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29. Kapitel.
Die alte Heimat

An einem großen Holzschlag fuhr der Wagen vorbei, und Franzi erkannte mit Schrecken, daß ein herrlicher Buchenbestand, auf den sowohl ihr Vater wie der verstorbene Graf großen Wert gelegt hatten, bedeutend gelichtet war. Dann wieder das kleine einsame Moor, über dem die Nebel immer so gespenstisch wogten, wo die Wasservögel schrieen, war ein Schauplatz emsiger Tätigkeit geworden. Entwässerungsgräben waren gezogen, Sand und Erde herbeigeschafft – das Moor sollte trocken gelegt und der Bebauung gewonnen werden, wie der Graf erklärte.

Nun kam das Dorf! Gleich zu Anfang standen statt der alten Häuschen mit den bemoosten Strohdächern vier neue Tagelöhnerhäuser, stattlich, aber nüchtern anzusehen; die Dorfstraße, die sonst um diese Jahreszeit meist unergründliche Pfützen aufwies, war überall ausgebessert, so daß man ohne hin und her zu fliegen und ohne hochaufspritzenden Schlamm in flottem Tempo hindurchfahren konnte.

Und da – was ragte denn dort rauchend in die Luft? In Wehrburg gab es sonst nichts Ragendes, als das abseits liegende Kirchlein und den altersgrauen Schloßturm; dies aber sah wahrlich nach einem Fabrikschornstein aus!

»Das ist die neue Molkerei,« erklärte Graf Wehrburg den erstaunten Mädchen. »Wir haben jetzt Dampfbetrieb und werden nächstens eine zweite Zentrifuge aufstellen müssen, denn die Beteiligung an unserer Genossenschaft ist immer noch im Wachsen begriffen. Seht, dort hält noch der Wagen von Steinfeld, der die Milch gebracht hat; dem Ruthenauer sind wir ja schon begegnet. In den nächsten Tagen müßt ihr euch das alles ansehen; ihr werdet staunen über diesen großartigen Betrieb.«

Ach ja, sie staunten schon jetzt, und Leontine kämpfte wieder mit unangenehmen Empfindungen. Wie war das alles so anders als früher, wie wurde ihr auch der kaum gewonnene Onkel auf einmal wieder fremd! – Aber jetzt! Der Wagen verließ die Dorfstraße, bog um eine Ecke und lenkte in die Allee, die auf das Schloß zuführte. Noch waren die mächtigen Kastanien unbelaubt, und deutlich sah man durch das nur mit braunen Knospen geschmückte Gezweig den alten Herrensitz vor sich.

Leontinens Herz klopfte laut. Das alte graue Gemäuer mit dem efeuumsponnenen Turm, das war die Heimat. Franzi aber bog sich, so weit sie konnte, aus dem Wagen, um durch die seitlich vom Schloß sich hinziehenden Parkanlagen einen Schimmer von dem weißen Häuschen zu erhaschen, in dem sie mit ihren Eltern gewohnt hatte.

Jetzt hielt der Wagen, ein Diener trat an den Schlag, und in dem altertümlichen Portal erschien die Gräfin. Sie mußte es wohl sein, denn sie rief mit hell klingender Stimme »Willkommen!«; sonst hätte Leontine sie nicht für die Dame des Hauses gehalten. Die große Schürze, die sie trug, störte Tini gewaltig! Auch der Graf, der die steinerne Freitreppe vor den Mädchen hinaufgeeilt war, bemerkte nach der ersten Begrüßung scherzend: »Noch so spät in der Wirtschaftsschürze, Adelheid?« und seine Frau entgegnete: »Es ist Sonnabend, lieber Mann; ich komme eben aus dem Kuhstall, wir haben die Milch gemessen.«

Das war der erste Eindruck, den die zögernd herantretende Leontine von ihrer neuen Tante empfing, und sie dachte blitzschnell: »Wie schrecklich! Hier ist wohl alles Milchwirtschaft und dergleichen Greuliches! Ist das mein Wehrburg?«

Nun kam das Dorf! Gleich zu Anfang standen statt der alten Häuschen vier neue Tagelöhnerhäuser.

