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9. Kapitel.
Franzi kommt

Nein, Franzi wußte gleich, daß sie sich nicht zu fürchten brauchte, als sie Ursels Mama einmal in das freundliche Gesicht gesehen und ihre herzlich klingende Stimme gehört hatte. Mit natürlichem Anstand küßte sie der Rätin die Hand und sah dann vertrauend zu ihr auf, während diese gleich im stillen dachte: »Das scheint allerdings ein liebes Mädchen zu sein, das gönne ich meiner Ursel!«

Auch der Landgerichtsrat, der inzwischen allerlei von der geheimnisvollen Freundschaft gehört und Ursel sogar geneckt hatte (zu ihrem Entzücken!), war aufs angenehmste berührt von dem so bescheiden und doch ohne Scheu sich gebenden jungen Mädchen, daß er sich gleich in eine Unterhaltung mit ihr einließ.

Und o Wunder – Ursel machte immer größere Augen –, als Papa nach Franzis Heimat fragte, stellte sich's heraus, daß er Wehrburg kannte! Als junger Assessor hatte er dort einmal geschäftlich zu tun gehabt, und er erinnerte sich deutlich der alten Burg mit dem weiten Park, in dem ihn ein Mann mit einem steifen Bein, der wunderbar beschlagen gewesen in allem, was zur Forstkultur gehört, herumgeführt hatte.

»Das war mein Vater!« rief Franzi mit plötzlichen Tränen in den strahlenden Augen, und fühlte sich auf einmal wie zu Hause in dem eben noch fremden Kreise.

Mitten in das Gespräch hinein kam das Zeichen, daß angerichtet sei, und ohne weiteres, bot der Hausherr dem jungen Gast den Arm und führte zu Ursulas unsäglichem Entzücken ihre Freundin zu Tisch.

Axel kam zu spät dazu. Mit recht verdutzter Miene zog er seinen schon gekrümmten Arm zurück, um ihn dann entschlossen seiner Schwester zu reichen. Einen kleinen Puff bekam sie freilich hinzu, aber der war Ursel nur tröstlich; ihr Bruder wäre ihr sonst gar zu unbekannt vorgekommen.

Im Eßzimmer saßen »die Kleinen« schon auf ihren hohen Stühlen und Inge band ihnen eben die Servietten um. Auch diese begrüßte Franzi freundlich mit einem zugleich erstaunten Blick auf Ursel, die feuerrot und überhaupt wie ausgetauscht erschien.

Das wurde heute ein anderes Mittagessen für sie, wie das vor vierzehn Tagen! Auf einmal kam sie sich vor, wie zu den Großen gehörig, hatte zwar noch nicht die geringste Lust, sich an der Unterhaltung zu beteiligen, sondern hörte nur immer glückselig zu, lächelte manchmal Mama an, die dann einen stillgerührten Ausdruck bekam, und war entschlossen, sich alles von Axel gefallen zu lassen, wenn er nachher mit seinen Neckereien antreten würde.

Sie hatte aber fürs erste noch nichts zu ertragen, denn nach Tisch verlangten die Kleinen, die während des Essens still sein mußten, auch ihr Recht an der »neuen Freundin«, wie Elfchen sagte, und die beiden Backfische wurden in die Kinderstube gezogen, wo Franzi sich aufs herzigste mit den Kleinen abgab.

»So kleine süße Geschwister!« rief sie, »Ursel, wie reich bist du doch!«

»Und ich konnte mir einmal einbilden, es wäre schön, die Einzige zu sein!« dachte Ursula in tiefster Beschämung und sah zu, wie die Geschwisterchen sich an Franzi hängten. Die wußte aber auch mit jedem gleich was anzufangen; sie ließ es sogar zu, daß der kleine Robert sie an beiden Zöpfen faßte, wozu Bertram verständnisvoll »Hü – hott« schrie, während Elfchen sagte: »Mit Ursel wollen sie auch manchmal Pferd spielen, aber sie leidet es nicht.«

»O, sie wird schon, wenn ihr nicht zu sehr zaust – recht manierlich, so – wenn ich das Handpferd bin, wird sie schon Sattelpferd sein wollen. Prrr, prrr!«

In diesem Augenblick kam Axel herein, ein seltener Gast in der Kinderstube! »Was habe ich gesagt?« meinte er lachend, »Sie beide wären ein nettes schwarzbraunes Gespann! Na, Ursel, du siehst auch schon aus, als wenn dich der Hafer kitzelte! Aber, Jungen, Vagabunden, ihr macht es zu toll! Laßt mal gleich das Fräulein los!«

»Sie ist kein Fräulein, sie ist unsere Freundin!« rief Elfi.

