Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Erstes Gespräch mit Upton Sinclair

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Ob ich nach New York gekommen bin, um hinüberzufahren? Jeder fragt mich das! Als ob New York nur eine Landungsbrücke für Europa wäre. Es ist doch ein feines Plätzchen, nicht? Möchte aber nicht da wohnen. Mir ist es zu teuer – hier kann man nur leben, wenn man hier verdient. Die armen Kleinbürger von New York gehen freilich durch die Straßen, sehen die Wolkenkratzer, freuen sich, daß es Amerika so gut geht, und sagen: Wir haben Prosperity . . . Aber nur Wall Street prosperiert.

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Morgen oder übermorgen fahre ich nach Kalifornien zurück. Ich bin nur hier, um wegen der Dramatisierung von »Petroleum« zu verhandeln; es kommt im »Playhouse« noch während dieser Saison heraus. Das Stück schreibe ich nicht selbst, sondern ein Freund; er verfaßt es auf den Proben für die Proben – das wird hier so gemacht. Nur die Grundzüge haben wir gemeinsam besprochen. Die deutsche Übersetzung besorgt James Fuchs, ein Wiener Schriftsteller, der schon zwanzig Jahre in Amerika lebt. Nächste Woche werden im Princetown Theatre die »Singenden Galgenvögel« aufgeführt, aber ich bin leider nicht mehr hier. Möchten Sie eine Einleitungsrede im Theater dazu halten? Ja? Also abgemacht!

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. . . ja, mag sein. Aber das Stück ist hier genauso wichtig, wir haben politische Gefangene genug. Da sitzt zum Beispiel Tom Mooney seit zwölf Jahren im Kerker, obwohl jeder Mensch in Amerika weiß, daß er unschuldig ist. Dabei hing sein Leben nur an einem Faden, und er hat es dem russischen Proletariat zu verdanken, nicht gehängt worden zu sein. Eine geradezu tragikomische Geschichte: Tom Mooney wurde zum Tode durch den Strang verurteilt und sollte in San Quentin Prison gehängt werden, weil er (fälschlich) beschuldigt war, in eine 1916 von der Handelskammer San Francisco veranstaltete und bezahlte Demonstration der Kriegsbereitschaft (Preparedness Parade) eine Bombe geworfen zu haben. Die Zeitungen sollten darüber nichts mitteilen, da man während des Krieges keine Bewegung des Proletariats zugunsten eines populären Führers entfesseln, diesen andererseits unbedingt auf den Galgen bringen wollte. Da kamen plötzlich alarmierende Nachrichten aus Petrograd, die Bolschewiken hätten dort antiamerikanische Demonstrationen abgehalten, im Gebäude der Gesandtschaft von USA habe man die Scheiben eingeschlagen, und zwar wegen eines in Kalifornien zum Tode verurteilten Mannes namens Tomuni, also wahrscheinlich ein Italiener. Alle amerikanischen Zeitungen, die Rußland noch immer für die Weiterführung des Krieges zu gewinnen hofften, fügten hinzu, von diesem Fall sei ihnen nichts bekannt; sie sandten Spezialkorrespondenten nach dem Westen, die sofort aufklärten, daß es sich nicht um einen Italiener Tomuni, sondern um den kalifornischen Arbeiterführer Tom Mooney handle. Nun wuchs die Erregung im Proletariat, und man »begnadigte« Mooney eilig zu lebenslänglichem Kerker, um den Burgfrieden mit der Arbeiterschaft nicht zu stören und um Rußland von der Demokratie Amerikas zu überzeugen.

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Es ist oft schwer, diese Totschweige-Blockade der Blätter zu durchbrechen. 1914 bestand eine solche gegen den Ausstand der Seidenweber von Patterson. Damals hätten Sie John Reed sehen müssen und über ihn schreiben. Er hatte sich vorgenommen, der Öffentlichkeit unbedingt die Vorfälle zur Kenntnis zu bringen. Ohne einen Cent in der Tasche mietete er den größten Saal New Yorks, Madison Square Garden, und stellte mit mir ein Stück zusammen: »Pageant of the Patterson Strike«. Tagsüber rannte er bei allen Bekannten umher, um das Geld zur Deckung der Unkosten aufzutreiben, am Abend und die ganze Nacht jagte er mit dem Megaphon hemdärmelig über die Bühne, den streikenden Seidenwebern, die in Massen aus Patterson gekommen waren, genau eintrichternd, wie sie die Szenen ihres täglichen Lebens unverlogen darzustellen hätten. Das war – ich habe das in meinem »Money Writes« bereits gesagt – das erste Kollektivdrama überhaupt. Die aufklärende Wirkung der Vorführung war ungeheuer und äußerte sich auch alsbald in den Tarifverhandlungen. Allerdings, in Zeiten der kapitalistischen Stabilisierung nützt auch ein Protest der ganzen Welt nichts, siehe Sacco – Vanzetti . . .