Aber dann fühlte sie sich herzhaft bei der Hand gefaßt, und zwei sehr klare blaue Augen in einem schönen, noch jugendlichen Gesicht sahen sie mit lieblichem Forschen an.

»Sei willkommen, liebes Kind, und laß es dir gefallen in der alten Heimat! – Und auch Sie, Fräulein Trautmann,« fügte sie, Franzi die andere Hand reichend, hinzu. »Kommen Sie herein. Es war wohl eine kühle Fahrt? Ihre Stübchen oben sind geheizt.«

Sie traten in die Halle, in der es bereits dämmerte, doch die Türen zu dem dahinterliegenden Gartensaal standen weit offen; da sah man die Wipfel der alten Bäume im scheidenden Sonnenlicht.

Einen Augenblick schaute Leontine sich wild um wie ein scheuer Vogel, dann schoß sie wie ein Pfeil durch die Halle, durch den Gartensaal, öffnete die Glastür und verschwand mit ein paar Sätzen im Garten.

Die Gräfin blickte ihr betroffen nach, und Franzi, die wieder über Leontinens Benehmen erschrak, sagte bittend: »Wenn Frau Gräfin ein wenig Geduld mit Tini haben möchten! Sie ist so aufgeregt von der Wiedersehensfreude; Heimweh und allerlei Gespräche mit dem Herrn Grafen und den Tanten in Berlin, die sie nicht recht verstand, haben sie so außer Fassung gebracht.«

»Ich weiß schon; mein Mann hat es mir in seinem Anmeldungsbrief kurz angedeutet,« sagte die Gräfin. »Wie gut, daß Sie, die verständige Freundin, mitgekommen sind! Ja, sollen wir denn das Kind seinem Schicksal überlassen?«

»Ich werde nachgehen, wenn Sie erlauben, Frau Gräfin; ich weiß ja auch die Wege noch. Wir kommen dann gleich zurück.«

Aber es dauerte eine ziemliche Weile! Und als sie kamen, sahen beide Mädchen tief bewegt, Leontine sogar verweint aus.

Franzi hatte in richtiger Ahnung den Weg nach der hinteren Gartenpforte eingeschlagen, von wo man auf einem kurzen Fußsteig zum Kirchhof kam. Die Tür zur Wehrburgschen Familiengruft war zwar verschlossen, aber dort an den eisernen Gitterstäben des Vorraums lehnte das Kind und weinte. In heißem Mitgefühl gesellte sich die Freundin zu ihr, leise tröstend auf sie einsprechend, und dann gingen sie zusammen zu dem anderen Grabe.

Franzis Vater ruhte in dem schattigsten, beinahe waldartigen Teil des Kirchhofs, unter einer alten Linde. Veilchen blühten auf seinem Grabe, und erste schüchterne Vogelstimmen zwitscherten im kahlen Gezweig darüber.

Zu ihrer Freude bemerkte Franzi, daß der Hügel gut gepflegt war; sie sammelte nur ein paar trockene Blätter aus dem üppig wuchernden Efeu und las still die Inschrift des Kreuzes. »Ich will Euch nicht Waisen lassen.«

Sie faltete die Hände. Sie war nicht verwaist, nicht verlassen in der Welt, obwohl der Vater von ihr gegangen. Ihr himmlischer Vater hatte es gut mit ihr gemacht; der Liebe, Gute unter dem grünen Hügel, der so wenig für die Sicherheit der Seinen hatte sorgen können, durfte ruhig schlafen! Seine Kinder dachten nur mit Liebe und Ehrfurcht an ihn, seine Kinder wollten ihm Ehre machen und die teure Mutter einst für alles ausgestandene Leid, für Entbehrungen und Anstrengungen reich entschädigen.

Jetzt war es Leontine, die Franzi aus ihrer Versunkenheit riß. »Komm,« sagte sie, »wir wollen gehen; im Schloß könnten sie sonst böse werden.«

Jetzt war es Leontine, die Franzi aus ihrer Versunkenheit riß.

