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20. Kapitel.
Ankunft in Berlin

Als Franzi in Berlin auf dem Lehrter Bahnhof eintraf, hielt sie ihre schöne rote Georgine, die als Erkennungszeichen verabredet war, recht preislich aus dem Fenster. Aber vergebens! In dem allgemeinen Gewühl, dem hastigen Kommen und Gehen, achtete niemand darauf und tief enttäuscht stieg die junge Reisende, die man zum ersten Male so allein in die Fremde geschickt hatte, als letzte endlich aus dem Wagenabteil.

Enttäuscht und – auch ein wenig ängstlich. Aber nur ein wenig! Sie war ja doch die tapfere Franzi, sie mußte auch in diesem Fall versuchen, sich durchzuschlagen. Aber warum wohl Fräulein Zimmermann, die Pensionvorsteherin, nicht gekommen war oder jemand geschickt hatte, wie sie es doch in ihrem Brief so zuvorkommend versprochen hatte? Tag und Stunde der Ankunft stimmten genau wie verabredet – sollte die Dame sich nur verspätet haben?

Aber nein, der allgemeine Schwarm hatte sich bereits verlaufen; Franzi mußte sich endlich entschließen, den letzten nachzugehen und sich eine Droschke zu sichern. Dort stand mit Riesenbuchstaben das Wort »Ausgang«, dorthin wandte sie sich; und hier redete der Schutzmann mit dem Helm über dem bärtigen Gesicht sie höflich an: »Wenn Sie noch eine Droschkenmarke wünschen, Fräulein, hier ist meine letzte.«

Damit händigte er ihr ein Blechtäfelchen ein, worauf die Nummer 3344 stand.

Franzi blickte verständnislos darauf nieder. »Was soll ich nun damit machen?« fragte sie zaghaft.

Der Schutzmann begriff. »Aha, zum ersten Male in Berlin,« sagte er gutmütig. Dann wies er durch den Ausgang der Halle nach dem Droschkenstand und erklärte: »Jetzt rufen Sie die Nummer, dann wird schon einer vorfahren.«

Franzi dankte und rief so mutig sie konnte: »Dreitausenddreihundertundvierundvierzig!«

Der erste weißlackierte Hut drehte sich nach ihr um und eine lustige Kutscherstimme sagte: »So macht man det nich, Fräuleinchen! – Dreiunddreißig vierundvierzig!« trompetete er darauf, sein Nachbar gab's weiter und gleich darauf fuhr der bezeichnete Wagen vor.

Vergnügt wollte Franzi nun einsteigen und ihre Adresse nennen, als wieder der erste Kutscher menschenfreundlich fragte: »Haben Se denn kein Jepäck nich?«

Richtig! Franzi stand wie angedonnert, ihr Koffer! Sie hatte ja einen Gepäckschein!

»Warten Sie,« bestimmte sie rasch, »ich muß meinen Koffer besorgen.« Nun zurück in die Halle, die inzwischen völlig leer geworden war. Auch der Schutzmann war nicht mehr da – nirgends ein Gepäckträger zu sehen – ja, sie hatte so viel Zeit vertrödelt mit dem Warten und Hoffen, daß doch noch jemand käme, sie zu holen. Nun rannte sie hin und her in der riesigen Halle mit den vielen Türen – da endlich, die blaue Bluse eines Gepäckträgers! Nun schnell den Schein abgeben, die Droschkennummer genannt – diesmal schon in der Kutschermanier – und dann zurück an den Wagen.

Ging es nun rechts oder links? Wie war sie gekommen? Sie flatterte unruhig hin und her, bis da ganz hinten wieder das erlösende Wort »Ausgang« auftauchte. Gottlob, draußen hielt noch der Wagen, und der Nachbarkutscher meinte wieder schmunzelnd: »Na, det hätte scheene werden können, wenn wir det nette Körbchen so hier behalten hätten!«

Franzi nickte ihm dankbar zu; es war doch nett, daß es in Berlin auch menschenfreundliche Leute gab! Nun würde sie wohl sicher hinkommen nach Wilhelmstraße 118!

