reizend, sagen alle Leute!«

Zusammen zur Kirche gingen sie nun diesmal auch nicht, denn Inge hatte sich vorgenommen, in den Dom zu gehen, Ursula aber wollte gern in die Schloßkirche, in der heute ihr verehrter Religionslehrer predigte.

Etwas trübselig machte sie sich fertig, als es läutete, aber wie sie draußen in der Allee war, unter den blühenden Kastanien, auf diesem fast ländlich stillen Kirchwege, immer begleitet von den lieben Glocken, da verflog ihre verärgerte Stimmung wieder.

Ursula liebte die kleine Schloßkirche unendlich. Das gedämpfte Licht, das durch die herrlichen gemalten Fenster fiel, und das Gedämpfte überhaupt, das hier in der Luft lag. Das Kommen und Gehen vollzog sich nirgends so geräuschlos wie hier, und der kleine, aber sehr akustische Raum machte es möglich, daß der Prediger ohne Anstrengung, ohne gesteigerten Ton sprach und doch in jedem Winkel verstanden wurde.

Sie hörte immer so aufmerksam zu und hatte zu Hause schon manches nachgeschrieben von den Predigten, aber heute – heute war sie ein klein wenig zerstreut!

Aber wirklich nur ein wenig. Sie ertappte sich einmal auf dem Gedanken: Lieber Gott, ich danke dir, daß ich gestern etwas so Schönes erlebt habe! – Und dann erschrak sie wieder und bat ab.

Ja, es half nichts, das reizende, fremde Mädchen lag ihr im Sinn! Gleich nach der Kirche würde sie es wiedersehen – wenn's glückte!

Jetzt war sie aber wieder völlig bei der Sache, denn der Prediger hatte seine Stimme etwas erhoben, was er selten tat, und sie bildete sich ein, er wollte sie aufrütteln.

Als die Predigt zu Ende war und das letzte Lied gesungen, gehörte Ursel zu den ersten, die draußen waren. Dem wundervoll romantischen Schloßhof schenkte sie keinen Blick. Schnell durchs Tor – über die große Brücke – durch die Allee – vorbei an der kleinen fürstlichen Cottage – da lag die kleine Kolonie mit all den grünen Fensterläden!

Wenn jetzt nur nicht der Obergärtner kam, daß sie ihm einfach das Geld einhändigen und ohne weiteres wieder abziehen mußte!

Aber nein, sie hatte Glück.

Vor der Tür, am grünen Holztisch unter der Linde stand die Gestalt, auf die sie hoffte: wieder in dem schwarzen Kleide, aber rings von Blumen umgeben. Eine Fülle von weißen Narzissen, dunklem Goldlack und tiefblauen Stiefmütterchen lag auf dem Tisch, und das junge Mädchen war beschäftigt, einen schlank geschweiften Korb mit hohem Bügel mit den Blumen zu füllen.

Ursula stand unwillkürlich einen Augenblick still und sah ihr zu, dann schien die eifrig Beschäftigte den Blick zu fühlen, obgleich sie keinen Tritt gehört hatte, und sah sich um.

»Oh, da sind Sie wieder!« rief sie und lächelte Ursula fröhlich an. »Haben die Spargel nicht gereicht?«

»O ja,« entgegnete Ursula, »aber wir haben ja völlig vergessen – ich habe sie nicht bezahlt.«

»Oh, wir sind aber gut!« Der kleinen Gärtnerin entfielen vor Schreck die Blumen. »Ich bin eine nette Verkäuferin!«

»Hat denn der Obergärtner noch nicht gefragt?«

»Nein, denken Sie! Ich führe ja selber Buch darüber und jeden Sonntagnachmittag lege ich Rechnung ab – jetzt in einer halben Stunde wär's so weit gewesen und ich hätte schlecht bestanden.«

»Nun, ich war Ihnen doch sicher!« sagte Ursel tröstend.

»Ja, wenn auch, es wär' mir doch sehr unangenehm gewesen! Das erste Mal, daß mir so etwas widerfährt. – Aber ich – ich will's nur gestehen,« – sie lächelte mit schalkhaftem Freimut – »ich hab' gar nicht an unseren Handel und daran, daß ich nun eine Verkäuferin bin, gedacht, ich hab' immer nur Sie im Sinn gehabt!«

»Und ich,« fiel Ursel glücklich ein, »ich hab' die halbe Nacht nicht schlafen können – und ich war so froh, daß ich das Geld vergessen hatte und so noch einmal herkommen konnte, denn – alle Tage gibt's bei uns doch nicht Spargel!«

Dabei hatten sie sich wieder die Hände gereicht und sahen sich froh in die Augen.

»Aber nach den Spargeln kommen die Erdbeeren,« jubelte die kleine Gärtnerin.

