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18. Kapitel.
Die kleinen Vagabunden

Die kleine Elfi, die zur Schule kommen sollte, beklagte sich sehr, daß niemand sich für ihr Ränzel, ihre Fibel und Tafel interessierte, die sie doch jeden Tag probeweise packte und mit wichtiger Miene durch den Vorgarten bis an die Straße trug, wo sich, hierdurch angelockt, bereits ein Nachbarskind gefunden hatte, das versicherte, es ginge auch nächstens zur Schule, in dieselbe Schule! Sie könnten ja dann immer zusammen hingehen. Elfchen war also nahe daran, im Gegensatz zu Ursel, schon vor ihrem Eintritt in die Welt der Schule Freundschaften zu schließen!

Die kleinen Vagabunden faßten den Umstand, daß sie etwas weniger beachtet wurden, anders auf und vollführten manchmal Streiche, die den ihnen sozusagen angeborenen Ehrentitel berechtigt erscheinen ließen.

Eines Tages hatten sie einen Orgeldreher mehrere Straßen weit verfolgt und genau beobachtet, wie er sein Geschäft betrieb. Darauf hatten sie sich ein wenig verirrt, aber ohne Unglück doch wieder den Weg nach Hause gefunden.

Nun wollten sie selber Orgeldreher sein!

Eine Spieldose befand sich im Kinderstubenschrank. Sie stand zwar im obersten Fach, um nicht ohne weiteres erreichbar zu sein; aber Robert kletterte auf einen Tisch, der erst mit Gepolter herbeigezogen wurde, dann noch auf eine Fußbank, die natürlich umfiel, und gelangte schließlich zu dem sorgfältig gehüteten Schatz.

Nun schnitten sie von Zeitungspapier sich »solche Zettel« zurecht, wie der Leiermann hatte, und dann kniffen sie heimlich aus. Am gelben Tor vorbei, den Wiesenweg hinunter, bis zum Eingang des Schloßgartens. Es waren in Wirklichkeit nur drei Minuten, aber so allein kam es ihnen doch wie eine Reise vor, obgleich sie spornstreichs rannten. Vornan im Schloßgarten, wo mehrere Alleen sich kreuzen, hielten sie es dann für geeignet, sich aufzustellen. Robert bearbeitete die Spieldose und wurde von Bertram ermahnt, er müsse auch die Augen dabei verdrehen! Dieser selbst las und sang unmögliche Dinge von den Zeitungszetteln ab und hielt seine Mütze vor sich hin für etwaige milde Gaben!

Es kamen nur leider sehr wenig Spaziergänger vorbei, da es um die Zeit nach Tisch war, wo die meisten Leute Nachmittagsruhe halten. Die Leiermänner beschlossen daher, den Schauplatz ihrer Tätigkeit zu verlegen. Am besten würde es gewiß auf dem Markt sein! Nur wußten sie nicht, wie man dahin kam. Vielleicht, wenn man durch die nahegelegene Allee ging und dann am Schloß vorbei? Gerade wollte sich Robert die Spieldose an einem dicken Bindfaden über den Rücken hängen, wie sich's gehört, da schrie Bertram: »Da kommt einer! Fix spielen!«

Robert drehte, und: »Einst spielt' ich mit Zepter und Kronen« erklang in rasendem Tempo, während Bertram sang: »Wer will unter die Soldaten!«

Der Herr, der daherkam, lachte schon von weitem; als er aber die ausgestreckte Mütze sah, legte er recht ernsthaft ein paar Kupferstücke hinein. Die kleinen Jungen in ihren weißblauen Matrosenanzügen, mit den blonden Lockenköpfen und der wichtigen Miene in den süßen Gesichtern, waren allerliebst! Er mußte sich erkundigen, wer sie waren, und als der »Zettelmann« frischweg antwortete: »Robert und Bertram Dahland!« da lachte der Herr hellauf.

»Sieh da, ihr seid ja ein vielversprechendes Brüderpaar! So jung schon seid ihr aufs Geldverdienen aus? Da werdet ihr einmal eine rechte Stütze für euren Papa sein.«

»Ja, er sagt sonst immer: Jungen kosten so viel Geld! Wir haben auch erst gestern wieder neue Stiefel bekommen!«

»Ach so! Na, findet ihr denn auch wieder nach Hause?«

»Natürlich,« antwortete Robert stolz, »wir gehen bloß den kleinen Weg hier entlang, dann durchs Tor – und am Fürstenplatz wohnen wir.«

»Aber,« fiel Bertram ein, »wir gehen erst noch auf den Markt; da sind mehr Leute, da kriegt man mehr Geld.«

»Aha! Da hast du wohl recht; aber vielleicht begnügst du dich heute mit der Einnahme von mir, wenn ich dir jetzt noch ein Lied abkaufe. Kann ich einen Zettel haben?«

»Ja, sehr gern, was wünschen Sie? ›Wer will unter die Soldaten‹ oder ›O Tannenbaum‹?«

»Ich bin für die Soldaten! Du doch gewiß auch?«

»Ja, ich will Husar werden, mit'n Pferd!«

»Und ich will bei die Kanonen! Aber nicht auf'n Wasser, wie Axel.«

So jung schon seid ihr aufs Geldverdienen aus?