Wohlgeborgen saß sie dann im offenen Wagen, den hübschen neuen Koffer vor sich, und fuhr in den hellen Herbsttag hinein. Welch ein Leben überall! Was für hohe Häuser! Und dort – Bäume! Prachtvolles buntes Herbstlaub unter dem strahlenden Himmel, weiße Figuren schimmernd dazwischen – breite saubere Wege – ein Reiten und Fahren –

Das war natürlich der Tiergarten. Ach, so etwas Schönes gab es hier? Berlin war nicht nur ein steinernes Häusermeer?

Franzi atmete wie befreit auf und schaute sich strahlend um. Was würde Ursel sagen, Ursel, die immer eine Art Grauen vor Berlin gehabt und Franzi zuletzt fast damit angesteckt hatte?

Aber schon bog der Wagen wieder ab und jetzt lag vor ihr ein herrliches Säulentor, so klassisch und groß im Stil, daß Franzi sich vor Ehrfurcht ganz klein in ihrem Wagen machte und mit großen Kinderaugen hindurchfuhr durch diese Perle von Berlin, das altberühmte und aus Bildern ihr wohlbekannte Brandenburger Tor!

Nun ging's über den großen »Pariser Platz«, wo die Wasser sprangen und das Leben sich drängte. Dann eine nur kurze Strecke die »Linden« entlang, und nun bogen sie in die stillere Wilhelmstraße ein.

War's möglich – hier sollte die kleine Franzi wohnen? Hier, wo ein schweigsamer Palast neben dem anderen steht, der von Preußens, von Deutschlands Geschichte redet?

Aber sie rollten weiter und weiter, leise auf dem schönen Damm, wie Franzi es gar nicht kannte, vorbei an des »eisernen Kanzlers« einstigem Palais, bis die Wilhelmstraße endlich auch ein bürgerlicheres Ansehen gewann und Läden und Mietshäuser zeigte.

Endlich hielten sie vor Nummer 118. Der Kutscher knallte auffordernd mit der Peitsche, Franzi sah an den Fenstern empor – aber auch hier schaute niemand ihr entgegen. So zog sie in abermaliger Enttäuschung ihr Portemonnaie und bezahlte den Kutscher, der ihr mehr als drei Mark abforderte – eine Summe, die sie schrecklich hoch fand, die er aber lakonisch erklärte mit »von wegen det Warten!« Dann bequemte er sich wenigstens, ihr den Koffer in den Hausflur zu stellen, und hier mußte Franzi sich wohl oder übel entschließen, sich von ihrem Eigentum einstweilen zu trennen und die Treppen hinaufzusteigen. Drei mußten es sein, das hatte sie sich gemerkt, und da war auch das Porzellanschild mit: »Zimmermann, Damenpension.«

Auf ihr Klingeln kamen im inneren Korridor hastige, leise, schlürfende Schritte, Franzi sah sich einer kleinen, verwachsenen Dame mit feinen bleichen Zügen und entschieden ängstlichen Augen gegenüber.

»Fräulein Trautmann?« klang es ihr fragend entgegen und dann erregt und überstürzt: »Mein Himmel, nun sind Sie doch da! Ist meine Karte nicht mehr angekommen? Ach, wie mir das leid tut! Was machen wir nun? – Aber, bitte, kommen Sie herein – ich kann Sie doch nicht wieder fortlassen –!«

Eine Dame mit feinen bleichen Zügen erschien im Eingang.

Nein, das hoffte Franzi aber auch sehr, daß das nicht geschah! So ein ungastlicher Empfang! Sie fühlte ein Frösteln und so sagte sie unbewußt etwas ernst und kurz: »Mein Koffer steht im Hausflur; ich darf wohl bitten, daß er heraufgeholt wird?«

»Natürlich, ja gewiß,« sagte die kleine Dame wieder erregt, »die Guste geht sofort hinunter. Und nun kommen Sie doch, bitte, und seien Sie nicht böse, daß alles so ungemütlich ist.«

»Ich verstehe nur gar nicht,« begann Franzi fragend, »ich war doch für heute angemeldet?«

