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3. Kapitel.
Die verhängnisvollen Spargel

Ursula setzte ihren Schulhut wieder auf und nahm das Körbchen. Sie dachte nicht daran, sich für den Gang durch den Schloßgarten, der um diese Zeit gewöhnlich voll von eleganten Menschen war, irgendwie »fein« zu machen, wie das bei ihren Schulkameradinnen sehr Sitte war. Gleichmütig ging sie dahin in ihrem dunkelblauen Kattunkleid, das aber heute am Sonnabend eigentlich noch ebenso sauber und nett aussah, wie am ersten Tage der Woche.

Ohne es zu wissen oder sich große Mühe zu geben, hielt Ursula auf ihre Kleidung; so ordentlich wie ihre Kommode war auch ihr Anzug. Aber immer sah sie sehr anspruchslos aus und ihre Haltung war fast zu bescheiden, mit dem meist etwas gesenkten Kopf.

Heute aber hob sie ihn wirklich; die Luft war gar zu wonnig, und der Weg, den sie nehmen mußte, zu wunderhübsch.

Links vom Fürstenplatz lagen noch die alten gelben Torhäuschen, zwischen denen hindurch man in früherer Zeit mit der Post in die Welt gefahren war, ehe die Eisenbahn kam.

Früher war hier die Stadt zu Ende, nur die alte Kaserne mit den viereckigen, beinah mittelalterlich drohenden Türmen lag noch da, aber jetzt erhoben sich an der sanft ansteigenden Straße überall reizende Villen, die zwischen der Hauptstadt und dem nächsten Dorfe vermittelnd eine hübsche Kolonie, das Westeck, bildeten, sich um einen kleinen See gruppierten und bis in das tiefe Waldgrün des Schloßgartens sich drängten.

Ursula schlug den ersten kleinen Weg abseits von den Villen ein, an den Wiesen vorbei, und hatte in zwei Minuten die herrliche Allee erreicht, welche von hier bis an die Stadt führte. Aber dahin wollte sie nicht, sie durfte ja heute quer durch dies köstliche Parkgebiet wandern! Bis zur Schloßgärtnerei war kein kurzer Weg, sie wollte ihn gründlich genießen.

Alles prangte im frischen Grün der ersten Junitage, die mächtigen Kastanien hatten eben ihre Blütenkerzen angesteckt, Birken mit den lichten Hängezweigen schimmerten dazwischen. Auf dem klaren Wasser der Kanäle, die den Park durchschnitten, lagen schon die dunkelglänzenden, großen Blätter der Wasserrosen, die späterhin wie goldene Sterne unter dem Schatten der tief herabgehenden Baumzweige glänzten. An den kleinen Brücken mit dem zierlichen Eisengitter ging Ursula vorüber, immer ihren geraden Weg verfolgend, aber sie sah alles und horchte auf die Vögel, deren vielstimmiger Chor ihr schöner dünkte als die Konzerte, die es hier manchmal gab, dort drüben bei dem alten weißen Pavillon mit dem gemütlichen, spitzen Dach, mit den zahllosen Stühlen und Tischen im Baumschatten, wo man sitzen und Eis essen konnte.

Ursula lächelte, als sie dahin sah, sie hatte es einmal mitgemacht, aber kein sonderliches Vergnügen davon gehabt. Das viele Sprechen und Lachen um sie her störte die Musik, die klang von fern an einem stillen Platz viel schöner, und – ja, die Vögel hörte sie noch lieber!

Sie sah aber doch hinüber nach dem Pavillon, denn dort lagen auch die Tennisplätze. Sie sah die hellen Gestalten im raschen Lauf sich biegen und schmiegen – die dort mit den weißen Schuhen war jedenfalls ihre Schwester Inge, hier so gut Königin wie überall.

Noch hörte Ursula das eintönige Rufen und Zählen der Tennisspieler, als schon wieder andere Laute an ihr Ohr drangen. Das war helles Kinderjauchzen von dem großen Spielplatz her, wo die Schaukeln sich befanden und die großen Sandberge, das Entzücken von klein Elfchen und Robert und Bertram, die dort heute unter treuer Obhut spielten.

Ursel sah den großen schwarzen Strohhut und die eifrig strickenden Hände der alten Muschbergen, aber sie ging auch hier unbemerkt vorüber.

Nun kam aber der Platz, an dem sie immer still stand und sich unbewußt mit der schönen Hauptstadt aussöhnte, für die sie ihr liebes Steinberg lange nicht hatte hingeben wollen. Es war aber auch zu schön, das Bild!

