Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Erlebt zwischen Hollywood und San Francisco

Diesen Brief, den ich Dir schreibe, Inez, niemals wirst Du ihn bekommen. Denn was darin steht, weißt Du so gut wie ich, haben wir es doch gemeinsam erlebt, und das Geheimnis, das ich vor Dir habe, darfst Du nicht erfahren, es hätte gärende Kraft, und Du würdest unsere Woche bedauern.

Du hast mich in diese Stadt geführt, durch diese Stadt geführt, aus dieser Stadt und wieder in diese Stadt, die Du liebst. Ich muß über sie aussagen, denn dazu bin ich geboren und bestellt, und Du hast es verlangt; hier oben im Lincoln Park auf dem grasigen Hang, als Du auf den flüssigen Kobalt starrtest und auf die goldenen Ufer, hast Du plötzlich meinen Arm ergriffen. »Du wirst günstig schreiben über San Francisco, nicht wahr?!«

Das hast Du nicht um San Franciscos willen gesagt, es war Dir klar, selbst im Augenblick der Rührung, daß diese Stadt meines Lobes nicht bedarf, daß sie besungen wurde von Besseren . . . Es gibt Bessere, Du weißt es, Inez, und das war das Schlimme für Dich und das Gute für mich, und das Gute für uns beide, und doch das Schlimme für Dich, aber das ist eine Anspielung, die Du nicht verstehst, und wir wollen nicht davon reden.

Wieder sitze ich auf dem grasigen Hang, Papier und Füllfeder in der Hand, unten ist flüssiger Kobalt, drüben goldene Ufer und hinter mir die Stadt, die Du liebst und über die ich jetzt günstig schreiben werde, nicht wahr?!

Dir danke ich sie, diese Stadt. Eigentlich hatte ich die Absicht, nach Chicago zu gehen. Am Mittwochabend sprachen wir Dich in Los Angeles an, Ecke Spring Street und Fifth, mein Freund und ich, Du gingst verächtlich weiter, Deinen Schritt beschleunigend, wolltest über den Straßendamm, aber der Polizist bedeutete Dir: Stop! »Sehen Sie!« sagten wir, da lachtest Du und gingst mit uns essen, ins spanische Restaurant.

Am nächsten Tag trafen wir uns – nur Du und ich, denn mein Freund hatte keine Zeit, hatte gemerkt, daß Du Dich mehr für mich interessiertest – in der Konditorei, und Du sagtest dort: »So. Und jetzt fahre ich nach Oakland.« – »Und ich«, warf ich ein, ohne Ahnung, wo Oakland liegt, »ich begleite Sie.«

So sind wir denn in Deinem kleinen Auto einen Abend und eine Nacht und einen halben Vormittag lang nordwärts gefahren, immer am Ufer des Pazifischen Ozeans, halb Kalifornien entlang, die Straße der Konquistadoren, die Straße der Missionare, die Straße der mexikanischen Soldaten, die Straße der Goldgräber. Es schien der Mond, und Du machtest fünfundvierzig Meilen die Stunde, manchmal auch weniger, und einmal stopptest Du sogar ganz, Inez.

Und dabei ließen diese fünfzehn Stunden noch Zeit zum Gespräch. Die Hazienda Deines Vaters in Südkalifornien wäre soweit ganz schön, hättest Du nicht die Sehnsucht nach der Stadt, in der Du geboren. Zum Glück ist die Schwester in Oakland verheiratet, man kann alle drei oder vier Monate den Karren anspannen und sie besuchen. In Los Angeles macht man Rast für einen oder zwei Tage, um das Alleinsein in einer Stadt zu atmen, und Oakland, oh, Oakland ist zwar der häßlichste Winkel des Erdballs, aber zugleich etwas Wunderwunderschönes: eine Vorstadt von San Francisco. »San Francisco wird dir gefallen, ich werde dir die Stadt zeigen.«

Du bliebst in Oakland, und mich brachte die Fähre über die goldene Bucht zu den Wolkenkratzern inmitten grüner Hügel, zu den pittoresken Kähnen italienischer Fischer. Ich stieg aus im Ferry Building, vor dem ich dann allmorgendlich auf Dich wartete, die Jugend traf sich dort zum »hiking«, zum Wandern in den kalifornischen Bergen jenseits der Bucht; die Mädchen hatten Breeches an, wie Du im Auto, Inez.

Schön ist die Stadt, die Du mir zu loben befahlst; in die breiten, ebenen Längsstraßen ergießt sich alle fünfzig Schritte lang von rechts und links je eine steile Seitengasse. Durch diese städtischen Bergpfade schaukelt eine Kabelbahn auf und nieder, die Berg-und-Tal-Bahn des Lunaparks ist ein Nudelbrett dagegen. So auf und nieder geht die Stadt, als buckelte unter ihrem Pflaster noch immer das Erdbeben.