»Das sind ja schöne Aussichten für das deutsche Heer! Da grüßt nur euren Papa und sagt ihm, der Onkel Oberst freute sich schon auf die Dahlandsöhne! Und aufs Wasser will auch einer von euch?«

»Ja, unser großer Bruder Axel.«

»Aber er soll nicht!« fügte Robert hinzu.

»Nicht? Die Mama will's wohl nicht?«

Robert nickte. »Hm, er könnt' ja mal vertrinken!«

»Aber er kann auch die ganze Welt zu sehen bekommen!« meinte der Herr.

»Ja? Sieht man die von's Wasser?«

»Ja, auf dem Wasser kommt man allenthalben hin. – Sagt mal Mama, ich schicke ihr einen Gruß und einen Spruch, der wäre gut für eine Soldatenmutter: Ich hab's gewagt! – Könnt ihr das behalten?«

»Natürlich!« versicherten beide zugleich, und dann meinte der Oberst: »Nun geht aber lieber gleich nach Hause; ich werde aufpassen, bis ihr durchs gelbe Tor seid. Den Markt gebt nur für heute auf. Adieu, ihr kleinen lustigen Vagabunden!«

»Ja, so heißen wir!« schrieen die kleinen Jungen seelenvergnügt und rannten davon.

»Du, Berti,« sagte der Orgeldreher unterwegs, »was sollen wir Mama ausrichten?«

»Ich hab 'n Wagen!« erwiderte der Zettelmann überzeugt.

»Ach bewahre! Nu weiß ich schon: Ich hab's gesagt!«

»Ja, was hat er denn gesagt?«

»Weiß ich auch nicht. Mama wird es dann aber schon wissen.«

»Ja, die großen Leute wissen immer gleich alles, wenn sie sich was bestellen lassen. Neulich schickte eine Frau und ließ bloß sagen: Es wär' gut! Da frag' ich Mama: Was ist gut? Da sagt sie: Wenn du es auch nicht weißt, Berti, wenn Mama es nur weiß! Also wird sie auch wohl verstehen, was der Herr gesagt hat.«

So plaudernd kamen sie bis ans Tor, drehten sich noch einmal um und sahen den freundlichen Herrn noch dastehen und winken. Sie liefen nun geradewegs nach Hause, denn sie fanden, daß sie heute schon viel erlebt hatten, und daß der Markt für ein andermal bleiben könnte. Durch die Begegnung mit dem lustigen Onkel Oberst hatten sie auch die Furcht verloren, es könnte Schelte geben für den Streich.

Zu Hause hatte man gerade angefangen, sich zu beunruhigen, als die Kleinen weder in der Kinderstube noch im Garten zu finden waren. Als sie nun so glückselig anspaziert kamen und ihre Taten furchtlos berichteten, mußte Mama sie ein wenig schelten, aber Papa konnte sich das Lachen nicht verbeißen. Da die Familie sich gerade zum Kaffee versammelte, hörten alle die Begebenheit, und je nachdem wurden die kleinen Schlingel geneckt, bedroht oder geküßt, weil sie doch gar zu niedlich und schelmisch waren.

Als sie von dem Onkel Oberst erzählten, sagte Papa: »Aha, das ist Oberst von Prangken; der wohnt in Westeck und nimmt immer den Weg durch die Allee.«

»Ist dessen Sohn nicht auch bei der Marine?« erkundigte sich Axel.

»Zwei sogar,« antwortete Papa, schwieg aber sogleich wieder.

»Ja, und ich hab' gesagt,« fing Robert wichtig wieder an, »unser großer Bruder wolle auch zu See, aber er sollt' nicht –«

»Mama wär' bang, er vertrinkt!« fiel Bertram ein.

»Kinder!« entsetzte sich Mama, »ihr macht ja eine schöne Heldenmutter aus mir!«

Den Jungen fiel nun der Auftrag ein, und sie verkündeten: »Der Onkel Oberst schickt dir auch einen Gruß –«

»Nein, einen Spruch!«

»Der heißt: Ich hab' 'n Wagen.«

»Nein – ich hab's gesagt!«

Die Eltern sahen sich erstaunt und fragend an, Axel aber rief triumphierend: »Ich weiß! Es ist: ›Ich hab's gewagt‹! Der Hutten-Spruch!«

»Hutten-Spruch? Nee, Mutterspruch hat er gesagt,« rief Berti, »für 'ne Soldatenmutter!«

Aber nun achtete niemand mehr recht auf sie, denn Axel war aufgesprungen und rief erregt: »Liebe Eltern, ist euch dies nicht ein Wink? Kommen wir durch den Streich der kleinen Vagabunden nicht vielleicht auf eine richtige Fährte? Du, lieber Papa, kennst ja den Obersten, sprichst ihn öfter – willst du nicht mal bei ihm Erkundigungen einziehen? Wäre sein Wort und Rat nicht die sicherste Gewähr?«