Aber niemand war böse; es wurden gar keine Worte über das sofortige Verschwinden der jungen Mädchen verloren. Man zeigte ihnen ihre Zimmer oben, und dann wartete in der Halle eine gemütliche Vespermahlzeit. Und nun gab's allerlei Überraschungen! Tini hatte sich niemals genau nach den Kindern der jetzigen Wehrburger Linie erkundigt; nun machte sie große Augen, als nacheinander die Söhne des Hauses hereinkamen, immer noch einer, fünf an der Zahl! Das Geschlecht starb also noch nicht aus.

Der Älteste, der jetzige Majoratserbe, war schon beim Vater in der Wirtschaft, zwei trugen Kadettenuniform und waren nur auf Ferienbesuch zu Hause, zwei kamen noch mit dem Hofmeister herein.

»Es ist ein wahrer Männerstaat bei uns,« sagte die Gräfin scherzend, als alle Vorstellungen erledigt waren. »Ich freue mich, einmal nicht die einzige Dame bei der Tafel zu sein.«

Die Gräfin führte zumeist die Unterhaltung, lebhaft, freundlich und gewandt in der Weise, daß sie alle ins Gespräch zu ziehen wußte, auch die sich noch fremd fühlenden jungen Mädchen, und Tini bat es ihr schon jetzt im stillen ab, daß sie sich zuerst ein ungünstiges Bild von ihr gemacht. Diese Tante Adelheid war sicher eine sehr vornehme Frau, obwohl sie manchmal eine große Schürze trug und von wirtschaftlichen Dingen sprach.

Davon mußte man hier allerdings ziemlich viel hören, und Franzi, die immer Interesse für alles Ländliche hatte, fand sich bald in allem wieder zurecht, als sie durch die Wirtschaftsräume geführt wurden und sowohl der Graf wie die Gräfin ihnen mit Eifer alle neuen Einrichtungen und Verbesserungen zeigten.

Über Leontine kam es dabei allerdings doch manchmal wie Trotz. »Alles soll jetzt besser sein,« sagte sie zu Franzi. »Alles Frühere machen sie schlecht, als ob bei uns nichts getaugt hätte!«

Franzi hatte es dann nicht leicht mit dem Erklären und Verteidigen, obwohl sie selbst nach Möglichkeit versuchte, all dem Neuen, das auch ihr oft wehmütige Gefühle weckte, gerecht zu werden.

»Schade, daß Sie Künstlerin werden wollen, Fräulein Franzi,« sagte einmal der Graf. »Sie haben so gute praktische Fähigkeiten.«

»Die schaden aber keinem einzigen weiblichen Wesen,« fiel die Gräfin ein, »die wird Fräulein Franzi auch als Künstlerin brauchen können.«

»Begleiten Sie mich noch ein wenig ins Feld,« bat der Graf. »Ich möchte noch allerlei mit Ihnen besprechen, wobei wir Tini nicht brauchen können.«

Franzi ging bereitwillig mit, und der Graf fuhr fort: »Ich werde nämlich mit meiner kleinen Cousine nicht fertig! Sie müssen mir helfen. In ihrem Köpfchen herrscht ein so krauses Gewirr von halb verstandenen Begriffen und Gefühlen, daß ich mit meinen ersten praktischen Besprechungen damals in Berlin geradezu Unheil angerichtet habe! Das Kind glaubte, mich hassen zu müssen, und nur Ihrem verständigen Zureden ist es zu danken, daß es sich für den Augenblick bekehrte. Aber so wie ich wieder von dergleichen anfange, Anspielungen auf ihre Zukunft, auf eine nutzbringende Tätigkeit mache, sieht es mich feindselig an und will nichts hören. Und dabei sind solche Erwägungen durchaus nötig. Leontine ist nicht wohlhabend – ihre Tanten sind alt und haben auch nähere Erben – sie sollte den Gedanken nicht von der Hand weisen, sich auf irgend eine Weise die Möglichkeit späterer Unabhängigkeit zu sichern, völlig abgesehen davon, daß doch in heutiger Zeit kein Mädchen mehr gern ihr Leben verspielt und vertändelt.«