Der erste Abend in Market Street. Die Menschenmenge. Der Zahnarzt, der öffentlich ordiniert. Der Augenarzt, der das gleiche tut. Die funkelnden, glitzernden Lichter. Die Juwelengeschäfte. Die Modenhäuser. Die Schuhläden. Die Bars. Die Blumenhändler an allen Ecken. Die Frauen. Die Theater. Die Varietés. Wir waren im Kino, was Deine Leidenschaft ist, Deine große Leidenschaft. Du weintest vor Lachen über Chaplin im »Pilgrim« und lachtest vor Weinen über Dolores del Rio im »Zug der Goldgräber«. Nachher hast Du mir die Stelle gezeigt, Ecke Stewart Street, wo Du als Kind standest, Juli 1916. Da flog gegen die imperialistische Demonstration, die dartun sollte, daß ganz Amerika einmütig für den Eintritt in den Weltkrieg sei, eine Bombe.

Hand in Hand durchwanderten wir die Chinesenstadt, nicht nur Grant Avenue. Da hat man den Chinesen, als die 1906 zerstörte Stadt wiederaufgebaut war, von den neuen breiten Straßen eine der schönsten überlassen. Der »verdammte Chink«, der nicht auf legalem Weg in die Staaten kommen darf und dem man die Erwerbung des Bürgerrechts verwehrt, ist längst eine Attraktion der Stadt und eine Einnahmequelle für San Francisco geworden, man macht jetzt mit »John Chinaman« Fremdenverkehrsreklame; das hat er sich nicht träumen lassen, als er sich aus dem nahen Westen (der für die übrige Welt der Ferne Osten ist) ans nächste Ufer schmuggelte!

Die Straßen mit den Pagodentürmen. In den Schaufenstern lagen elfenbeinerne Rückenkratzer, Teeschalen mit Untertassen als Deckel, Schnupftabaksflaschen aus innen bemaltem Glas, braune Fidibusse für Wasserpfeifen, Vasen, Fächer und Gongs, der Götze der Wohlhabenheit, Eßstäbchen, porzellanene Speisenträger mit Ösen für den Bambusstab, Siegelringe und Seifenstein und Fische und Walnüsse und Konfekt und Zuckerrohr. Die Besitzer der Läden saßen unter einer holzgeschnitzten, vergoldeten Girlande, eine Rechenmaschine vor sich.

Dann ist es späte Nacht geworden und noch spätere. Als ich von mir erzählte und aus dem Schrank mein Matrosenzeugnis holte, da stampftest Du auf vor Freude. »Oh, das liebe ich.« Darüber habe wieder ich mich gefreut, denn wir Männer glauben, wenn wir einer Frau gefallen, sie habe besonderen Instinkt. Aber mir fiel das Geheimnis ein – das Geheimnis, das mir auf der Seele brennt und das ich Dir nicht sagen kann, Inez.

Sonntag durchquerten wir Sutter Street, und Du sprachst von einem Antiquar, einem Veteranen der kalifornischen Literatur und des Sozialismus, erinnerst Du Dich? Oben im Lincoln Park setzten wir uns auf den grasigen Hang über dem flüssigen Kobalt und angesichts der goldenen Ufer, hierher, wo ich jetzt sitze und Dir schreibe, und wo Du meinen Arm ergriffen hast.

»Du wirst günstig schreiben über San Francisco, nicht wahr?«

Du kamst am Montag im Auto von Oakland herüber, ich wartete wieder vor dem Ferry Building, und Du chauffiertest nach Palo Alto. Zeigtest mir den Campus und das Auditorium, wo Du mit einem Team der Stanford University gegen ein Team der University of Princeton die These verteidigt hast, daß der Staat die Zeitungsberichte über Kriminalaffären nicht zensurieren dürfe. Ich würde jederzeit das Dormitory am Robbie Hall Quart wiederfinden, darin Du gewohnt hast als Studentin, und das Haus der Schwesternschaft »Kappa-Delta«, deren Mitglied Du warst.

In der pompösen Gedächtniskirche erzähltest Du mir, die Universität sei zum Ruhm eines fünfzehnjährig gestorbenen Multimillionärsöhnchens gestiftet. Der Papa, ein Eisenbahnkönig, fragte einen Professor, was die Gründung einer Universität kosten würde. »Dreißig Millionen Dollar«, war die Antwort. »It's all right«, sagte Mr. Stanford und wandte sich an seine Frau: »Wollen wir's machen?« So erstehen in Amerika Hochschulen – zehn Minuten weiter ist eine andere, die von Santa Clara, wieder zehn Minuten weiter, in San José, zwei andere, die methodistische University of pacific und das katholische Notre Dame College.

Vor Mr. Herbert Hoovers Villa war ein Seil gespannt: »No thoroughfare«, und so lenkten wir durch die Obstgärten, die Mandelbäume blühten. Du zeigtest mir die Bank, auf der bei einer Necking-Party Dein Freund zärtlich werden wollte und Du davonliefst. »Ich Dumme, auf dich hab ich gewartet!« – »Tut's dir leid?« Du lachtest. »Nein, ich habe solche Kerle gern. Hoffentlich bist du ein guter Schriftsteller und kein Schmierer. Ich werde mich bei Doktor Hoffmann über dich erkundigen.« O weh!