Die mächtigen Baumgruppen mit den verwitterten Sandsteinfiguren dazwischen, traten hier auseinander und ließen den Blick frei auf das Fürstenschloß, diesen wundervoll phantastischen Bau, mit der vergoldeten Kuppel, den Steinfiguren und hellen Balustraden, den Türmen und Türmchen, deren grüne Kupferbedachung im Glanze des goldenen Sonnenlichtes hell leuchtete. Da lag es, fast umspült von den Fluten des blauen Sees, traumhaft wie ein Märchenschloß.

Ursula hatte Zeit und sie beeilte sich nicht weiterzukommen. Sie nahm das schöne Bild in jeder Einzelheit in sich auf und wünschte, es zeichnen zu können. Aber sie hatte kein Talent! Inge konnte es, aber die meinte lachend: »Photographieren ist bequemer.«

Sie und Axel besaßen zusammen einen Apparat und hatten es sehr wichtig mit ihrer Dunkelkammer, für die sich merkwürdigerweise doch ein übriges Eckchen in dem neuen Hause gefunden hatte. Sie knipsten immer umschichtig, wenn sie unterwegs waren, und es gab schon Bilder mit Inge als Tennisspielerin und Axel als Seemann, an das Segel eines Boots gelehnt; und es gab die kleine Schwester als richtiges »Elfchen« zwischen Blumen auf der Wiese, und die Zwillinge als schelmische Vagabunden, denen man es ansah, daß sie eben etwas verübt hatten.

Aber es gab auch ein Bild von einem mageren Backfischlein, das saß mit einem Buch in der Gartenecke und wußte nicht, daß man die Aufnahme heimlich gemacht hatte. Das blickte so ernsthaft von seinem Buch auf und war gar nicht so übel mit den sinnigen Augen, aber Ursel mußte so viel hören von »schwärmerisch« oder gar »unglücklich«, daß sie flehentlich bat, man möge sie nicht wieder heimlich photographieren. Es geschah auch nicht mehr, es war den Geschwistern wirklich nicht interessant genug.

Hieran dachte Ursel auf ihrem schönen Wege und fühlte sich plötzlich wieder sehr einsam. Sie beschleunigte jetzt ihre Schritte; es kamen immer mehr Spaziergänger auf allen Wegen daher, da durfte sie nicht so stehen und schlendern, das schickte sich nicht.

Jetzt hörte sie auch schon das Wehr rauschen an der alten kleinen Weidenmühle und dann kam die Schloßgärtnerei in Sicht. Das war nun wieder eine recht trauliche Ansiedlung! Rechts vom breiten Fahrweg lag das altmodische herrschaftliche Wohnhaus des Hofgartendirektors, da hatte Ursel nichts zu tun; aber links, etwas zurück, die kleinen Häuschen mit den grünen Fensterläden, mit all dem blühenden Gebüsch umher, mit den grünen Bänken im Lindenschatten, die hatten sie schon immer angeheimelt, und sie freute sich, daß sie dort einmal hineingehen durfte.

Aus einem Zimmer, dessen kleinscheibige Fensterflügel offen standen, tönte Klavierspiel, und zwar sehr gutes, wie Ursula mit Überraschung feststellte. Es war zwar ein sehr altes Instrument mit dünnen, klapperigen Tönen, aber die Spielerin oder wer es war, konnte etwas.

In diesem Augenblick trat der Obergärtner Bauer aus einem der Nebenhäuschen und fragte nach den Wünschen des jungen Mädchens. Sie bestellte die Spargel, und er meinte bedenklich: »Drei Pfund? Wenn ich die nur noch habe. Es sind sehr viele aufs Schloß zu liefern. Für wen ist es?«

»Für Landgerichtsrat Dahland.«

»Ah so! Nun, ich will sehen, wenn Fräulein sich ein wenig gedulden wollen – jedenfalls müssen die Spargel erst gestochen werden.«

Er trat in das Haupthaus der kleinen Kolonie, und sogleich brach das Klavierspiel ab, mitten im Takt.

Einen Augenblick später erschien in der niedrigen, grünen Haustür ein junges Mädchen.

Sie trug ein sehr einfaches schwarzes Kleid, das etwas zu kurz geworden war, und band eilig eine große blaue Schürze darüber, die ihr nicht zu gehören schien. In der Hand hielt sie Messer und Korb.

»Ich will die Spargel stechen,« sagte sie, Ursula freundlich grüßend, »wollen Sie ein wenig hier verweilen – sich vielleicht dort unter die Linde setzen?«

Damit ging sie eilig den Gartensteig entlang, und bald sah Ursel sie zwischen den Beeten beständig hin und her huschen. Wie flink sie war, und wie kräftig in jeder Bewegung! So groß wie Ursel, aber frischer, und das Gesicht leicht gebräunt. Aber – schwarzes Haar hatte sie auch und dunkle Augen. Wirklich! Sonst war alles, was Ursel bewunderte, blond und hell und blauäugig, natürlich ganz das Gegenteil von Ursel selbst! Aber diese – war ja gerade so eine Schwarzbraune wie sie selbst, und doch so reizend!

