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6. Kapitel.
Franzis Geschichte

Franzi lächelte ernsthaft und meinte: »Es kommt aber gleich 'was Trauriges, denn der Grund, weshalb meine Eltern nach dem schönen Wehrburg kamen, war bereits ein Unglück.

»Mein Vater war Forstmann und hatte sich schon früh mit einem Mädchen aus seiner Heimat verlobt. Um nun nicht gar zu lange mit dem Heiraten warten zu müssen, war er aus dem Staatsdienst getreten – da die Beförderung damals sehr langsam ging und er noch wenig Aussicht aufs Vorrücken hatte. Er bewarb sich um eine Gutsförsterstelle auf einer sehr großen preußischen Besitzung. Als er diese soeben angetreten hatte, geschah ein großes Unglück: auf der ersten Jagd, die er dort mitmachte, traf ihn ein Schuß.«

»O Franzi!« schrie Ursel leise auf.

»Ja, und so unglücklich, so viel schlimmer, als man zuerst glaubte, daß nach langem Leiden und erfolglosen Versuchen zur Heilung das eine Bein – bis zum Knie abgenommen werden mußte.«

»Wie entsetzlich!«

»Nicht wahr? – Mutter hat mir's oft erzählt, wie das gewesen, als sie ihren jungen stattlichen Verlobten zum Krüppel hat werden sehen. Vater hat ihr damals ihr Wort zurückgeben und nicht annehmen wollen, daß sie ihn heiratete, aber meinst du, daß sie darauf hörte?«

»Natürlich nicht!« erwiderte Ursel voll Überzeugung.

»Nein, natürlich nicht! Sie hat ebensogut das Leid mit ihm tragen wollen, als das Glück. Nur – wie sie ihr Leben jetzt einrichten sollten, das war die große schwere Frage. Forstmann konnte Vater nicht mehr bleiben – aus dem Staatsdienst aber war er heraus! Da haben sie sonst für solche Fälle allerlei Ämter, die mit Invaliden besetzt werden, aber Vater soll sich unbeschreiblich vor einem solchen Posten gefürchtet haben. In der Stadt! Mit nichts als Schreibarbeit!«

»Das kann ich mir denken,« sagte Ursel, »aber Franzi – der, der das ganze Unheil angerichtet hatte –«

»Das war Graf Wehrburg!« sagte Franzi wehmütig. »Der weilte zum Besuch auf jenem Gut, wo mein Vater erst seit einer Woche angestellt war.«

»Nun, der mußte doch – der konnte ja –«

»Ja, nun kommt das von dem Grafen, wart nur! Ach, der arme gute Graf hatte sich die Sache so zu Herzen genommen, daß er krank und schwermütig wurde und man eine Zeitlang sehr für ihn fürchtete. Aber dann, als er sich wieder erholt hatte, kam er mit einem großen fertigen Plan.

»Mein Vater sollte nach Wehrburg kommen, dort die Oberaufsicht über die Gärtnereien übernehmen, wie über den weiten ausgedehnten Park, dann etwas Korrespondenz führen für den Grafen, überhaupt eine Art Vertrauensstellung einnehmen; denn die Zeugnisse meines Vaters waren die besten, die man verlangen konnte, und der Graf hatte in den Tagen seines Besuches so viel Gefallen an dem jungen tüchtigen Jäger gefunden, daß ihm das Unglück umso tiefer zu Herzen ging.«

»Oh,« unterbrach Ursel, »dann war ja nun alles gut!«

»Gut wohl nicht gleich; es ist meinem Vater doch sehr schwer geworden, statt des schönen vielseitigen Berufs eines Forstmannes, nun – sozusagen zur Gärtnerei überzugehen. Einen Park statt eines Waldreviers, Blumen- und Gemüsezucht statt Forstkulturen, und nie mehr die fröhlichen Herbstjagden!

»Aber er hat sich doch mutig drein ergeben, sich getröstet, daß er nicht in die Stadt, in den Bureaudienst zu gehen brauchte. Und besonders hat er sich gesagt, daß der arme gute Graf nie wieder ruhig und getröstet würde, wenn nicht ihm selbst vergönnt wurde, das zerstörte Leben meines Vaters so gut wie möglich wieder aufzubauen. So hat er denn das Anerbieten angenommen und es niemals bereut, wie er später meiner lieben Mutter und mir oft genug gesagt hat.

»Vater hat dann gleich heiraten können, und Mutter ist sehr glücklich mit ihm in das kleine Haus gezogen. Aber gekränkelt hat Vater doch, und sehr bald haben sie eingesehen, daß keine Tätigkeit, kein Platz auf der Welt jetzt noch für Vater besser gepaßt hätte, als diese von dem lieben Grafen eigens für ihn eingerichtete Stellung.