»Ja, ja, bestes Fräulein, das ist es eben; ich habe nach dieser Anmeldung noch einmal an Sie geschrieben und Sie gebeten, zwei Tage später zu kommen, weil eine meiner Pensionärinnen das für Sie bestimmte Zimmer sehr gern noch bis dahin behalten und erst dann abreisen wollte.«

»Diese Nachricht habe ich nicht mehr bekommen,« sagte Franzi bestürzt, und die alte Dame fiel ein: »Das ist eben das Unglück, es ist doch zu spät gewesen; ich hätte auf Fräulein Kellers Bitte nicht eingehen sollen. Nun, es hilft jetzt nicht, irgendwie muß Rat geschafft werden. Freilich sind alle Zimmer besetzt! Doch nun legen Sie hier einstweilen ab, bitte, und dann entschuldigen Sie mich, ich muß nach der Küche sehen; in einer Viertelstunde essen wir.«

Sie klingelte jetzt, und ein Dienstmädchen mit hochrotem Gesicht und abgehetztem Ausdruck erschien in der Tür.

»Guste, holen Sie den Koffer des Fräuleins herauf,« sagte Fräulein Zimmermann, aber Guste versetzte unbefangen: »Ick kann jetzt nich aus de Küche, de Bouletten soll'n doch woll nich verbrennen?« und verschwand wieder.

Fräulein Zimmermann seufzte und folgte dem Mädchen, um es am Herdfeuer abzulösen, damit nur endlich der Koffer der neuen Pensionärin in Sicherheit kam. Er wurde dann einfach im Eßzimmer hingestellt und Franzi damit allein gelassen.

Wie gern hätte diese Kamm und Bürste herausgenommen, sich gewaschen und ihr hübsches Reisekostüm vom Staub befreit. Aber hier in diesem Zimmer mit den drei Türen ging das doch nicht! So machte sie sich nach Möglichkeit mit dem Taschenkämmchen zurecht und setzte sich dann an das einzige breite Fenster des großen Zimmers und ergab sich in Geduld.

Bald erschien auch Guste wieder, noch etwas röter und unwirscher als vorhin, und deckte den Tisch für sechzehn Personen, wie Franzi schnell feststellte. Auf einmal lief sie nach der Tür, die nach den Küchenregionen zu führen schien, und rief: »Fräulein Zimmermann, noch 'ne Serviette!«

»Wie unmanierlich,« dachte Franzi entrüstet, und über all dem Neuen und Verwunderlichen, was sie hier sah und hörte, kam sie für den Augenblick von sich und ihren ersten kleinen Enttäuschungen ab. Denn nun wurde eine Klingel mit andauernder Heftigkeit in Bewegung gesetzt, und aus allen Türen der großen Etage kamen die Pensionärinnen zu Tisch.

Franzi mußte sich ans untere Ende der Tafel neben Fräulein Zimmermann setzen. Diese hatte aber so reichlich mit dem Ausgeben der Suppe, dem Schneiden und Vorlegen zu tun und daneben die unwirsche Guste anzuweisen, daß sie kaum ein Wort für ihren neuesten Gast fand.

»Fräulein Trautmann,« hatte sie mit einer flüchtig vorstellenden Handbewegung gesagt, dann ein paar fremde Namen genannt, und nun war das junge Mädchen wieder sich selbst überlassen.

Franzi fiel plötzlich ein, daß sie sich Fräulein Zimmermann unbewußt ähnlich wie Fräulein Charlotte Raumer vorgestellt hatte, die allgemein beliebte und verehrte Pensionatsvorsteherin in Wendenburg. Wenn diese feine, anmutige Erscheinung mit dem klugen, gütigen Gesicht ihre junge Schar ausführte, folgten ihr nur wohlwollende und sehr interessierte Blicke, und manch kleines Mädchen dachte wohl: »Zu denen da möchtest du auch gehören!«

Nun, dies hier war ein völlig anderer Kreis, und Franzi sagte sich schnell, daß es ja keine Erziehungsanstalt für kleine Mädchen sei, sondern eine »Damenpension«! Und sie selbst nun auch eine junge »Dame«, eine von den vielen, die sich in Berlin »ausbildeten«. Taten sie das alle, diese viel Älteren, die ihr so fertig, so sicher erschienen, zum Teil so elegant und lebendig? – zum anderen Teil so ernst, angestrengt, ja schon grauhaarig?