Ja, wirklich, trotz des alten, ausgewachsenen Kleides und der groben Schürze, sie war reizend. Denn jetzt sah sie auf, grüßte einmal schnell mit den freundlichen dunklen Augen und rief irgend etwas.

Ursel war schon von ihrer Bank aufgesprungen und den Gartensteig entlang gelaufen. »Soll ich helfen?« fragte sie mit schüchternem Eifer.

»Das meinte ich freilich nicht,« entgegnete die andere, »ich rief nur, Sie möchten sich die Zeit nicht lang werden lassen. Mit den Spargeln hat's keine Not.«

»Aber ich helfe gern,« sagte Ursel und bückte sich.

»Wenn Sie wollen –«

»Ich habe es noch nie getan, es muß aber recht nett sein – da, da ist einer!«

»Aber der hat einen blauen Kopf, den gebe ich Ihnen nicht, da Sie nur sehr gute Spargel haben sollen. Das ist ein Suppenspargel für uns.«

»Aber hier – oh, ein richtiges Nest, drei, vier, fünf –«

»Ja, die sind schön. Wollen Sie selbst stechen? Soll ich noch ein Messer holen?«

»Nein, ich will sie nur aufsuchen und von der Erde freimachen – da, – ach, das ist keiner; es sah gerade so aus.«

»Ja, das täuscht oft; von den Jasminbüschen kommen die weißen Blättchen herüber geweht, aber ich kenne das nun schon. Da haben Sie aber einen prachtvollen stehen lassen!«

»Wo? Ach schade!«

Ursel richtete sich auf, denn der Rücken begann wehzutun, aber ihre Wangen waren jetzt fast ebenso rot wie die des kleinen Gartenfräuleins.

»Sie machen sich zu müde,« sagte diese jetzt, »wir haben auch gleich genug, nur diese Reihe noch entlang, dann reicht's. Ich kenne meine Beete schon und weiß, wie viel sie ungefähr hergeben.«

»Stechen Sie alle?« fragte Ursel verwundert.

»Diese sieben Beete, ja, die sind mir überwiesen. Drüben im großen Garten sind natürlich noch viel, viel mehr, die besorgen die Gärtnerburschen. So, jetzt will ich die Spargel wiegen. O, haben Sie ein hübsches Körbchen, ist es nicht zu schade? Ich gebe Ihnen ein sauberes Papier hinein.«

So plaudernd trat sie in eines der Gewächshäuser, wo im Vorraum ein Tisch mit einer Wage, Papier, Draht, Bindfaden, Bast, Blumentöpfe und Körbe zu finden waren.

Magnetisch angezogen trat Ursula mit ein und sah zu, wie das junge Mädchen schnell und geschickt die Spargel wog und einpackte, sich freuend, daß sie fast auf ein Haar das bestellte Gewicht getroffen hatte.

Ursel empfand es förmlich schmerzlich, daß sie nun gehen sollte, denn das mußte sie doch. Unter welchem Vorwand wollte sie sich hier wohl noch aufhalten?

Plötzlich aber, ganz ohne Besinnen, fragte sie: »Haben Sie vorhin Klavier gespielt?«

»Ja.«

»Sie können es gut.«

»Ach nein, aber ich möchte es! Ich darf nicht so viel üben, der Obergärtner sieht es nicht gern.«

»Der Obergärtner?« fragte Ursel zögernd, »sind Sie nicht die Tochter aus der Gärtnerei?«

»Ach nein! Ich bin erst seit einigen Wochen hier und bin eigentlich noch recht heimwehkrank!«

»Sie auch?« rief Ursel unwillkürlich, während sie in dem eben noch so heiteren Gesicht ihr gegenüber zwei große Tränen glänzen sah.

Aber das frische Mädchen bezwang sich und wiederholte nur: »Auch? Sind Sie denn nicht hier daheim? Vielleicht in einer von den Pensionen, die ich hier oft vorbeiziehen sehe?«

»Nein, ich bin bei meinen Eltern,« gestand Ursel, »aber ich sage noch immer ›zu Hause‹, wenn ich von dem Ort spreche, wo wir früher wohnten.«

Die andere nickte. »Ja, so geht's!«

Recht ernsthaft standen sie beide in dem kleinen Gewächshaus, bis Ursel endlich sagte: »Nun muß ich wohl gehen – leider – aber ich möchte noch fragen: Welche Schule besuchen Sie hier?«

»Keine! Leider keine mehr!«

»O dann,« sagte Ursel bedauernd und unbeholfen, »dann kann ich ja nicht hoffen, daß wir uns da wiedersehen könnten.«

»Nein, da nicht! Mit der Schule ist's nichts mehr, aber –« das reizende Gesicht lächelte schon wieder schelmisch – »vielleicht braucht Ihre Mama bald einmal wieder Spargel. Das wäre nett. Und die besten gibt es ja doch hier.«

»Ja,« rief Ursel, nun auch fröhlich, »darauf wollen wir hoffen!« und schnell hielt sie ihrer neuen Bekannten die Hand hin.