»Gewiß, Herr Graf,« siel Franzi jetzt bescheiden ein. »Es ist nur – wenn ich es sagen darf – zur Lehrerin oder Erzieherin eignet sich Tini gar nicht!«

»Das habe ich auch schon gedacht. Sie lernt also wirklich schwer?«

»Ja. Schon damals in Wehrburg hatte unsere vortreffliche Erzieherin, Fräulein Elsner, einen sehr schweren Stand. Ich habe jegliches mit Tini lernen müssen. Auch in Berlin habe ich es noch getan, so oft ich konnte, was mir selbst sehr zu gute kam, da ich so teure Privatstunden nicht hätte bezahlen können.«

Der Graf sah nachdenklich aus. »Und Talente hat sie auch nicht?«

»Nein – aber wenn sie auch gewisse Gegenstände schwer auffaßt, Verstand hat sie doch, Herr Graf, sogar Witz! Sie kann sehr drollig und unterhaltend sein, wenn sie sich glücklich fühlt. Sie werden es schon noch erleben.«

»Und wie ist's mit dem Praktischen? Gewiß auch nicht weit her?«

»Sie hat eigentlich geschickte Hände, nur –« Franzi zögerte.

»Nur?« drängte der Graf. »Sprechen Sie es aus.«

»Nur sah sie jede häusliche, wirtschaftliche Beschäftigung bisher für etwas Untergeordnetes an, für etwas, das einer Gräfin Wehrburg nicht zukäme.«

Der Graf lachte kurz auf. »Dummes Mädel! Da soll sie hier anderen Sinnes werden.«

»Ja, ich glaube auch,« fiel Franzi lebhaft ein. »Besser als durch die Frau Gräfin kann sie nie davon überzeugt werden, daß einer wahrhaft vornehmen Dame auch häusliche Tätigkeit schön ansteht.«

»Will's meinen! Und diese Frau, liebes Fräulein, hab' ich von einem Hofball weggeheiratet! Die Hoffestlichkeiten aber, die es jetzt für sie gibt, bestehen nicht in Spiel und Tanz; das sind Schlacht-, Wasch- und Backfeste, wenn's hoch kommt: das Erntefest!« Der Graf lachte behaglich und fuhr fort: »Deshalb sind wir aber doch keine Bauern, wie meine Cousine zuerst glaubte. Wir sind den schönen und verfeinerten Seiten des Lebens auch nicht abhold; aber sie müssen für uns in zweiter Linie stehen. Sie sehen mich fragend an? Sie denken, ich sei doch jetzt der glückliche Majoratsherr von Wehrburg! Ja – jetzt! Aber ich habe schwere Jahre hinter mir, auf einem dürftigen Gütchen. Und – glauben Sie nicht, daß Wehrburg ein so herrlicher, schattenloser Besitz ist! Sie sehen nur das Schöne, die unvergleichlich hübsche Lage, das Altehrwürdige des Schlosses, Wald und Wiesen; ich aber sehe hinter dem allen viel alt und morsch Gewordenes, ja Vernachlässigtes und Entwertetes. Ich sage nichts gegen meinen verstorbenen Vetter, Tinis Vater; er war ein prachtvoller Charakter, aber – Landwirt niemals! Mehr Jäger und Kavalier und, wie gesagt, ein trefflicher, liebenswerter Mensch. Aber –«

»Darüber haben Sie gewiß mit den Tanten in Berlin gesprochen,« flocht Franzi bescheiden ein, »und das hat Tini so falsch verstanden und sich darüber erregt.«

»Allerdings; aber es tut mir leid, und darum gerade hab' ich diese Unterredung mit Ihnen gesucht, um Sie zu bitten, das ungestüme Kind einmal geduldig aufzuklären. Sie hält mich ja wirklich für eine Art Räuber –«