»Ja, und von denen ißt mein Papa am liebsten täglich ein Pfund!«

»Die pflück' ich alle! Herrliche Aussichten! – Aber nun – erst das Geschäft, bitte. Der Obergärtner kann gleich kommen; er ist drüben beim Herrn Gartenbaudirektor, dort legt er Rechnung, nachher verlangt er das gleiche von mir.«

Sie holte geschwind ihr Anschreibebuch und ihre kleine Kasse und schrieb, während Ursel das Geld hervorzog: »Also drei Pfund Spargel à 65 Pfennig für – ja, nun weiß ich nicht einmal für wen!« unterbrach sie sich lachend.

»Für Landgerichtsrat Dahland, und ich bin Ursula Dahland.«

»Und ich heiß' Franziska Trautmann, genannt Franzi.«

»Ich werd' Ursel genannt, manchmal auch Ursche.«

»Ursel! Das klingt hübsch!«

»Wollen Sie mich so nennen? Und wollen wir du sagen? Ich gehe ja noch in die Schule und dort sagen doch alle du – bitte!«

Ursel vergaß ihre Schüchternheit, Franzi aber legte beide Hände auf die Schultern der anderen und sagte mit tiefem Atemzug: »Sie – du – bist sehr lieb! Ich will's gern sagen, wenn ich darf.«

»Also Ursel und Franzi!«

Einen Kuß gaben sie sich nicht, aber jede steckte der anderen eine Narzisse an, das war das erste Zeichen des Bündnisses.

Dann wurden sie einen Augenblick verlegen und wußten nicht weiter.

Rasch griff Franzi wieder zu den Blumen und sagte: »Aber ich darf nicht säumen, der Korb wird um ein Uhr abgeholt, der kommt zu einer vornehmen Tafel in Westeck. Komm, hilf mir, dies ist hübscher als Spargelstechen.«

»Oh, das war prachtvoll!«

»Ja, aber dies macht keine Rückenschmerzen. – Das dunkle Stiefmütterchen, bitte, jetzt nur Narzissen – nun den Lack – ist der nicht schön? Ach, wie der duftet! Solchen hatt' ich zu Hause immer am Fenster.«

»Wo ist deine Heimat?«

»Auf dem Lande – weit fort. Hast du mal von Schloß Wehrburg gehört?«

»Nein.«

»Es gehört einem Grafen. Dort war mein Vater angestellt.«

»Ist er tot?« fragte Ursel leise und sanft, mit einem Blick auf Franzis schwarzes Kleid.

»Tot, ja!« nickte sie, »und der Graf auch tot – alles aus! Ach, das ist trüb und schwer,« unterbrach sie sich und fuhr mit der Hand übers Gesicht, »komm, gib mir noch drei Narzissen, dann ist der Bügel auch umwunden und ich bin fertig.«

»Aber ich möchte alles wissen von deiner Heimat und deinen Eltern!«

»Ich erzähl' dir's schon einmal, aber nicht heute,« sagte Franzi ernsthaft.

»Hab' ich zu viel verlangt?« fragte Ursel erschrocken.

»O nein, du fragst sehr lieb! Aber – ich hab' nicht viel Zeit mehr, entschuldige – ich muß der Mutter in der Küche helfen –«

»Also deine Mutter ist doch hier!« rief Ursel erleichtert.

»Freilich, die ist hier; sagt' ich das noch nicht? Sie führt dem Obergärtner die Wirtschaft, und ich – ich helfe im Garten und bin eine so geschickte Verkäuferin, wie du weißt!«

Sie lachten wieder beide und freuten sich über ihre gestrige Vergeßlichkeit.

»Nächstes Mal muß meine Mutter dich sehen,« sagte Franzi, »aber wann wird das sein? Wirst du denn wiederkommen? Würdest du auch kommen, wenn du nichts zu holen hättest?«

»Ich komme gewiß!« beteuerte Ursel feurig, »und für heute – muß es vorbei sein?«

»Ich fürchte, ja! Es ist unhöflich, Ursel, aber weißt du – wenn man Pflichten hat – und im fremden Haus ist –«

»Ich geh' schon, ich will dich gewiß nicht stören. Auf Wiedersehen, Franzi!«

»Auf Wiedersehen, Ursel!«

Ebenso plötzlich wie gestern lief Ursel nun den kleinen Abhang vor der Gärtnerei hinunter, drehte sich bei der Mühle um und sah diesmal Franzi noch stehen und winken.

Als sie zu Hause ankam, waren die Gäste aus Heckendorf schon da. Von der Veranda her klang lebhaftes Sprechen, auch die Kleinen schienen dort zu sein, denn es ging sehr munter zu, und Ursel dachte mit Schrecken, daß sie nun gewiß auch gleich erscheinen und vorgestellt werden sollte.

