Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Gefängnisse auf einer Insel im East River

Auf Wunsch bleibt die Straßenbahn mitten auf der Queensborough Bridge stehen.

Auch die Polizeiwagen halten am Mittelpunkt der kilometerlangen Brücke, und die Gefangenen müssen aussteigen.

Warum? Wirft man sie ins Wasser, oder springen sie selbst hinein?

Nein, man wirft sie nicht ins Wasser, und sie springen auch nicht selbst hinein!

Also führt hier ein Weg irgendwohin?

Ja, hier führt ein Weg irgendwohin. Abwärts führt ein Weg.

Man geht ihn nicht, sondern man fährt ihn – vorausgesetzt, daß man einen freiwilligen oder unfreiwilligen Ausweis hat – in dem Fahrstuhl, der sich tief, tief hinabsenkt zu einer schönen und großen Insel. Die hat früher »Blackwell Island« geheißen, aber jetzt den offiziellen Namen »Welfare Island«, Wohlfahrtsinsel, angenommen.

Als eine schöne Insel muß sie bezeichnet werden, weil sie mitten in New York liegt, zwischen Manhattan und Long Island, und doch von dem huronischen Getöse und dem tödlichen Verkehr der Stadt nicht berührt ist, weil sie weite Rasenflächen hat und solide Bauten, denen zwischen den Beeten Raum zum Atmen gegeben ist, und vor allem, weil man von hier aus die buntbewegten Bilder des Märchenbuches »Der Hafen von New York« beschauen kann.

Groß aber muß Welfare Island genannt werden, weil: die 46. Straße, über den Uferrand verlängert, würde die Tangente zum Südende der Insel bilden, während die Nordspitze der Insel erst in der Höhe der 86. Straße liegt. Das ist eine Länge von etwa vier Kilometern! Wollte man so bauen, wie man drüben auf der Geschäfte-Insel baut, hier könnten alle Elendenküchen des Mr. Zéro, alle Tagesasyle der Missionsgesellschaften, alle Nachtquartiere der Heilsarmee und alle anderen Wohltätigkeitsgesellschaften durch ausreichende Institutionen ersetzt werden und Tausende von Obdach- und Nahrungslosen Obdach und Nahrung bekommen. Das Eiland würde dadurch nicht schöner, die Welfare aber größer.

Das »Penitentiary«, die Männerstrafanstalt, sieht imposant aus. Ein ebenerdiger, aber hoher Bau mit einer Reihe großer Fenster. Material: dunkler Granit.

Und vor diesem Sommerpalais eine Rasenfläche, durch ein Drahtnetz von der Straße geschieden. Der Wachtposten macht den einsamen Passanten darauf aufmerksam, daß er nur auf der gegenüberliegenden Seite der Straße gehen darf . . .

Reichen wir den vom Department of Correction ausgestellten Erlaubnisschein durch die Gitterstäbe, dann öffnet sich das Tor, und wir treten in eine Halle ein, in der auf langen Bankreihen etwa sechzig Menschen sitzen und darauf warten, wieviel Tage, Monate oder Jahre Haft ihnen zugemessen werden. Denn das Gericht sprach nur eine »Indeterminate sentence« aus, und im Gefängnis erst wird nach einigen Tagen das Strafausmaß festgesetzt. Unter den finster Harrenden viele Neger – sowohl in den »Tombs«, dem Stadtgefängnis von Manhattan, wie in der Männerstrafanstalt und im Frauenzuchthaus auf Welfare Island sind die Hälfte der Insassen Farbige. Ihr Prozentsatz innerhalb der Gesamtbevölkerung ist weitaus geringer, so daß man eine sehr hohe Kriminalität der Neger annehmen müßte. Wer aber amerikanisches Polizei- und Gerichtswesen kennt, der weiß, daß man mit einem dumpfen »Nigger« noch weniger Geschichten macht als mit einem Armensünder von derselben Couleur in Weiß.

Im Kohlenhof schippen die Schwarzen, fast zusammenbrechend schaffen sie Kohle auf Karren fort. Fünfeinhalb Stunden beträgt die offizielle Arbeitszeit (von acht bis halb elf, von eins bis drei Viertel vier Uhr), da aber die Kohlenzufuhr nur für die Werkstätten eine beschränkte ist, keineswegs auch für die Licht- und Heizanlagen, so müssen Überstunden gemacht werden. Überstunden! Überstunden sind sonst eine vernichtende Arbeitsmethode, aber oft gut bezahlt. Hier werden sie nicht nur nicht gut, sondern überhaupt nicht bezahlt.