»O nein, nein, Herr Graf!«

»Dann doch so was ähnliches, und denkt im stillen: Wenn der Onkel so herrlich auf der Wehrburg sitzt, soll ich mich plagen und mein Brot verdienen lernen? Vielleicht denken auch Sie, Fräulein Franzi, ich könnte mehr für das Kind tun; aber, bitte, hören Sie mich an. Ich bin als Majoratsherr verpflichtet, jährlich eine Summe an Leontine zu zahlen; nur steht diese Summe nicht fest, sondern richtet sich nach den Einkünften, die das Gut abwirft. Nun können Sie sich denken, daß, da ich das Gut in einem schlechten Zustand übernahm, fortwährend hineinstecken, bauen und verbessern muß, diese Einkünfte nicht groß sind, der Bruchteil, der auf Leontine fällt, aber so verschwindend klein ist, daß ich mich scheute, ihn auszuzahlen, und jedes Jahr aus meiner Tasche ein Beträchtliches zugelegt habe!«

»O Herr Graf, und das ahnt Tini gar nicht!«

»Natürlich nicht, wie sollte sie? Es ist auch gar nicht meine Absicht gewesen, daß sie es erfährt. Nur – wo ich jetzt merke, was für verworrene Begriffe sie noch hat, was für hochmütige Standesvorurteile in dem Kindskopf sitzen, da möchte ich doch ein wenig Ordnung schaffen, ein wenig Klarheit und Einsicht in ihre Vorstellungen vom Leben bringen.«

Der Graf hatte jetzt wieder das strenge Gesicht, das Franzi zuerst an ihm gesehen und ein wenig gefürchtet hatte, aber nun ließ sie sich nicht mehr einschüchtern. Sie empfand das Ehrenvolle, das für sie darin lag, daß der Graf so ernst und offen mit ihr redete, und sie nahm sich fest vor, nach Kräften auf Leontine einzuwirken.

Gelegenheit dazu fand sich noch am selben Tage. Während Franzi mit dem Grafen über Feld gegangen war, hatte Leontine mit den beiden ältesten Vettern einen Ritt gemacht, in heller Freude erkennend, daß sie noch sicher im Sattel saß. Nun war sie in bester, glücklichster Stimmung und schwärmte ihrer Freundin vor, ein Edelfräulein auf dem Lande zu sein, sei doch das beneidenswerteste Los.

Da nahm es Franzi wahr, auch ihrerseits allerlei Betrachtungen an diesen Stand zu knüpfen und all das vom Grafen heute Gehörte der Freundin so sanft und schonend wie möglich beizubringen. Leontine wollte zuerst nicht recht zuhören; sie witterte wieder »Geschäftliches«, das sie haßte, schalt Franzi eine Pedantin und trieb Possen. Als sie aber allmählich begriff, wo es hinaus sollte, als ihr klar wurde, was sie ahnungslos seit drei Jahren von ihrem Onkel angenommen hatte, wurde sie flammendrot und geriet wieder in die größte Aufregung, so daß Franzi tiefstes Mitleid empfand mit dieser Haltlosigkeit ihrer Freundin und alle Beredsamkeit aufwandte, sie zu überzeugen, daß durch solche Aufklärungen niemand sie kränken und ihr wehtun wolle, daß ihre Verwandten es so herzlich mit ihr meinten und sie nie verlassen würden.

»Aber Almosen nehmen? Wie furchtbar!« brauste Leontine noch einmal auf.

Doch Franzi sagte leise: »Ach, Tini, denk, wieviel ich von gütigen Menschen annehmen muß, ehe ich zur Selbständigkeit gelange!«

»Du kannst das auch, du bist keine Gräfin Wehrburg!«

Da wurde Franzi flammendrot und rief: »Nein, ich bin eine Gärtnerstochter, aber ich habe auch meine Selbstachtung! Und das kann ich dir sagen: Keinen Augenblick länger werd' ich Unterstützungen annehmen, als dringend nötig ist, das nun einmal angefangene Werk meiner Ausbildung zu vollenden! Ich sehne mich danach, auf eigenen Füßen zu stehen, aber –«