Diese reinigte geschwind die erdigen Finger an der blauen Schürze und schlug herzhaft ein. »Auf Wiedersehen!« sagte Ursel noch in einem eigentümlich herzlichen Ton und dann lief sie plötzlich wie gejagt davon. Bei der Mühle drehte sie sich um, ob sie die junge Gärtnerin noch sehen könnte, aber diese war schon ins Haus gegangen.

Jetzt verlangsamte sie ihren Schritt und an dem kleinen Weiher im Schloßgarten blieb sie gedankenvoll stehen. Sie hatte etwas erlebt! Auf eigene Hand eine Bekanntschaft gemacht! Und was für eine! Gab es irgendwo ein nur annähernd so reizendes und liebes Mädchen wie diese kleine Gärtnerin?

Ja – war sie denn eine?

Des Obergärtners Tochter nicht, auch keine Verwandte, wie es schien. Was tat sie also hier? Sie stach Spargel und ihre Hände sahen so aus, als ob sie wohl noch viel mehr tat –, aber diese Hände spielten auch so gut Klavier, und als sie davon sprach, leuchteten ihre Augen. Diese süßen, schwarzen Augen! Und ihre Stimme klang so hübsch, und ihre Aussprache, ihre Bewegungen, alles an ihr war viel feiner als ihr Kleid. Wer mochte sie sein?

Ursel sann und sann und ging sehr langsam durch den Schloßgarten, ohne auf irgend jemand von den Vorübergehenden zu achten.

Plötzlich schrak sie zusammen, denn eine etwas strenge Stimme sagte: »Man muß hübsch grüßen, Ursula!« und vor ihr stand die Schulvorsteherin.

Ursula wurde rot und fing an zu stottern, als Fräulein Röder schon freundlicher fragte: »Wo warst du denn mit deinen Gedanken, Kind?«

»Ich – ich habe Spargel geholt, entschuldigen Sie, Mama wünschte es.«

»Ich sehe es, Urselchen, und zu entschuldigen brauchst du dich nicht. Daß du nicht auf unerlaubten Wegen gehst, davon bin ich überzeugt. Aber nicht zu weit wegträumen! Adieu, Kleine.«

Damit nickte sie freundlich und ging weiter.

Ursula war etwas beschämt, aber doch auch wieder gehoben durch das letzte freundliche Wort der Lehrerin. Aus ihren Träumereien aber war sie nun richtig herausgerissen, und schneller ging sie das letzte Stück Wegs nach Hause.

Mama war noch nicht da, aber als sie später die Spargel fand, sagte sie sehr befriedigt: »So ausgezeichnete hatten wir noch nicht. Wieviel kosten sie?«

»Wieviel sie kosten –?« stotterte Ursula, »das – weiß ich nicht.«

»Aber Herzchen, ich gab dir doch Geld!«

Richtig; Ursula zog ihr Portemonnaie, da steckte der Taler noch.

»Schulden gemacht? – Kind, Kind, hat man denn gefragt, für wen du bestelltest?«

»Ja, das habe ich gesagt.«

»Nun, dann hilft es nicht, dann muß Line das Geld hinbringen; das wird ihr heute schlecht passen nach dem Plätten.«

»O nein, Mama,« rief Ursel glühend vor Eifer, »das tu' ich natürlich! Bitte laß mich gleich gehen.«

»Wo denkst du hin, Kind, es wird ja bereits dunkel, da kann ich dich nicht den etwas abgelegenen Weg gehen lassen.«

»Aber morgen, Mama, bitte, laß mich morgen gehen, es ist ja Sonntag! Bitte, gleich nach dem Kirchgang!«

»Nun ja, da der Gärtner weiß, für wen die Spargeln bestimmt waren, mag es so lange anstehen: aber laß Papa nicht hören, daß du auf seinen Namen Schulden gemacht hast!« schloß Mama scherzend, und als sie Ursulas warm belebtes Gesicht sah, fügte sie noch hinzu: »Ich bin weiter nicht böse, Herzchen, ich sehe, der Gang hat dir gut getan.«

»Ach ja,« sagte Ursula mit Nachdruck, aber von dem, was sie erlebt hatte, verriet sie nichts!


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