Die kleine Franzi machte in aller Stille mancherlei Beobachtungen, bis sie plötzlich von ihrer Nachbarin angeredet wurde: »Sie sind erst angekommen, Fräulein?«

»Ja, vor einer Stunde,« antwortete Franzi.

»Und was wollen Sie denn hier treiben, wenn ich fragen darf?«

Richtig, da war das Stichwort. »Etwas treiben«, das mußte man hier.

»Ich will mich in Musik ausbilden.«

»O weh,« rief es da von gegenüber, »noch eine Musikbeflissene? Das wievielte Klavier bekommen wir dann in die Etage, Fräulein Zimmermann? Nummer sieben?«

»Seien Sie froh, daß es keine Geige ist,« mischte sich lachend eine andere ein, »davor haben Sie ja doch am meisten Angst.«

»Allerdings, Fräulein Eschrich, Ihre Nachbarschaft sonst in Ehren, aber wenn Sie zu kratzen anfangen –«

»Dann möchten Sie wieder kratzen, und zwar am liebsten mir die Augen aus!« fiel wieder das heitere Fräulein Eschrich ein, das die Bezeichnung »Kratzen« gar nicht übelzunehmen schien und sich jetzt an Franzi wandte, die mit erschreckten Augen zuhörte.

»Sie wundern sich, daß wir hier so über Musik reden, nicht wahr? Aber es ist nicht so schlimm gemeint! Nur – so viel ist gewiß: Die liebsten Hausgenossen sind wir Musikanten nicht, gelt, Zimmermännchen?«

Die alte Dame lächelte schwach, und Fräulein Eschrich scherzte weiter: »Da sind Malerinnen schon beliebter. Sehen Sie Ihre und meine Nachbarin an – das bißchen Terpentingeruch verzeiht man, nicht wahr? Und nun gar unsere Gelehrten! Sehen Sie da oben die drei Würdigen? Wenn sie Tintenfinger haben, was stört das uns? Ach, und solche, wie Fräulein Meyer, die den ganzen Tag in einem Bureau arbeiten und hier nur schlafen und essen, das sind die Allernettsten! Nicht wahr, Meyerchen, Sie wissen sich von uns allen geliebt?«

»Weil ich niemand störe?« entgegnete die Angeredete, und über ihr abgespanntes Gesicht glitt ein freundliches Lächeln. Auch sie schien nicht geärgert durch Fräulein Eschrichs übermütige Bemerkungen, und diese sah auch wirklich zu liebenswürdig aus; man konnte ihr gewiß nicht böse sein.

So dachte Franzi, während sie voller Staunen diese Art von Unterhaltung anhörte, die ihr völlig fremd war, den anderen aber selbstverständlich zu sein schien.

Fräulein Zimmermann hob jetzt die Tafel auf, und nun schwirrte noch ein paar Augenblicke alles durcheinander. Die Damen kamen mit allerlei Wünschen und Ansprüchen, und die Vorsteherin hielt geduldig allen stand.

»Nicht wahr, Fräulein Zimmermann, ich kann heute schon um halb sieben Uhr Abendbrot haben? Ich werde zur Philharmonie abgeholt.«

»Und ich möchte bitten: Um zehn Uhr eine Flasche Bier und etwas kalte Küche auf meinem Zimmer, ja?«

»Ach, bitte, darf Guste wohl ausnahmsweise heute nachmittag ein paar Schuhe für mich putzen? Ich habe keine trockenen mehr!«

»Fräulein Zimmermann, meine Bettdecke ist mir nicht mehr warm genug; darf ich für heute abend um ein Oberbett bitten?«

»Ich muß um vier Uhr zur Bahn; eine Droschke habe ich schon bestellt, wenn Guste nur den kleinen Koffer hinuntertragen dürfte, ich möchte den Portier nicht noch besonders bezahlen.«

So ging das durcheinander, und die alte Dame hatte für alle ein Ohr und bereitwillige Auskunft, während sie auf dem halb abgeräumten Tisch ein neues Kuvert zurechtrückte, augenscheinlich für eine Nachzüglerin.