Und wenn Du das Geheimnis wüßtest – Dir, die Du »solche Kerle« gern hast, wäre unser Abenteuer verleidet.

Mit Dir und Deinem Auto fuhr ich Dienstag abends im Fährboot über die Bucht. Drüben hast Du angekurbelt, und nie mehr werde ich Dich wiedersehen, Inez.

Allein gehe ich durch San Francisco, die Stadt, in der die Straßenbahn über Wellen schaukelt. Ich habe einen Park entdeckt, einen schräg abfallenden, ungepflegten Rasenplatz, Portsmouth Square, wo italienische Männer mit Samthosen sitzen und den »Lavoratore« lesen und chinesische kugelrundköpfige Kinder spielen, eine wilde arme Gegend am Kriminalgericht und am Staatsgefängnis. Es ist ein guter Platz – überall in der Welt läßt sich noch etwas entdecken.

Die ganze meilenweite Sutterstraße bin ich abgelaufen, um den Antiquar zu finden, von dem Du mir gesprochen hast, Inez, und ich habe ihn gefunden. Der grauhaarige MacDevitt hat mir stundenlang Stadtgeschichte, Kunstgeschichte und Sozialgeschichte von San Francisco erzählt und Broschüren und Zeitungsblätter herausgesucht über die erste, gegen die chinesischen Lohndrücker gerichtete Arbeiterbewegung, über den Goldrausch von 1848, über den deutschen »Vorwärts an der pazifischen Küste« und über Tom Mooney, der wegen jener Bombe von Market Street zu lebenslänglichem Kerker verurteilt ist. Der alte Buchhändler sprach von Ambrose Bierce, dem nietzscheanischen Dichter, und seinen Schülern, die im Kriege nationalistisch wurden und alle durch Selbstmord endeten, George Sterling und seine erste Frau, Jack London, Nora MacFrench. Auch ein Deutschamerikaner sei sein Gefolgsmann gewesen, und der wurde ebenfalls nationalistisch, wenngleich mit umgekehrtem Vorzeichen; er hieß Hermann George Scheffauer und sei der einzige des Kreises, der keinen Selbstmord beging. »Doch«, berichtete ich. »So?« erwiderte MacDevitt. »Also der auch!«

Von Jack London, seinem Freunde, erzählte MacDevitt viel. Weißt Du, Inez, daß Jack London in Oakland gelebt hat und dort sozialistischer Kandidat war? Nun scheint mir die Stadt weniger häßlich, deren Lichter abends über die Bucht blinken. Aber Du kommst morgen nicht mehr herüber.

MacDevitt zeigte mir ein herausgerissenes Stammbuchblatt mit einem Gedicht Swinburnes, von Jack London abgeschrieben. »Für Dorothy« steht darüber; es sind die Verse, die in der Liebesgeschichte zwischen dem jungen Martin Eden und der Bourgeoistochter eine solche Rolle spielen. Die erste gedruckte Novelle Jack Londons »Zwei goldene Ziegel« hat MacDevitt vor kurzem ausgegraben – der Autor erfuhr nie, daß sie erschienen war, denn er ging nach Klondike, kurz nachdem er sie eingesandt.

Als junger Bursche pflegte Jack London, so erzählte der Antiquar, auf Portsmouth Square zu sitzen, wo auch George Louis Stevensons Lieblingsplatz war. »Wo?« – »Auf Portsmouth Square – der schräge Rasenplatz hinter dem Kriminalgericht und dem Staatsgefängnis. Doch Stevenson und Jack kannten einander nicht.« Teufel, Teufel, nirgends mehr in der Welt läßt sich etwas entdecken!

Weißt Du, Inez, ich hätte die beiden sicherlich einander vorgestellt, das ist schon einmal mein Beruf auf Erden, obwohl ich nicht in ihre Gewichtsklasse gehöre, bei weitem nicht, das darfst Du keineswegs glauben. Das ist Dir wohl auch gleichgültig.

Wenn nur das Geheimnis nicht wäre! Läsest Du diesen Brief, so würdest Du lächeln. »Was für ein Geheimnis? Kein Geheimnis kann mir die Freude an unserer Woche nehmen!« Ja. Was könnte es Dich scheren, Du Mädel der Savanna, ob ich verheiratet und Vater von zehn Kindern, ob syphilitisch oder ein Taschendieb oder sonst etwas, ob ich nie im Leben Schriftsteller gewesen und niemals Matrose – nichts änderte das an der Tatsache unserer sechs Tage!

Aber ich glaube, es würde Dich doch verdrießen, Inez, zu hören, daß mein Freund, mit dem ich Dich in Los Angeles ansprach und dem Du mich vorgezogen hast, Charlie Chaplin war.

 


 


 << zurück