Die ganze Arbeit leisten die Gefangenen unentgeltlich. Der winzige Formallohn, der in Europa eingeführt ist – nicht einmal der wird im reichen Amerika gewährt. (In Rußland erhalten Sträflinge den gleichen Lohn wie die in Freiheit befindlichen Arbeiter, ohne daß dadurch das Gefängnis aufhört, ein Gefängnis zu sein, ohne daß jemand einen Aufenthalt im Gefängnis leichtnehmen oder gar anstreben würde.)

Im Hof des New Yorker Penitentiary sehen wir eine Garage im Bau, daneben ein Lagerhaus für Autobestandteile; in der Tischlerei werden Fensterrahmen und Möbel hergestellt, in der Maschinenschlosserei und in der alten Autohalle Wagen repariert und lackiert, Schlösser, Schlüssel und Eisenbeschläge angefertigt; in der weitläufigen Installationswerkstatt macht man Drähte und Sicherungen für die Elektrizitätsanlagen, setzt Heizungs- und Klosettröhren instand; in der Waschküche wird nicht nur gewaschen, sondern auch Seife erzeugt, und in der Bäckerei, in der durchweg Spanier, Italiener und Malaien beschäftigt sind, täglich fünftausend Laibe Brot aus zehntausend Pfund Mehl gebacken, in der Anstaltsküche Speisen für 1500 bis 2000 Personen zubereitet – und das alles von Leuten, die, weil sie ein Vergehen begangen haben, ihre Arbeit ununterbrochen unentgeltlich hergeben müssen!

Die Arbeit ihres Faches, die Arbeit, deren Kenntnis sie in ihrer Freiheit erworben haben!

Denn Schulwerkstätten, Unterweisung in irgendeinem Gewerbe gibt es in diesem Arbeitshaus nicht, wo Strafen von fünf Tagen bis zu drei Jahren abzubüßen sind, der Gefangene also dem Leben wieder zurückgegeben wird und als ein nützlicher Mensch zurückgegeben werden sollte.

Wer kein gelernter Arbeiter oder einer aus einem hier nicht angewandten Fach ist, wird bloß bei der Säuberung der Räume oder überhaupt nicht beschäftigt.

Wie also, fragt der Leser, wie also wird der Häftling entlassen, wenn ihm während der ganzen Jahre kein Lohn gutgeschrieben wurde? Man kann ihn doch nicht einfach ohne Geldmittel auf die Straße setzen?

Nein, das kann man nicht, und deshalb bekommt jeder bei seiner Haftentlassung außer einem Anzug noch 25 Cent, in Worten: fünfundzwanzig Cent. Wie er es anstellen soll, um nichts anzustellen, wie er es vermeiden will, am Abend des glücklichen Tages verhaftet zu sein, ist ja nicht mehr Sache des Strafvollzugs!

Der Ausländer aber, mag er noch so fleißig gewesen sein, kriegt den Vierteldollar nicht, da er ja nach Abbüßung der Strafe deportiert wird und auf seiner oft monatelangen Heimreise kein Geld braucht . . .

Die eigenartige Belegschaft der Wäscherei, Plätterei und Seifensiederei sei erwähnt. Man glaubt zunächst, Frauen zu sehen. Aber es sind Burschen, sie arbeiten hier in fassonierten Schürzen, haben Dauerwellen im Haar, Beffchen an die Hemdkragen genäht und ausrasierte, auf der Stirn neugemalte Brauen und nachgedunkelte Wimpern über den Augen, die, meist groß und schön, vielleicht den Weg ihres Besitzers bestimmt haben. Die Wäscherei ist anerkannte Domäne der Homosexuellen, und sie wohnen auch alle im selben Trakt, wo sie ihre Zellen jungmädchenhaft ausstatten, wenngleich Männerakte an der Wand nicht gerade der übliche Schmuck eines Mädchenzimmers sind.

Auch Inhaber anderer Zellen haben sich individuell eingerichtet, eine weiße Decke mit aufgenähten Blumen über die Bettstatt gebreitet, das Bild einer Frau oder eines Kindes an die Wand gehängt, einen Lampenschirm über der Glühbirne befestigt, den Schemel am Kopfende der Pritsche durch ein darübergelegtes Linnen zu einem Nachttischchen umgewandelt. Der Eimer – ja, hier gibt es noch Eimer! – zerstört freilich das Idyll.

So eng sind die Kerkerkammern, daß dreißig Zentimeter vom Bettrand entfernt bereits die Wand beginnt und kein Platz für ein Tischchen oder ein Waschbecken vorhanden ist. Man wäscht sich außerhalb der Zelle, warum könnte nicht auch das Klosett draußen sein?