Sie brach vor Bewegung ab, Leontine ergriff erschrocken ihre leidenschaftlich erhobenen Hände und bat: »Franzi, Franzi, so bös hab' ich es ja nicht gemeint, sei doch wieder gut!«

Aber Franzi war wirklich zornig geworden und rief: »Du tust einem geradezu weh mit deinem kindischen Gerede, mit deinem Nichtverstehenwollen! Da solltest du meine Ursel bei solchen Anlässen sehen! Wie die klug und zart und taktvoll ist!«

Das war das schlimmste, was sie sagen konnte, und es tat ihr gleich hinterher leid, wie sie sah, daß Leontine blaß wurde und mit zitternder Stimme sagte: »Ursel! Immer wieder Ursel! Und ich dachte, hier in der alten Heimat, in diesen schönen Tagen, da würdest du sie einmal vergessen und nur zu deiner Tini halten!«

Das rührte nun wieder Franzi; sie fühlte sofort ihren Zorn verfliegen, umfaßte Leontine und sagte fest und ruhig: »Vergessen werde ich Ursel nie und nirgends, und das kannst du auch gar nicht wünschen! Vergäße ich sie, könnte ich ebensogut eines Tages auch dir nicht mehr treu bleiben. Ich habe euch beide lieb! Ihr seid beide meine Freundinnen und ich wollte, ihr wäret miteinander bekannt; dann wäre gewiß Friede und keine Eifersucht mehr zwischen euch!«

Sie sprachen noch lange ernst und innig miteinander, und das Ergebnis war, daß Leontine an diesem Abend sehr still und gedrückt war, am nächsten Tage aber ihr Gleichgewicht wiederfand und sich nun so liebenswürdig zeigte, wie die Verwandten sie noch gar nicht gesehen hatten.

»Zuerst bedauerte ich immer,« sagte die Gräfin zu ihrem Mann, »daß nicht die kleine Trautmann unsere Verwandte ist. Die hätte ich mir mit Vergnügen als Haustöchterchen herangezogen, während ich deinen Wünschen in Bezug auf Leontine gar nicht recht zustimmen konnte.«

»Aber jetzt willst du's versuchen?« fragte der Graf herzlich.

»Ja, jetzt reizt mich die Aufgabe, dies eigentümliche, widerspruchsvolle Wesen noch etwas zu beeinflussen. Wir wollen sie hier behalten, Otto!«

»Das wäre mir das Liebste! Wir erfüllen damit eine Pflicht, die uns zwar kein Gesetz vorschreibt, die mir aber unabweisbar aus unserer ihr gegenüber bevorzugten Lage hervorzugehen scheint. Was wir zu geben haben an Liebe und Familienanhalt, das wollen wir geben; das macht uns nicht ärmer.«

»Ja,« stimmte die Gräfin bei, »aber Prinzeßchen darf sie nicht spielen, arbeiten muß sie lernen!«

»Und sie wird es, verlaß dich drauf. Wer könnte deinem Beispiel widerstehen?«

Es gab für Franzi in der alten Heimat nicht nur ernste Stimmungen, wie sie durch diese Unterredungen hervorgerufen wurden, wie auch durch die Besuche auf dem Kirchhof und im weißen Parkhäuschen, das einst ihren Eltern gehörte, – sie hatte auch sehr frohe Eindrücke. Wenn sie durchs Dorf ging und merkte, wie alle Leute sie kannten, sie freundlich grüßten oder auch anredeten, tat es ihr wohl, und die Interessen dieser Dorfleute, die so weitab lagen von ihrem jetzigen Lebens- und Ideenkreise, fanden schnell wieder Eingang in ihrem beweglichen Geist und warmen Herzen.

Und die Besuche im Schulhause! Mit welch unbeschreiblichem Behagen saß sie in dem altmodischen Wohnzimmer bei dem nun recht alt gewordenen Paar, das, von allen eigenen Kindern schon verlassen, sich sonnte in dem Wesen dieses jungen Gastes.

