Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Über Konfektionsarbeiter

Am Abend vor Thanksgiving Day, einem Nationalfeiertag, veranstalteten die Ladies Garment Workers eine Massenversammlung in Webster Hall.

Das eine der Tore von Webster Hall, festlich beleuchtet, führte zu dem Saal, in dem eine Gruppe junger Kaufleute oder Handelsangestellter ihren Thanksgiving-Ball abhielt. Durch dieses Portal war der Doktor Becker irrtümlich eingetreten, aber da es eine halbe Stunde zu früh war, setzte er sich im Vorraum auf einen Stuhl.

Nach und nach kamen viele andere Leute, gleichfalls fehlgegangen; das herumlungernde Ballkomitee belehrte sie, die Tagung der Kleidernäher sei nebenan. Jedesmal wurde diese Auskunft ironisch gegeben, und wenn die Arbeiter umkehrten, machten die feiertäglich herausgeputzten Kaufmannsjünglinge Bemerkungen, Witze, Grimassen, Gebärden oder lachten hinter ihnen her, mit der überlegenen Verständnislosigkeit, die man hierzulande der Arbeiterbewegung entgegenbringt. Der Bürger findet Lohnkämpfe sinnlos und Streiks uninteressant. »Unser Arbeiter fährt sein eigenes Auto, hat sein Radio zu Hause, und mehr will er gar nicht«, das ist das Urteil des hundertprozentigen Amerikaners (der freilich ein um so hundertprozentigerer Amerikaner ist, je mehr Prozent Europäertum er zu verschleiern hat).

Eine halbe Stunde später irrte sich niemand mehr in den beiden Eingangstüren von Webster Hall. Die Straße war schwarz von Menschen, die sich zum Meeting drängten. Keiner kam im eigenen Auto, die wenigsten sahen aus, als hätten sie ein Zuhause mit Radio, und daß sie »mehr gar nicht wollen«, zeigte der Verlauf der Versammlung keineswegs.

Es war für die europäischen Begriffe des Doktor Becker ein recht merkwürdiger Verlauf. Das Referat wurde in englischer Sprache gehalten, aber schon der nächste Redner opponierte italienisch, als ob das selbstverständlich und dem letzten selbst verständlich sei, er redete leidenschaftlich, lang und laut und vertrat den anarchistischen Standpunkt der New Yorker Zeitung »Rova di Liberta«, heftig wurde ihm von zwei jiddischen Rednern widersprochen. In merkwürdigem Englisch referierte ein Grieche von der Local Union of Greek Fur Workers; griechische Arbeiter stellen die ganzen Belegschaften jener Werkstätten, die ihren kapitalistischen, gleichfalls geschlossen organisierten Landsleuten (United Manufacturers' Organization) gehören. So hörte der Doktor Becker hier im südöstlichen New York unter armen Nadelarbeitern in der Sprache der Divina Commedia referieren, in der Sprache der Odyssee duplizieren und in der Sprache des Nibelungenliedes replizieren, im Deutsch vor der zweiten Lautverschiebung – dem Jiddischen.

Das schwere und ausgepowerte Gewerbe der Nadelarbeiter besteht in seiner Mehrheit aus polnisch-russischen Pogromflüchtlingen und ihren Söhnen; sie sind Leser der großen jiddischen Massenzeitungen, des sozialdemokratischen »Forwerts« und der kommunistischen »Freiheit«, und die Träger der Schneiderorganisationen, gegen die die Unternehmer natürlich mit antisemitischen Argumenten operieren und bei vielen christlichen Arbeitern damit Anklang finden. Waren Sprecher und Hörer der Versammlung auch politisch entgegengesetzt und polyglott, sie waren einheitlich in ihrer Verzweiflung. Deren Gründe wurden offen dargetan. Die Internationale Gewerkschaft der Damenschneider, die früher 125 000 Mitglieder zählte, ist seit dem vierzehn Monate währenden Streik von 1926 bis 1927 fast lahmgelegt, die Vierzigstundenwoche abgeschafft, die Leute gezwungen, 54 und mehr Stunden wöchentlich im speed-up, dem Antreibesystem, zu arbeiten, oft auch am Sonnabendnachmittag und am Sonntag, der Wochenlohn ist aufgehoben und fast überall Stücklohn eingeführt, das Einkommen um dreißig Prozent gesunken, der Unterstützungsfonds für Erwerbslosigkeit, der vor zwei Jahren noch eine halbe Million Dollar betrug, restlos liquidiert und die Arbeitslosigkeit enorm.

Beschränkt man sich bei Beobachtung des New Yorker Straßenlebens nicht auf die elegante Fifth Avenue, auf die gesti und spekulierende Wall Street und auf den lichtschreienden Broadway, so begegnet man bald der industriellen Reservearmee, den Arbeitslosen und Arbeitsuchenden.

Wo die Siebente Avenue die 36., 37. und 38. Straße kreuzt, ist der Markt der Dressmakers. Alte Schneider aus Galizien und aus der Bukowina, aus Bessarabien und aus der Ukraine, aus den Schwitzbuden von Minsk, Kiew, Kischinew, Wilna und Whitechapel – vor vierzig Jahren sind sie hoffend, träumend und betend übers Meer gezogen und stehen jetzt hier an den Straßenecken, hoffend, träumend und betend, daß ein Vorarbeiter komme, um ihnen für eine Woche oder wenigstens für einen Tag oder wenigstens für ein Dutzend Mäntelfutter Beschäftigung zu geben . . .