Die Zellen sind in Blocks von vier Stockwerken angeordnet, und ringsum über diese Raubtierkotter ist eine mit dunklem Granit ausgelegte, von hohen Fenstern durchbrochene Mauer aufgeführt, hinter der man einen edlen Landsitz vermuten müßte. Das Ganze ist ein Trickgebäude, eine Maskerade.

Von außen heißt es auch Penitentiary, im Innern heißt es Prison; im Old Prison sind eben 247 Leute untergebracht, im North Prison 556, im West Prison 221, im South Prison 213, im Schlafsaal des Arbeitshauses 237, im Isolator für Gewalttäter befinden sich 13 Menschen, zufälligerweise durchweg gutmütig aussehende junge Neger, im Hospital, wohin alle Gefangenen gerne möchten, weil es dort Radio zu hören (sonst nirgends) und besseres Essen gibt, liegen derzeit 47 Kranke.

Briefe schreiben darf der Gefangene, soviel er will. Innerhalb von vierzehn Tagen ist ein Besuch erlaubt, der an der Westwand der Kirche hinter Drahtgittern empfangen wird. Aber wenn man fragt, wieso außerdem in den Kirchenstühlen Gefangene neben Damen sitzen, erfährt man, daß diese sich eine Spezialerlaubnis verschafft haben. Durch Politiker.

Der Saal, in dem die Neuankömmlinge in Anstaltsanzug und Wäsche eingekleidet werden, bietet Bilder des Grauens. Greise Männer, die ihre Lumpen abstreifen, junge Männer, die sich ihrer guten Anzüge entledigen, nun nackt dastehen und vor sich die »neue« Kleidung haben, einen Klumpen alter, zerschlissener Stoffe und oft gestopfte und wieder zerrissene Wäsche!

Jeder Gefangene bekommt unentgeltlich und in beliebiger Menge Brot. Er kann sich auch im Gasthaus für 3 Dollar 20 Cent wöchentlich verpflegen. Außerdem gibt es die Anstaltskost, morgens Oatmeal und weißen Kaffee, mittags Suppe, Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, abends dicke Bohnen und Tee. »Das Essen ist vollkommen ungenießbar, das Fleisch stinkt auf zehn Meter, niemand kann es essen.« Das sagte uns der erste Gefangene, an dessen Käfig wir traten, in deutscher Sprache, von der er wußte, daß der Wärter sie nicht verstehe. Es war ein junger Student aus Köln; den Eltern entlaufen, hatte er in Amerika einer auf einen Dollar lautenden Anweisung eine Null hinzugefügt, welche Fälschung vom Gericht mit 4866 Punkten (marks) bewertet worden war. Da man mit jedem gutgeführten Tag der Haft 13 marks abstreicht, kann er nach Ablauf eines Jahres deportiert werden, was – zu seiner Freude – in den nächsten Tagen erfolgen wird.

Es schien uns unglaublich, daß im reichen New York, im Amerika der Prosperity die Gefangenenkost ungenießbar sein, das Fleisch stinken sollte. Daher fragten wir noch einen Russen und einen Tschechen in deren Sprache: »Wie schmeckt euch das Fleisch?«

»Wir essen es nicht. Wir essen nur Brot, das ist gut. Das Gemüse und das Fleisch stinken.«

In der Fleischkammer, die wir uns öffnen ließen, stank es bestialisch, und die dort arbeitenden Metzger sahen uns forschend an . . .

Die Weiberstrafanstalt ist auf der anderen Seite der Insel. Frauengefängnisse sind besonders schrecklich – niemals geben sich Männer in frauenloser Umgebung einem solchen Zustand der Verwahrlosung hin wie Frauen in männerloser Umwelt. Am schlimmsten wirkt der Anblick beschäftigungsloser Prostituierter. Es wimmelt hier von Prostituierten, schwarzen und weißen, viele der Gefangenen sind luetisch, andere Morphinistinnen oder Kokainistinnen. Im Schlafsaal sahen wir Negermädchen, zehn oder zwölf Jahre alt.

»Dürfen denn Kinder hier aufgenommen werden?«

»Nein. Aber wenn sie sagen würden, daß sie minderjährig sind, so kämen sie auf drei Jahre nach Bedford, ins Reformatory for girls (Zwangsfürsorge). Bei uns aber hat man für das gleiche Verbrechen nur sechs Monate zu sitzen. Deshalb sagen sie, daß sie über sechzehn Jahre alt sind. Wer kann das kontrollieren?«

So sieht es auf Welfare Island aus, einer paradiesischen Insel mitten in New York.

 


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