Um zwei Uhr würde gegessen werden, jetzt war es etwas nach ein Uhr. Konnte sie noch so lange verschwinden? Nein, es war nicht möglich, Inge hatte sie bemerkt und kam auf sie zu.

»Wo bleibst du denn wieder so lange, Ursel? Mama hat sich schon beunruhigt.«

»Mama weiß ja, wo ich war,« antwortete Ursel, wieder mit dem leichten Trotz.

»Nun, komm nur nicht mit solchem Gesicht zu den Gästen; das wird ihnen schwerlich gefallen.«

»Ich kann nichts für mein Gesicht, und ich mache mir nichts daraus, ob ich ihnen gefalle,« rief Ursel heftig.

Inge sah sie erstaunt an, zuckte die Achseln und ging fort. Nun war es Ursula leid, sie fand, daß sie ungezogen gewesen war. Wenn Franzi sie eben gesehen hätte!

Sie stand trübselig herum und wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Ach, dieses unglückselige Gefühl! Nicht zu den Großen zu gehören und nicht unbefangen wie die kleinen Geschwister als Spielzeug von Hand zu Hand zu gehen!

Da kamen sie gesprungen, Elfriede im weißen Kleide, die kleinen Jungen in ihren Matrosenanzügen. Jeder hatte ein neues Spielzeug in der Hand, das die fremde Tante mitgebracht hatte; jubelnd wurde es Ursula gezeigt und sie beugte sich voll Zärtlichkeit zu ihnen herab, erlöst von ihrer Einsamkeit und ihren trüben Gedanken. Dann hörte sie im Eßzimmer sagen, daß sofort angerichtet sein würde, und sie flog noch einmal ins Schlafzimmer, um sich »glatt« zu machen.

Zur rechten Zeit kam sie zurück, um gerade noch zu sehen, wie Papa die fremde Dame zu Tisch führte und Axel das junge Mädchen. Wie hübsch ihm das anstand! Heute war er Kavalier.

Schüchtern knickste Ursel, da nahm Mama sich ihrer an und sagte mit sanftem Ernst: »Du hast dich etwas verspätet, mein Kind – hier, liebe Frau Leuthold, unsere Ursula, die fehlte noch in der Reihe.«

Eine flüchtige freundliche Begrüßung von seiten der Fremden, dann setzte man sich, und Ursula dachte nur: »Hätt' ich doch mit den Kleinen im Kinderzimmer essen können!«

Aber das ging nun nicht mehr, und als sie einmal Mamas Blick so fragend und fast traurig auf ihr verdrossenes Gesicht gerichtet fühlte, nahm sie sich so weit zusammen, daß sie Fragen von Fräulein Anna Leuthold in Bezug auf ihre Schule nicht nur mit »Ja« und »Nein« beantwortete, im übrigen aber aufmerksam dem Gespräch am oberen Ende des Tisches folgte, um wenigstens nicht erschrecken zu müssen, wenn sie einmal plötzlich angeredet wurde.

Es ging lebhaft her und es gab viele gute Sachen, aber als die Spargel kamen, vergaß Ursel plötzlich wieder die ganze Tischgesellschaft und saß in Gedanken in der Schloßgärtnerei.

Auch diese Mahlzeit ging vorüber, und als nach Tisch die Herren rauchten, die jungen Damen auf Inges Zimmer gingen und die Mütter ein vertrauliches Wort zusammen redeten, sagte Frau Leuthold: »Ihre älteste Tochter ist entzückend, liebe Frau Dahland, wie ein Sonnenstrahl, aber die kleine Schwarze steckt noch recht in der Puppe. Das ist ein unglücklicher Zustand für die jungen Mädchen selbst.«

Die Rätin nickte. »Ja, ich leide mit ihr darunter.«

»Kränklich ist sie doch nicht? Sie scheint mir recht blaß. Dann lassen Sie sie nur beizeiten Stahl nehmen.«

»Nein, sie ist vollkommen gesund, nur schnell gewachsen.« Die Rätin sah etwas ernst dazu aus, denn sie dachte an Ursulas Geheimnis, an das Tagebuch. Sie hatte fast die ganze Nacht daran gedacht und wußte, daß ihrem Kinde mit »Stahl« nicht beizukommen war.

Sie mochte aber nicht darüber sprechen, sie wollte im stillen versuchen, Ursulas Gemütszustand zu verstehen, sie schonend von diesem Hang zur Schwermut zu heilen, der bei diesem guten und bis dahin auch gesunden Kinde unnatürlich war. Vor allen Dingen durfte Ursula nicht so viel allein sein! Wo mochte sie heute wieder den ganzen Mittag nach der Kirche gesteckt haben?


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