»Vagabunden?« wiederholte Franzi lachend, »wie kommen die kleinen entzückenden Buben zu dem schrecklichen Titel?«

»So nennt mein Vater sie,« erklärte Axel, »in Erinnerung an ein urkomisches altes Theaterstück aus Papas Jugend: ›Robert und Bertram oder die lustigen Vagabunden‹.«

Inzwischen griffen die Kleinen die Bezeichnung »schwarzbraunes Gespann« jubelnd auf. »Schwarzbraune, hüh, Schwarzbraune, Galopp!« rief Robert, und Bertram meinte: »Bloß kein schwarzes Kleid mußt du anhaben. Hast kein rotes oder blaues? Dies ist häßlich!«

»Scht, scht,« machte Ursel verlegen, »wer sagt wohl so was!«

»Laß sie doch,« sagte Franzi sanft, »was wissen die kleinen Schelme von Trauer?«

Sie beugte sich zu Elfis Puppenwiege nieder, und Axel fragte heimlich: »Um wen trauert sie?«

»Um ihren Vater,« entgegnete Ursel ebenso leise, und von nun an benahm sich Axel noch respektvoller und zeigte gar keine Anwandlung zum Necken.

Er konstatierte nur sehr bestimmt, er fände Franzi Trautmann – oder Traute Franzmann, das könne er noch nicht behalten – hübscher als Fräulein Anna Leuthold, die ihm damals so gut gefallen, und »solche Schneid' mußt du dir auch anschaffen!« raunte er Ursel zu, mit einem abermaligen brüderlichen Puff.

Ursel wußte schon, »Schneid« war jetzt immer das höchste, sowohl in der Backfisch- wie in der Primanersprache; verständlich war ihr aber nicht, was man darunter verstand. Als sie danach gefragt hatte, war das auch so eine Gelegenheit gewesen, wo man sie »etwas zurück« fand.

»Du weißt nicht, was Schneid ist? Na aber! Ja, wie soll man das erklären? Es ist eben – na eben Schneid!«

Nun war sie noch ebenso klug, aber sie dachte sich, daß es wohl etwas wäre, was sie selbst nicht besaß. Hatte Franzi Schneid? Ursel dachte darüber nach.

Franzi war ehrerbietig, aber nicht blöde den Eltern gegenüber; sie verstand sich in einem fremden Hause zu benehmen, war unbefangen mit Axel und lustig mit den Kleinen. Sie war eben ein Ideal, dachte Ursel.

Nun kam's noch drauf an, wie sie mit Inge fertig wurde, was Ursel ja fast am schwierigsten fand.

Hierzu kam die Gelegenheit beim Kaffee, und Ursel dachte nun wieder: so ist's auch kein Kunststück, Inge sehr liebenswürdig zu finden! Sie sprach sehr freundlich, fragte Franzi nach ihrer Musik, von der sie schon gehört hatte, und zog sie dann bald ins Nebenzimmer, wo das Klavier stand.

Darauf hatte sich nun Ursel auch gerade gefreut, Franzi den schönen Flügel zu zeigen; aber solange Inge da war, hatte sie das Zusehen, das wußte sie schon, auch wenn's wie heute ihre eigene Freundin galt! Sie war aber nicht eifersüchtig heute, sie war nur glücklich, daß ihre Erwählte so augenscheinlich allen in der Familie gefiel.

Franzi hatte den Flügel mit entzückten Augen geprüft, »ein Bechstein!« gerufen und dann die Hände wie liebkosend auf die Tasten gelegt.

»Spielen Sie doch einmal,« sagte Inge, »soll ich Ihnen Noten geben?«

Aber Franzi brauchte keine. Sie saß etwas befangen, aber doch froh, nur halb auf dem Sessel und begann eine Sonate, nicht merkend, daß die ganze Familie sich leise versammelte.

»Den dritten Satz kann ich nicht!« rief sie dann lebhaft, nur zu Inge gewandt, die ihr gegenübersaß, »aber ach, der schöne Flügel! Gerade wie der Wehrburger.« Und nun war sie schon in einem Notturno von Chopin, das noch sicherer und schöner zum Ausdruck kam. Dann sprang sie auf, und als sie den lächelnden Zuhörerkreis gewahrte, meinte sie: »O, ich war recht unbescheiden, so viel zu spielen!« Dann bat sie Inge, doch auch etwas vorzutragen; aber diese lachte und sagte, mit Franzi könne sie sich nicht messen. Auch hatte es eben fünf Uhr geschlagen, und das war die Zeit, wo Inge unweigerlich ihre weißen Schuhe anzog und in den Schloßgarten ging zum Tennis.