»Zuerst ist dann in dem kleinen Hause mein Bruder Wilhelm geboren worden –«

»Von einem Bruder hast du noch nie gesprochen!«

»Wirklich nicht? Ja, siehst du, wir haben auch noch nie so viel Zeit gehabt wie heute.«

»Ach, und die Sonne steht schon so tief, ich muß gewiß bald fort; erzähl nur geschwind weiter.«

»Ja, also zuerst kam Wilhelm, dann ich. Und ziemlich zu gleicher Zeit kam auch im Schloß ein Mädchen an.«

»Und da spieltet ihr immer zusammen!«

»Ja, der Graf wünschte es so; er konnte nie genug tun, um meinem Vater zu zeigen, wie viel er auf ihn hielt und wie gern er ihm etwas zu gute tat, anders als mit Geld, weißt du. Ich bekam also auch meinen Unterricht im Schloß, während Wilhelm vom Vater unterrichtet wurde.«

»Und Komtesse Leontine? Hattest du sie sehr gern?«

Franzi sah nachdenklich auf und ließ ihre mühsame Arbeit, an der sie immer wieder zu sticheln versuchte, aber ohne Erfolg, nun sinken. »Wir waren so sehr aneinander gewöhnt, ich kann mir die ganze Wehrburger Kinderzeit ja nicht anders denken, als mit Leontine. Aber –«

»Nun – aber?« forschte Ursel begierig.

»Aber sie war nicht immer nett. Ich soll es eigentlich nicht sagen –«

»Warum nicht? Weil du ihrem Vater so dankbar bist? Deshalb braucht die kleine Gräfin doch nicht die Allerbeste zu sein.«

»Die Allerbeste – hm, Ursel, sie war nämlich die Einzige. Wehrburg liegt einsam, wir kamen nicht oft mit anderen Menschen zusammen, und die anderen Beamten hatten nur Knaben. Aber ich will dir sagen – Leontinchen war kein sehr begabtes Kind, sie lernte schwer und war oft schrecklich unglücklich bei den Büchern. Ich mußte viel mit ihr lernen, mußte auch meistens tun, was sie wollte –«

»Das ist gerade nicht angenehm!«

»Nein, aber es schadete mir wohl nicht: ich war im Grunde sehr unbändig, sagt Mutter, da war's wohl gut, daß ich mich im Schloß zusammennehmen und unterordnen mußte. Und Fräulein Elsner sagte später öfter, sie wüßte nicht, wie sie mit Leontine allein hätte fertig werden sollen.«

»Fräulein Elsner – war die nett?«

»Oh, reizend. Und sie spielte Klavier, Ursel – du glaubst nicht, wie schön!«

»Von der hast du das also gelernt?«

»Ja, und sie sagte immer, sie spielte so gern auf unserem alten gelben Spinett mit den dünnen Beinen und den noch dünneren Tönen, weil meine Eltern es so gern mochten und ich immer so selig war! Im Schloß spielte sie auf einem schönen Flügel, und wenn manchmal Gesellschaft war, wurde dann sehr geklatscht!«

»Du hast noch nichts von der Gräfin gesagt.«

»Ja – auf die kann ich mich kaum mehr besinnen. Sie starb, als wir noch sehr klein waren. Es war nachher eine alte Tante im Schloß. Aber die Hauptperson für uns Kinder war immer Fräulein Elsner.«

»Ist sie noch in Wehrburg?«

»Ach nein, nein, niemand ist mehr da! Es brach der Typhus im Dorfe aus, – daran erkrankte der Graf und starb, – mein Vater, der noch um ihn gewesen war – zwei Tage nach ihm!«

Franzi bedeckte das Gesicht mit den Händen, Ursel glitt von der Fensterbank herab und umarmte die Freundin.

»Arme Franzi, süße Franzi! Wie traurig, wie furchtbar schwer!«

Franzi sah mit tränenvollen Augen auf und schmiegte sich an die sie zärtlich haltende Ursula. »Ja, siehst du, Ursel, du meintest neulich, du erlebtest nichts, es sei alles so einförmig. Mit mir und meinen Erlebnissen möchtest du wohl nicht tauschen?«

»Nein!« sagte Ursula erschüttert.

»Denn,« fuhr Franzi fort, »nun kamen ja erst all die Folgen! Da Graf Wehrburg keinen Sohn hatte, fiel das Gut, das Majorat ist, an eine Seitenlinie. Leontinchen wurde von Verwandten in Berlin aufgenommen, – ins Schloß aber zog der neue Herr.«

Sie machte eine Pause, und Ursel fragte: »Nun, und der?«

»Der – ja, der war viel anders, als unser guter Graf. Mutter sagt zwar immer wieder, wenn ich auf ihn böse bin, wir dürften nicht ungerecht sein. Es sei nicht zu verlangen, daß der fremde Herr Interesse für uns hätte. Und der gute Graf hätte so viel mehr für uns getan, als wir erwarten durften, und daß wir ja nicht denken dürften, ein anderer übernehme uns mit als Erbschaft.