Und jetzt kam diese auch schon herein, sehr eilig, den Hut noch auf dem Kopf, grüßte flüchtig und setzte sich zu ihrem verspäteten Mittagessen, während die anderen Damen sich wieder in ihre Zimmer zurückzogen.

»Fräulein Keller,« wandte sich die Vorsteherin an die Essende, »nun ist Fräulein Trautmann doch gekommen –«

»Wer ist Fräulein Trautmann?« fragte die junge Dame gleichgültig.

»Aber ich bitte Sie, das ist doch die neue Pensionärin, die Ihr Zimmer haben soll!«

»So, heißt die Trautmann?« klang es wieder unbekümmert. »Nun, da ängstigen Sie sich nur nicht! Ich kann Ihnen mitteilen, daß ich mit meinen Angelegenheiten ziemlich fertig bin, schneller, als ich dachte; ich kann, wenn es sein muß, noch heute abreisen.«

»Ach ja,« seufzte Fräulein Zimmermann, »das wäre gut! Das heißt, Sie dürfen mich nicht falsch verstehen; es tut mir ja sehr leid, Sie nicht länger behalten zu können,« fügte sie höflich hinzu.

Fräulein Keller lachte wieder unbekümmert und beachtete jetzt erst Franzi, die sich wieder still ans Fenster zurückgezogen hatte. »Ah, da ist wohl meine Nachfolgerin? Ja, entschuldigen Sie, Fräulein, wenn ich Ihnen noch nicht das Feld geräumt habe! Gedulden Sie sich nur ein paar Stunden, dann können Sie einziehen. Ich werde gleich anfangen zu packen – kann Guste mir ein wenig helfen?«

Wieder ein Auftrag für das abgehetzte Mädchen, dachte Franzi, als die beiden Damen nun das Zimmer verließen; sie hätte gern den Tisch vollends abgeräumt und sich in der Küche nützlich gemacht – aber das ging doch wohl nicht gut.

Doch hier auf dem Tisch am Fenster lag so viel Wäsche, die augenscheinlich ausgebessert werden sollte, wenn nur erst jemand Zeit dazu hatte! Mechanisch nahm Franzi ein Handtuch auf und begann, einen angefangenen Stopf fertig zu machen. Ach, nur eine Beschäftigung! Sie wußte ja nicht wohin mit sich! Alle hatten zu tun, und sie, die sonst allzeit Tätige, wußte nicht, was sie sollte! Hatte kein Zimmer, um sich auszuruhen, keine Gelegenheit, ihren Koffer auszupacken – – und niemand, der sich um sie kümmerte!

So nahm sie geschwind ein zweites Tuch und stopfte, als säße sie zu Hause – in der Gärtnerei, und wüßte nicht aus noch ein vor Arbeit.

So traf sie Fräulein Zimmermann, die vor Überraschung ihr Schlüsselbund fallen ließ.

»Ah, entschuldigen Sie,« stotterte Franzi, »ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Darf ich Ihnen hierbei ein wenig helfen?«

Die alte Dame sah fast gerührt aus; dies war ihr noch nicht vorgekommen. »Ich nehme es an,« sagte sie, »weil es wohl das erste und einzige Mal sein wird! In Berlin hat niemand übrige Zeit, das werden Sie auch bald merken, liebes Fräulein, und niemand tut so leicht etwas für andere, wenn es nicht nötig ist! Besonders in einer Pension wie hier nicht!«

Franzi fand das traurig, ohne es recht zu verstehen, und meinte bescheiden: »Aber wenn jeder einzelne es nicht leicht hat, sollte man sich doch desto mehr bemühen, einander behilflich zu sein.«

Fräulein Zimmermann nickte wieder mit dem gerührten Ausdruck, seufzte ein wenig und schwieg. Sie hatte jetzt allerlei aufzuschreiben und zu rechnen, so blieb es eine Weile still im Zimmer, wie überhaupt in der Etage. Dann aber begann wieder ein Türenklappen, Aus- und Eingehen, Klingeln und Laufen auf der Treppe – die kurze Mittagsrast war zu Ende.