Axel stand noch unschlüssig bald hier, bald da herum, bis er endlich mit dem Vorschlag herausrückte, die Freundinnen ein wenig auf dem See zu rudern. Aber hiermit war Mama nicht zufrieden, jetzt beanspruchte sie die Mädchen ein wenig zu ihrer Gesellschaft; auch könne man nicht wissen, ob Franzis Mutter einverstanden sein würde mit dem fremden jungen Seefahrer.

»Oder möchtest du sehr gern?« fragte sie Franzi direkt.

»Nein, ich möchte das, was Frau Rätin wünschen,« antwortete Franzi schnell. »Ich war freilich noch nie auf dem See!« fügte sie unwillkürlich hinzu, und Axel griff es auf.

»O, da müssen wir es aber bald einmal machen, nach Rohrwerder und Herrnhausen – in Heckendorf waren Sie natürlich schon?«

»Nein, ich war nirgends, ich habe sehr wenig Zeit.«

»Ach,« fragte Axel erstaunt, »ich war der Meinung, Sie gehen in keine Schule mehr?«

»Mit der Schule hört doch die Arbeit nicht auf,« mischte sich Mama ein, »das denkt ihr euch nur immer, ihr Schwerbelasteten.«

»Ach, gewiß nicht,« seufzte Axel, »ich weiß genau, daß das Büffeln nachher noch in Ewigkeit so weitergeht.«

»Also genieße deinen Sonntag,« mahnte Mama lachend, der es darum zu tun war, die Mädchen nun wirklich ein wenig allein zu haben und Franzi noch näher kennen zu lernen, als so im allgemeinen großen Kreise.

»Habt ihr Handarbeit?« fragte sie, und Franzi holte erfreut ihren großen Beutel mit der mühsamen Spitzenarbeit, an der nur noch wenig fehlte. Die Decke gab ja nun gleich den besten Anknüpfungspunkt, über Franzis Beschäftigungen, ihre Kenntnisse und Pläne für die Zukunft zu sprechen. Und da Franzi völlig offen und zutraulich war, wie man es Frau Dahlands freundlichen Augen gegenüber wohl sein konnte, und da Ursula mit kleinen näheren Ausführungen und bewundernden Ausrufen ihr noch zu Hilfe kam, wußte die Rätin sehr bald Bescheid in den Verhältnissen der Familie Trautmann und nahm sich vor, die Freundschaft nach Kräften zu fördern und auch dem mutigen, tatkräftigen und augenscheinlich sehr begabten Mädchen gelegentlich die Wege zu ebnen.

Der Nachmittag verging wie im Fluge, und Ursel, die ihre Franzi heute noch keine fünf Minuten allein gehabt hatte, war doch nicht böse darüber, sondern immer nur stolz, ihre Freundin zu präsentieren. Und sie wußte, die stillen Stunden zu zweien würden bald genug wiederkommen, denn es war ja natürlich, daß Franzi weniger zur Familie Dahland kommen konnte, als daß Ursel in die Gärtnerei ging.

Am Abend stellte sich Axel sehr zeitig wieder ein und meinte, er müsse doch Fräulein Trautmann nach Hause bringen; Sonntag abend allein durch den Schloßgarten zu gehen, sei doch unmöglich für eine junge Dame. Und nun war es Ursel, die ihn heimlich puffte, wegen der großartigen Bezeichnung eines Backfisches! Aber die Begleitung wurde angenommen, und Ursel ging natürlich auch mit.

Im Schloßgarten schlug die letzte Nachtigall. Es war ja nun Sommer geworden, alle Vögel bald verstummt, dafür Rosen überall aufgeblüht. Und die großen Ferien in Sicht!

Voller Pläne waren die drei jungen Menschenkinder, und als sie sich endlich bei der Gärtnerei getrennt hatten, sagte Axel: »Wirklich ein famoses Mädel, diese Traute! Solche kenn' ich noch gar nicht. Die nimm dir nur zum Muster, du!«

Solche Ermahnungen in gnädigem Tone waren früher gar nicht nach Ursels Geschmack, heute aber lachte sie hellauf, hängte sich an Axels Arm und fragte recht übermütig: »Meinst du?«


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