»Also kurz und gut, der neue Graf erklärte, einen so kostspieligen Sekretär oder was mein Vater gewesen, würde er sich nie gestattet haben, und die fernere Erhaltung der Witwe und der Kinder könnte er nicht übernehmen. Das einzige, was er tun wolle, wäre, daß er uns das Haus ließe und mir einen Platz in der gräflichen Küche als Wirtschaftslehrling gäbe.

»Von einer weiteren Ausbildung, wie Mutter und Fräulein Elsner immer für mich geplant hatten, könnte keine Rede sein, und einen Sohn auf dem Gymnasium oder später gar auf der Universität würde er auch nicht erhalten. Wilhelm könnte ja in die große Gärtnerei eintreten und ich in die Wirtschaft – dann wäre hinreichend für uns gesorgt.

»Ach, Ursel, er war gewiß im Recht, Mutter hat es immer wieder gesagt, wir hatten gar nichts zu verlangen. Nur – wenn der liebe gute Graf nicht so plötzlich gestorben wäre, wenn er irgend etwas schriftlich bestimmt hätte, wäre es doch ganz anders für uns geworden.«

»Ja, ja, das versteh' ich. O, ihr Armen!«

»Ja, Ursel, nun waren wir wirklich arm! Und weißt du, Ursel, mitten in all dem Kummer fingen Mutter und ich an, uns zu trösten, daß der geliebte Vater dies nicht mehr erlebte, daß Gott ihn zu sich nahm, ehe er wußte, daß sein bester Freund und Schützer auf Erden ihn verlassen hatte.

»Und wie Mutter sich das recht klar legte – da wurde sie ruhig und fest. Und da hat sie sich alle Mühe gegeben, etwas zu finden, womit sie verdienen könnte, denn die freie Wohnung annehmen vom jungen Grafen und dafür unsere Zukunft opfern – das wollte sie nicht.

»Und nun siehst du, was nach ihren Bemühungen gekommen ist. Sie hat hier die Stellung einer Haushälterin angenommen. Vater hat früher manchmal mit dem Obergärtner Bauer geschäftlich zu tun gehabt; daher empfand dieser noch ein Interesse für uns und nahm Mutter sehr gern, obwohl sie die Bedingung machte, mich mitzubringen und hier zu behalten, bis ich so weit wäre – so – oder so – selbst verdienen zu können. Er hat dafür verlangt, daß ich mich auch im Hause nützlich mache, und dazu habe ich mich gern verpflichtet; sind wir doch sehr froh, Mütterchen und ich, daß wir einstweilen zusammen bleiben können.

»Zu tun gibt's hier viel –, denke dir den großen Mittagstisch, für all die Gehilfen und Lehrlinge muß Mutter kochen. Dann hat der Obergärtner drei Kinder, deren Zeug wir in Ordnung halten und für die überhaupt gesorgt werden muß. Mit den Kleinen arbeite ich manchmal, und dann – na, du weißt ja, dann bin ich Verkäuferin. Und dies Amt hat mir das Beste und Schönste eingebracht, was ich seit dem letzten traurigen Jahr erlebt habe.«

Still saßen sie nun Hand in Hand, die beiden schwarzbraunen Köpfe aneinander gelehnt.

Purpurrot erstrahlte der Abendhimmel und warf sein Licht in das kleine Kammerfenster, bis dann schnell die Dämmerung sank und Ursel aufschrak. Ihr junges Herz war so voll von all dem Gehörten, daß sie kein Wort mehr sprechen konnte.

Das waren ja wirklich Schicksale, die da eben vor ihr ausgerollt wurden! Und die das alles erlebte und so schlicht und verständig erzählte, war nur ein Jahr älter als sie. Mit einem Male schien sie vor Ursels Augen zu wachsen, und ihr altes, zaghaftes Gefühl, »was bin ich, wer mag mich leiden, wem kann ich etwas sein?« wollte sie wieder beschleichen; da dachte sie an Franzis letztes Wort, »das Beste, was ich seit diesem traurigen Jahr erlebt habe« –, und sie glaubte wieder daran, was sie diese letzten Tage mit so stillem Glück erfüllt hatte: daß sie Franzi lieb sei, daß sie eine Freundin gefunden habe.

Für heute hieß es nun wieder scheiden. Ursel sah Franzi so innig an, daß diese fühlte, welch ein treues Herz heute an ihrem Erleben teilgenommen, wenn der Mund auch nichts mehr sagen konnte.

Einen Teil der Spargel nahm Ursel mit, die übrigen sollte ein Gärtnerbursche bringen, so wollte es Herr Bauer. Er ließ es nicht zu, daß die Herrschaft sich zweimal bemühte, wie Ursel gern wollte.

Aber diese fand doch bald wieder einen Grund, den nun schon so vertrauten Weg durch den Schloßgarten zu nehmen, denn nun kamen die Erdbeeren – die Erbsen – es waren auch wohl Blumen zu bestellen – es kam Johannis heran, und noch wußte niemand bei Dahlands von Ursulas Freundschaft, die sie so ganz erfüllte.


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