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Ja. Ich habe »Die Götter des Blitzes« gestern im Kleinen Theater gesehen. Kann aber das Drama wirklich nicht beurteilen, weil es eine Verquickung des Sacco-Vanzetti-Falles mit dichterischer Phantasie ist. Nun habe ich mich aber seit zwei Jahren derart intensiv mit Sacco und Vanzetti beschäftigt, daß meine Gedanken gestern im Theater aus einer dargestellten Episode der Wirklichkeit in die nächste Episode der Wirklichkeit sprangen, während auf der Bühne bereits etwas Erdachtes geschah. Das verwirrte mich. So muß es ungefähr sein, wenn jemand einen Teil seines Familienlebens auf der Bühne dargestellt sieht.

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Vorläufig kann ich nicht, ich habe zu tun. Besonders nach Rußland möchte ich gern, wenn ich Zeit hätte. In Deutschland war ich vor dem Kriege bei einem Freund, bei Erich Gutkind.

Er ist ein Dichter und hat unter dem Namen Volker einen Band »Seraphische Umarmungen« herausgegeben; jetzt treibt er Astronomie. Nach Berlin kam ich mit Frederic van Eeden und war mit vielen Sozialisten zusammen, zumeist bei Karl Kautsky draußen, bei der »Heiligen Familie«; auch bei Südekum war ich in der Wohnung – lebt er noch? – und traf auch Hermann Müller-Franken – ja, ich weiß, der lebt noch – und Fischer und viele andere.

Karl Liebknecht lernte ich kennen, den großen Menschen! Er führte mich im Reichstagsgebäude umher und zeigte mir, wo die Sozialdemokraten zu Mittag essen, und dann, von der Türe aus, den anderen Speisesaal, den der »anständigen Leute«. So streng war die Trennung damals. Hat sich wohl jetzt geändert, wie?

Richtig, Walther Rathenau habe ich gleichfalls kennengelernt. Er hatte uns in den Kaiserlichen Automobilklub zum Diner eingeladen. Zuerst ließ er Kiebitzeier servieren. Ich habe damals zum erstenmal im Leben Kiebitzeier gegessen (übrigens auch später nicht) und deshalb anderntags meinen Berliner Freunden erzählt: Rathenau hat uns mit Kiebitzeiern regaliert. Da haben alle schrecklich gelacht, und in unseren Briefen haben wir Rathenau nie anders genannt als »Herr Kiebitzei«.

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Ich weiß. Aber gerade das liebe ich nicht. Sosehr ich mich freue, daß meine Bücher drüben so hohe Auflagen haben, sosehr bin ich ein Feind von Banketten und Händeklatschen. Da sitze ich lieber in Kalifornien und schreibe meine Sachen.

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O nein, nicht in der Einsamkeit, ich sehe sehr viele Freunde. Besonders Charlie Chaplin und Douglas Fairbanks. Chaplin ist ein wunderbarer Mensch, wenn er auch leider keine Briefe beantwortet. Er ist ein Sozialist und verkehrt mit Radikalen, worüber das Entsetzen in gewissen Kreisen sehr groß ist. Ich kenne die Geschichte seines Lebens und seiner Ehe – es war alles ganz anders, als man gelesen hat. Charlie hat die fixe Idee, daß es für jeden Menschen irgendwo in der Welt die vollkommene Frau gibt, und auch für ihn. Davon ist er nicht abzubringen – aber gründlich geheilt ist er von der Idee, daß man, bevor man die vollkommene Frau findet, eine unvollkommene heiraten kann . . . Doug ist ganz anders, er ist gastfreundlich und sehr offen. Aber ich bringe Sie auch mit Chaplin zusammen, obwohl es schwer ist. Kommen Sie zu mir nach Long Beach, Sie und Charlie werden sich sicher anfreunden.