Axel hatte sich rot und in Feuer geredet, jetzt reichte ihm Papa die Hand über den Tisch und meinte ernsthaft: »Wir wollen sehen.«

Mama aber sagte mit wehmütigem Lächeln: »Und ich müßte mich ja wohl schämen, wenn ich mich dagegen wehrte, daß die Sache ernstlich ins Auge gefaßt wird – wenn meine Kleinen mich so in der Leute Mund bringen!«

Diese Kleinen wurden gerade noch einmal von Axel in der Luft herumgeschwenkt und dann liefen sie fort, in sehr gehobener Stimmung, zu neuen Taten aufgelegt. Nun wollte Elfi die Geschichte noch viel genauer hören und ihr wurde das Herz sehr schwer, daß sie nicht dabei gewesen war.

»Für Mädchen ist das nicht,« sagte Robert altklug, aber Bertram meinte: »Am Ende – warum nicht? Manchmal haben Orgeldreher auch eine Frau.«

»Ja, ja,« rief das Schwesterchen und klatschte in die Hände, »ich will die Frau sein –«

»Da mußt du eine große Mütze aufsetzen oder einen Hut.«

»Das kann ich auch, ich weiß schon einen! Musching sitzt in der Küche und schält Äpfel, da braucht sie keinen Hut.«

»Aber sie gibt ihn uns nicht!«

»O, den nehmen wir uns!«

Richtig wurde heimlich der Hut stibitzt und nun in der Kinderstube die Toilette der Drehorgelfrau gemacht.

»Mein Kleid muß ich aber ausziehen,« bestimmte Elfi, »das ist ja gestickt! Ich geh' im Unterrock.«

»Aber ein Tuch mußt du haben – die Decke von deinem Puppenwagen, die paßte dazu!«

»Nun gib mir auch den Hut!«

Den hatte sich Bertram inzwischen aufgesetzt; er stand vor dem Spiegel und meinte ernsthaft: »Ich könnt' ebensogut Frau sein, wenn Elfi nicht wär', der Hut paßt mir auch. Drei sind überhaupt zu viel – was soll ich denn?«

»Ich will aber mit!« schrie Elfchen und hatte die Augen voll Tränen.

Da hatte Robert einen Einfall. »Manchmal sind die Orgeldreher auch blind – ich mach' die Augen zu, Elfi muß mich führen – und Berti verkauft Zettel!«

»Das kannst du ja auch mal tun, ich will auch mal orgeln!«

»Nein, du, Berti; du kannst besser singen!«

Hierauf war Bertram denn doch stolz, und sehr zufrieden mit der jetzigen Rollenverteilung begaben sie sich vors Haus. Aber sie hatten nicht mit Muschbergen gerechnet! Die erblickte vom Küchenfenster aus ihren Hut, ihren schönen schwarzen Hut, und so flink ihre alten Beine sie trugen, war sie draußen.

»Ji Takeltüg!« schalt sie, »wer hett juch minen Haut geben, minen Sünndagshaut? Un, Elfing, wo sühst du ut? So in 'n Liwken und Unnerröckschen wußt du up de Straat?«

Völlig angedonnert standen die Kinder; mit Musching war nicht zu spaßen, und als sie nun kommandierte: »Marsch, t'rügg!« da traten sie einen kläglichen Rückzug an.

»Wat wullt ji denn eigentlich maken in dissen Uptog?«

»Orgeldreher spielen,« sagte Elfi kleinlaut, »ich bin die Frau.«

»I du biwohr,« eiferte Muschbergen, »un min Haut is gaut naug für so 'n Rümdriversch? Nee, dor ward nix ut! Wat süllen de Lüd' woll denken? De nennten mi jo woll upstunns Örgeldreihersch!«

Einen solchen Ausbruch hatten die Kinder nicht erwartet. Das war ja viel schlimmer, als vorhin mit den Eltern; die zankten gar nicht, und Axel hatte sie sogar noch gelobt und geschwenkt! Sie machten untereinander aus, Musching wäre gar nicht mehr nett. Sie wollten sie nie wieder in ihrer kleinen Stube besuchen; dann würde sie schön traurig sein und ein andermal gewiß gern ihren Hut und alles erlauben!

Zum Glück hatte Ursula den Vorgang beobachtet und fühlte großes Mitleid mit der enttäuschten kleinen Gesellschaft. Sie selbst war zwar niemals so unternehmend gewesen; aber an den niedergeschlagenen Mienen erkannte sie, wie tief es gehen mußte. Sie beschloß, sie zu trösten, und schlug ihnen in der Kinderstube das immer beliebte Spiel »Verkleiden« vor, was jubelnd angenommen wurde; sie wurde an diesem Nachmittag noch so erfinderisch, daß sie die Genugtuung hatte, von den Kleinen als die allerbeste, liebste Ursel bezeichnet zu werden.


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