Franzi stopfte noch immer und hatte so viel zu denken, daß ihr die Zeit wie im Fluge verging. Da kam Fräulein Eschrich herein und hielt verwundert vor dem Fensterplatz an.

»Was für ein Tugendspiegel sitzt denn hier?« rief sie lachend, »hat Fräulein Zimmermann Sie als Flickfrau aufgenommen?«

Franzi erklärte errötend, wie sie dazu gekommen, und Fräulein Eschrich meinte gutmütig: »Nun, der Fall wird ein einzelner bleiben; denken Sie an mich, daß ich das heute gesagt habe! Sie werden nie wieder um Beschäftigung verlegen sein, nie wieder übrige Zeit haben! Wenigstens, wenn Sie es ernst meinen mit Ihrer Kunst. Die Musik ist eine strenge Herrin und verlangt den ganzen Menschen.«

»Das sagte meine frühere Lehrerin auch schon!« erwiderte Franzi freudig, »und auch mein alter Lehrer in Wendenburg; ich bin völlig auf den Ernst gefaßt!«

»Das ist recht. Haben Sie sich schon entschlossen, bei wem Sie hier studieren wollen?«

»Ja, an der Königlichen Hochschule.«

»O, das trifft sich ja nett; dort geige ich auch.«

»Ach, da können Sie mir gewiß den Weg dahin zeigen,« bat Franzi erfreut, »ich bin für morgen vormittag zur Prüfung angemeldet.«

»Gern. Ich habe zwar morgen keine Stunde, aber – wissen Sie was?« unterbrach sie sich, »kommen Sie heute mit mir zu einem kleinen Spaziergang! Ich habe in der Potsdamerstraße zu tun, da führe ich Sie gleich ein wenig in Berlin ein. Wollen Sie?«

»O, Sie sind sehr freundlich! Gewiß will ich!«

Auf sprang Franzi, daß Arbeit und Schere zu Boden fielen; aber dann besann sie sich und packte fein säuberlich alles zusammen, wie sie es gewohnt war. Darauf nahm sie wieder Hut und Jäckchen und betrat mit ihrer Begleiterin die Straße, ein gut Teil zuversichtlicher, als sie vor etwa drei Stunden hier abgestiegen war.

Beglückt und zutraulich sah sie in Fräulein Eschrichs hübsches Gesicht, und dieser machte es auch merklich Vergnügen, die junge Fremde mit den großen fragenden Augen zu führen und auf alles aufmerksam zu machen.

Solange sie in der stillen Wilhelmstraße gingen, ließ sie sich auch von Franzi ein wenig erzählen, von ihrer Reise, von der Heimat, von ihren Plänen und Aussichten für den Berliner Aufenthalt. Als sie aber in die Leipzigerstraße einbogen, verbot sich das Plaudern von selbst, so viel gab es zu sehen und zu beachten, und als gar der Potsdamerplatz erreicht war, klammerte Franzi sich krampfhaft an den Arm ihrer Begleiterin und bat immer wieder: »O, einen Augenblick warten! Ach bitte, nicht weiter – nicht da hinüber!«

Fräulein Eschrich lachte. »Da könnten wir lange warten! Da ständen wir vielleicht heute abend noch hier, wenn wir warten wollten, bis die Menge sich verläuft. Durch müssen wir, immer vorsichtig schlängeln! Sehen Sie den Schutzmann dort? Wenn wir den erreicht haben, sind wir einen Augenblick in Sicherheit. Nur vorwärts!«

Und so ging es durch das Gewühl von Fußgängern und Droschken, zwischen den Wagen der elektrischen Bahn, den sausenden Fahrrädern und ratternden Automobilen hindurch, angeschrieen von Zeitungsverkäufern und Blumenhändlern, bis sie glücklich die Potsdamerstraße erreicht hatten.