Manche haben den ergrauten Bart und das Haar schwarz gefärbt, sie wollen dem Unternehmer jünger erscheinen. Vergeblich. Sie sind eine tragische Ausgabe des Witzes von dem alten Juden an der Theaterkasse von Czernowitz: seinen wallenden Bart mit beiden Händen bedeckend, verlangt er ein Studentenbillett.

Einige Blocks weiter, in den Straßen 27, 28 und 29, warten Kürschnergehilfen, greise und junge, Zuschneider und Finishers, Stepper und Näher, tagelang auf das Glück, das die Arbeitsbörse bringen kann – wahrlich das bescheidenste Börsenglück.

Die Ladenfenster, in die die arbeitslosen Pelzwarenarbeiter neidisch lugen, unterscheiden sich durch nichts von denen auf dem Leipziger Brühl: braune Bärenpelze, silbergrauer Fuchs, weißgesprenkelte Antilopenfelle, brauner Biber und schwarzes Karakul werden im Licht der Straße zurechtgeschnitten, während sich der Handel im rembrandtschen Hintergrund des Ladens mit sichtbarer Lebhaftigkeit vollzieht.

Standardisiert sind die Geschäftslokale, die Firmentafeln auch. Auf den Fenstern der Hochhäuser im Nadeldistrikt steht zweihundert-, dreihundertmal in gleichmäßiger Beschriftung »Cloak- and Dressmaker« und darunter jedesmal ein anderer Firmenname. Ebenso auf den trüben Häusern der trüben Querstraßen, die immer trüber werden, je weiter sie sich von der Siebenten Avenue nach Ost oder nach West entfernen.

Die Fahrstühle weisen keine Ähnlichkeit mit jenen der anderen Citygebäude auf, mit den eleganten Elevatoren der Wohnhäuser, der Hotels, der Banken oder der Bürohäuser, sie sind Fabrikaufzüge, für Waren und Arbeiter berechnet, also ohne Täfelung, ohne Teppich und ohne Beschläge, ja, ohne Seitenwände, und der Fahrstuhlführer besitzt nichts weniger als eine Livree.

Zehn bis fünfzehn Menschen faßt die Förderschale der Konfektion, und immer sind Eisenkarren mit Modellpuppen – jede trägt eine Menge von Toiletten über dem musterhaften Leib – in Aufwärts- oder Abwärtsfahrt begriffen. Aus der Werkstätte des Subcontractors, des Zwischenmeisters, zum Jobber, der ihm Stoff und Auftrag geliefert, Preis und Termin diktiert hat, heben und senken sich die Kleiderpuppen, hinauf zur Ansicht, hinab zur Änderung, hinauf zur Ablieferung.

Eine Werkstätte wie die andere, ob sie nun eine Fabrik mit mehr als hundert Arbeitern, meist Italiener und Neger, oder nur ein kleiner contracting shop mit zwölf, meist ostjüdischen Schneidern ist, ob man darin Damenkleider näht oder Mäntel oder Herrenanzüge: längs der Fenster die breiten, stoffballenbeladenen Tische des Zuschneiders; in kleinen Läden hat er eine Schere, in größeren ein elektrisch bewegtes Messerrad, um nach dem aufgelegten Schnittmuster dreißig verschiedenfarbige Stoffe zu Kleidern von gleicher Fasson und Größe zuzuschneiden. Innerhalb dieses Rahmens von breiten Tischen hantieren Männer und Frauen an Nähmaschinen oder säumen mit der Hand Knopflöcher. Wie Marionetten bewegen sich die Presser mit den Bügeleisen, zu denen dreißig unentwirrbare Leitungsdrähte führen. Examiners bekleiden prüfenden Blicks die Modellpuppen.

In den shops an der Dritten Avenue empfangen die Arbeiter in Abständen von je einer Minute einen Schlag auf den Kopf: flimmerndes Dunkel huscht über ihre Augen, und ihr Gehirn rattert. Das ist die Hochbahn; die Lokal- und Expreßzüge von Nord nach Süd, von Süd nach Nord streifen die Fenster. Nur wenige Wohnungen sind in dem Häuserrand dieses schwebenden Schienenstrangs, das geborstene Geschirr zerbricht, man versteht sein eigenes Wort nicht, und durch den Schlaf rasseln die Waggons. Nur arbeiten muß man hier, etwa die Hälfte der Konfektionswerkstätten liegt an der Strecke. Die Schneider sind das Vorbeisausen der Züge schon gewöhnt, der Doktor Becker zuckt noch zusammen.

Auf bunte Lappen, Abfall von Stoff und Garn, tritt der Doktor Becker, da er durch diese Werkstätten wandelt, Enklaven Alt-Rußlands in Neu-Amerika. An den Nähmaschinen, an den Stoffballen, an den Knopflöchern, an den Modellpuppen und an den Bügeleisen stockt die Arbeit, wenn der Doktor Becker vorbeigeht; man versucht, ihn, einen vermeintlichen Konfektionär aus Berlin, ins Gespräch zu ziehen.

Die einen, und sie sehen aus wie die Redner von Webster Hall am Thanksgiving Day, wollen Löhne und Arbeitszeit der Fabrikschneider in Deutschland, die Stärke der Gewerkschaften wissen. Die andern aber, danach fragend, wieviel Kapital nötig wäre, um sich in Deutschland zu etablieren, und wieviel Geld man als Unternehmer in Deutschland verdienen kann, ähneln in diesem Augenblick dem habgierigen Contractor, der wütend ist, weil das Erscheinen eines Besuchers seine Leute von der Arbeit ablenkt.

 


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