»Also eine Künstlerin soll aus dir werden!« sagte der alte Herr, dem unter dem schlohweißen Haar die Augen noch immer in reinem Feuer strahlten. »Ei, ei! Nun, unser Herr hat mancherlei Gaben zu verschenken, und die Musik ist wohl etwas Schönes und Liebliches. Auch in der Bibel steht: Singet und spielet dem Herrn in Eurem Herzen! So gib uns auch einmal ein Pröbchen, Kind, untersuche das alte Klavier, ob's noch stimmt, und laß uns ein Lied hören!«

Franzi tat es, und andächtig hörten die Alten zu. Die kleine Frau Lehrer sah still und verklärt drein, ihr Mann aber rief in seiner frohen Begeisterung: »Der Tausend, das heiß' ich gesungen! Du bist ja fast eine der kleinen Sirenen, vor denen der göttliche Dulder Odysseus sich die Ohren verstopfen mußte, als er zufällig vorüberkam!«

Franzi lachte, und der alte Herr fuhr fort: »Nun denkst du gewiß, dein alter Lehrer brauchte auch nicht solche heidnischen Vergleiche zu ziehen! Ich will also lieber sagen: Dein Lied tat wohl, wie Davids Gesang dem König Saul getan haben mag.«

»Auch das stimmt nicht völlig, mit Respekt zu sagen,« rief Franzi heiter. »Denn Sie, lieber Herr Lehrer, sind kein finsterer König Saul, sondern haben noch immer so viel Licht in den Augen, wie mancher Junge nicht.«

Der alte Herr nickte bedächtig. »Vor Finsternis hat mich der Herr bewahrt, ja, aber still, mein Kind, wird man doch mit der Zeit, wenn nichts Junges mehr um einen herum ist. Nun sing nochmal, das erquickt!« – Als Franzi das zweite Lied beendet hatte, klopfte es bescheiden an der Tür, und auf das »Herein« des Lehrers trat sein junger Nachfolger, der zugleich Organist war, ein.

»Ah, da haben wir schon einen, der nicht vorüber konnte, wo die Sirenen sangen!« rief der alte Herr munter. »Nicht wahr, mein lieber Pelzer, Sie haben gehorcht?«

»Ja,« gestand dieser freimütig und fügte dann zu Franzi gewandt hinzu: »Solchen Gesang pflegt man in dem Dorf selten zu hören!«

»Und noch dazu von einem Wehrburger Kind!« rief der alte Herr und weihte den anderen, der erst seit kurzem hier angestellt war, mit wenigen Worten in die Verhältnisse ein.

»Haben Sie nicht Lust, einmal hier in der Kirche zu singen, mein Fräulein?« fragte jetzt Herr Pelzer sehr interessiert. »Ich würde es mir zur Ehre rechnen, Sie auf der Orgel zu begleiten.«

»Ei, das ist ein gescheiter Einfall!« rief der alte Herr lebendig, und auch Franzi meinte: »Ja, das würd' ich für mein Leben gern einmal versuchen!«

»Top, Kinder, das muß gemacht werden! Sing uns doch beim Osterfest nach der Predigt ein schönes Lied, Franzi.«

»Ich habe die ›Erlöserarie‹ aus dem Messias geübt,« sagte Franzi eifrig. »Vielleicht probieren wir die einmal, Herr Pelzer? Ich schicke Ihnen nachher gleich die Noten.«

Der junge Organist war voll Eifer dabei, und alles wurde verabredet. Noch am selben Nachmittag fand die erste Probe in der Kirche statt, und Franzi empfand ein wunderbares Entzücken, musikalisch und seelisch gleichermaßen, wie in der lieben wohlvertrauten Kirche ihre eigenen Töne schwollen und wuchsen, bis die ganze Luft Musik zu sein schien!

Am Ostertag war die Kirche gedrängt voll wie immer zu Festzeiten. Alle Herrschaftsstühle der eingepfarrten Nachbarn waren besetzt, und von den Dorfbewohnern so viele gekommen, wie die Bänke faßten.

Franzis erstes Publikum!

In frommer Ergriffenheit stand sie oben, nachdem die schlichte warme Rede des Predigers verklungen; mit gefalteten Händen wartete sie auf das Vorspiel, dann setzte sie sicher ein.