Franzi stand zitternd einen Augenblick still und sagte atemschöpfend: »Das also ist das furchtbare Berlin, vor dem Ursel immer solche Angst hatte und nicht begreifen konnte, daß ich mich nicht auch fürchtete! Das ist ja lebensgefährlich!«

»Ja, armes Kind, und über diesen lebensgefährlichen Platz müssen Sie nun täglich, denn unsere Hochschule liegt in dieser Straße.«

»O wie schrecklich!«

»Vielleicht werden Sie vorläufig immer fahren?«

»Fahren?«

»Ja, mit der Elektrischen, für zehn Pfennige.«

»Alle Tage? Das wird nicht angehen,« meinte Franzi bedenklich, denn es kam ihr natürlich wie ein unerhörter Luxus vor, wenn sie bedachte, wie mühsam sie sich bisher jedes Zehnpfennigstück verdient hatte.

Fräulein Eschrich lächelte über ihren ernsten, grüblerischen Ausdruck, sagte aber nichts weiter, und Franzi war auch schon wieder völlig in das Straßenbild vertieft. Jetzt kamen sie an eine Musikalienhandlung, in welche die junge Geigerin eintrat, um Noten auszusuchen.

»Hier werden Sie wohl auch Ihre ›musikalischen Lebensmittel‹ beziehen,« meinte sie dabei, »merken Sie sich nur gleich die Firma. Und wie ist's mit einem Klavier? Wollen Sie eines mieten? Auch das können Sie hier haben.«

»Ich weiß nicht,« sagte Franzi zögernd, »Fräulein Zimmermann hat geschrieben: Klavier im Hause.«

»Ach, das ist nichts,« entschied Fräulein Eschrich, »der verstimmte Klapperkasten im Eßzimmer ist gut, um einen Tanz drauf zu spielen, wenn wir mal lustig sind, aber nicht für eine ernsthafte Musikstudentin!«

Franzi wurde rot bei dieser Bezeichnung, und als Fräulein Eschrich noch sagte: »Ich will Ihnen gern eines aussuchen helfen in den nächsten Tagen,« da rief Franzi dankbar: »Sie sind aber wirklich sehr gut! Und Fräulein Zimmermann meinte, in Berlin hätte niemand Zeit für den anderen, niemand wäre gefällig und hilfsbereit.«

»Sagte sie das, unser gutes altes Zimmermännchen? Nun, sie hat nicht ganz unrecht. Man wird schrecklich egoistisch, wenn man so in Pensionen lebt.«

»Wirklich? Gerade da, wo man es so bequem hat, immer ein ›Tischlein deck dich‹ und alles bereit?«

»Gerade da. Sehen Sie, wir arbeiten alle! Wir lernen und üben, malen, schreiben – wir geben Stunden, sitzen in Redaktionen, in Arbeitsstuben – keine einzige von uns ist zu ihrem Vergnügen in Berlin. Entweder wir bereiten uns auf eine Erwerbstätigkeit vor – was viel kostet – oder wir stehen schon drin in der Arbeit, die uns ernähren soll, und da heißt es erst recht: Immer unentwegt vorwärts! Ach, und da verlernt man mitunter die Rücksichtnahme, die Selbstlosigkeit, auf die man in der Familie von jeher hingewiesen war! Jede einzelne steht allein mit ihrer großen Aufgabe, an die sie ihr Leben setzt; da kommt es wohl vor, daß wir in kleinen Äußerlichkeiten egoistisch erscheinen.«

»Aber Sie nicht,« sagte Franzi warm und blickte bewundernd in das hübsche und jetzt so ernste Gesicht. Diese Mitpensionärin gefiel ihr ausnehmend. »Sie helfen mir ja fortwährend!«

»Nun, das ist nicht weit her; dies Wenige tu' ich gern, weil Sie so ein lieber, netter Kindskopf sind! – Und nun sehen Sie dahin, dort liegt unser Musentempel. Mög's Ihnen recht gut darin ergehen!«

Und Franzi blickte mit Ehrfurcht auf das Gebäude der Hochschule.


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