Im Vorjahr war ein deutscher Dichter bei mir, Klaus Mann, ein sehr freundlicher Herr. Seinen Vater schätze ich hoch. Der »Zauberberg« ist ein großartiges Buch. Mag sein, daß es privat ist, aber es wird zum Privatereignis jedes Lesers. Ich wenigstens habe mehrere Wochen lang, solange ich das Buch las, geglaubt, in Davos zu sein, im Sanatorium für Lungenkranke. Wenn mir meine Mitpatienten etwas zuviel sprachen, dann habe ich allerdings einige Blätter umgeschlagen . . .

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Ich lese sehr viele deutsche Bücher. In meiner Jugend habe ich alle deutschen Klassiker gelesen, weil uns die Lehrer sagten, daß das sehr wichtig ist. Ich bin aber nur bis zu Gustav Freytag gekommen. Dort habe ich aufgehört. Jetzt lese ich moderne Literatur.

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Das lese ich nicht. Diese Reiseschilderer beschreiben immer dasselbe: ein Riesenhotel, die Niagarafälle und das Chinesenviertel von New York und die Fifth Avenue. Es gibt ein originelleres und wichtigeres Amerika: es gibt den Mississippi, das »schwarze Band«, wo Baumwolle gebaut wird – es gibt Kalifornien, wo die Ranch Jack Londons ist und die Obstfarm von Luther Burbank, der die Früchte kreuzte, die Grapefruit erfand und Hunderte anderer Wunder erzielte – es gibt ein Colorado, wo sich noch Überbleibsel der »Pioniere des Westens« finden, Greise, die vor fünfzig Jahren, ihre Habe auf den Maulesel gepackt, in die Berge zogen, um Gold- und Silberminen zu entdecken, und jetzt in den Bergwerken arbeiten, um nachtsüber in den gambling dens ihren Lohn verspielen zu können – es gibt die Zauberküste von Florida, wo der boom, der Konjunkturrausch, und der Tornado, der Wirbelsturm, die Besitzungen der Kriegsgewinnler zerstört haben – es gibt . . .

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In der amerikanischen Literatur scheinen sich die Verhältnisse etwas zu bessern. Die Periode der Selbstkritik hat einige gute Bücher hervorgebracht. Von Werken lebender Autoren scheinen mir der Tabakarbeiterroman »Weeds« von Edith S. Kellog, L. Lewisohns »Upstream«, der grandiose Gedichtband »Two Lives« von W. E. Leonard, einem Professor in Wisconsin, Michael Golds »120 Millions«, Edgar Lee Masters' »Spoon River Anthology« und »The Nuptial Flight« die wichtigsten zu sein. Man entdeckt die sozialen Strömungen Amerikas, kritisiert . . .

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Das ist wahr: ich halte das Alkoholverbot für den größten Fortschritt Amerikas seit Aufhebung des Sklavenhandels.

Meine ganze Jugend ist durch die Trunksucht meines Vaters vernichtet gewesen – ich schreibe jetzt gerade eine Art Selbstbiographie und erlebe die Greuel jener Zeit von neuem –, und ich kann keine andere Stellungnahme zu dieser Frage finden.

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Gewiß. Ich bin auch der einzige Sozialist Amerikas, der für die Prohibition ist, ich bekomme deshalb Angriffe aus unserem eigenen Lager, und man nennt mich noch mehr als früher einen Puritaner. Was eingewendet wird, weiß ich alles: die tagtäglichen Vergiftungsfälle, die kolossale Korruption, daß sich jeder reiche Amerikaner nach Belieben ganze Gallonen aller Schnapssorten verschaffen kann, das Emporwachsen eines riesenhaften neuen Verbrechertums, der Hunderttausende von Bootleggers. Und Sie mögen auch recht haben mit dem, was Sie »das Entstehen einer Alkohol-Sexualität« nennen, dieses geile Flüstern und Kichern über Abenteuer – nämlich von einem guten Whisky, den man irgendwo getrunken hat. Das alles gilt aber zumeist nur für die Großstädte, in den kleinen Städten kriegt man keinen Alkohol, und jene Unmasse von Kaschemmen, die sich früher überall wie Perlen einer Kette aneinanderreihten, die Riesenzahl von Alkoholleichen auf den Straßen gehören zu den Ausnahmen.

 


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