»Ich weiß, daß mein Erlöser lebet!«

klang es vom Chor herab, voll von freudiger Gewißheit, und die ahnungslose, überraschte Gemeinde horchte – horchte, wie auf eine Himmelsstimme.

Als dann das Gotteshaus sich leerte, gab es ein Flüstern und Fragen, ein Zögern und Warten auf dem Kirchhof – alle wollten gern die junge Sängerin sehen und sprechen. Franzi aber hatte sich heimlich davon gemacht, durch die kleine Tür, die von der Treppe des Orgelchors direkt ins Freie führte. Sie scheute sich nun doch plötzlich vor den vielen Menschen; still für sich wollte sie diese Stunde ausklingen lassen.

Wie wunderbar das alles war! Gerade hier in der alten Heimat hatte sie zum ersten Male vor einer größeren Versammlung gesungen, gerade hier fühlte sie in Glück und Dank, daß sie das früh gehegte Ideal, einst eine Künstlerin zu werden, vielleicht erreichen würde. Vielleicht? Nein, sie hoffte jetzt: Gewiß!

Leontine war außer sich über diese Leistung ihrer Freundin, aber auch stolz über alle urteilenden Bemerkungen, die sie von den bekannten Nachbarn gehört hatte, und unterhielt Franzi so lange damit, bis diese sich die Ohren zuhielt. Ja, sie überwand sich sogar so weit, daß sie unter einen Brief Franzis an Ursel eine Nachschrift setzte: »Unsere Franzi hat gesungen wie ein Engel!«

Franzi hatte natürlich an ihre Lieben in Wendenburg ausführlich Briefe geschrieben über ihr Ergehen in der alten Heimat, und sie wunderte sich recht, daß sie so spärlich Antwort bekam. Von Ursel nur eine herzliche Karte, von der Mutter kein Wort. Sollte es dieser allzu wehmütig sein, ihre Tochter in Wehrburg zu wissen und nicht selbst dahin reisen zu können? Aber das sah dieser Mutter gar nicht ähnlich. Als am Donnerstag nach Ostern noch immer keine Nachricht eintraf, wurde Franzi so unruhig, daß sie ihre gütigen Gastfreunde bat, sie jetzt schon reisen zu lassen, damit sie die letzten zwei Ferientage noch zu einem Besuch in Wendenburg benutzen könnte. Hatte sie schon vorher sich gesehnt, der Mutter mündlich von allem zu erzählen, so meinte sie jetzt, als alles so still blieb, gar nicht anders nach Berlin zurückkehren zu können, als wenn sie vorher die Mutter gesehen hätte.

Graf Wehrburg und die Seinen fanden das begreiflich und legten ihr nichts in den Weg, Leontine erschrak zwar zuerst, war aber dann doch so erfüllt von dem Bewußtsein, daß sie in Wehrburg bleiben durfte, daß sie sich leichter von Franzi trennte, als sie es selbst für möglich gehalten hatte. »Du kommst ja wieder!« sagte sie in ihrer bestimmten Art. »Du mußt mich oft besuchen.«

Die Gräfin sagte Franzi zum Abschied viel Liebes, und der Graf meinte als Letztes: »Vergessen Sie nie, daß Leontinens Heimat auch Ihnen immer offen stehen wird.«

Dankbar und in tiefem Sinnen fuhr Franzi von dannen. Wie schön, daß sie diese Zeit gehabt, daß sie alles einmal wiedergesehen hatte, woran sie oft in Sehnsucht dachte. Wie gut auch, daß sie sich angesichts gerade dieser Eindrücke über so vieles klar geworden war! Heimweh würde sie nie mehr haben! Ihre Heimat war Wehrburg nicht mehr. Leontine gehörte hierher –, sie nicht. Immer würde sie die Erinnerungen an die Kindheit heilig halten, aber – ihre Liebe durfte nicht stehen bleiben bei einer Zeit, die unwiederbringlich dahin war! Ihre Welt lag jetzt wo anders.


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