Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Arbeit mit Charlie Chaplin

»Chaplin? Ja, wir können uns inzwischen bei ihm aufhalten, wollen Sie?«

Selbstverständlich wollte ich, denn er ist einer von den Gerechten, um derentwillen Amerika verschont werden muß vor dem Schicksal Sodoms und Gomorrhas.

Ein anderer dieser Gerechten ist der, der mir die Frage stellt, ob wir uns inzwischen bei Chaplin aufhalten wollen. Er heißt Upton Sinclair.

Wir waren eben in einer großen Filmentwicklungsanstalt von Hollywood, wohin Upton Sinclair seinen »Nash« gelenkt hatte, um einen Film abzuholen. Für seine Frau. Sinclair sprach von ihrem Leiden. Sie war von der ununterbrochenen verzweifelten Furcht erfüllt, krebskrank zu werden, obwohl sie vernunftgemäß die Grundlosigkeit dieser Angst einsah. Durch Suggestion und Wachhypnose Heilung suchend, wurde sie auf einen Magnetiseur aufmerksam, der sich bei seinen öffentlichen Experimenten »Nostradamus«, privat »Roman Astoja« nennt, aber ein Pole ist und okkulte Fähigkeiten zu entwickeln vermag. Aufnahmen der Trancezustände, in denen sich Roman Astoja Nägel durch Zunge und Arme sticht, enthielt der Filmstreifen, den Upton Sinclair abholen wollte. Er erzählte mir, der Film zeige auch, wie sich Astoja in Long Beach lebendig begraben und auf seinem Grab Fußball spielen läßt.

. . . Ein Fußballspiel auf dem Grab des Fakirs, fiel mir ganz unvermittelt ein, welch eine Filmgroteske! Für Chaplin! Der Fußballspieler Chaplin fühlt transzendentale Fähigkeiten, wird auf seinen Wunsch lebendig beerdigt, kratzt sich während des Wettspiels bis zur Erdoberfläche empor und wehrt einen gefährlichen Ball ab.

Diesen Einfall sprach ich nicht aus, er paßte nicht zum Ernst unseres Themas. Kein Wort sagte ich.

Aber Sinclair antwortete. Es war jetzt, da er das okkulte Gespräch mit dem Vorschlag unterbrach: »Chaplin? Ja, wir können uns inzwischen bei ihm aufhalten, wollen Sie?«

Ich erwiderte, daß ich längst den Wunsch ausgesprochen hätte, bei ihm eingeführt zu werden, aber noch gestern hatte ich von Filmgewaltigen erfahren, alle ihre Versuche, ihn kennenzulernen, seien gescheitert, und jeder, der sich in Hollywood brüste, Charlies bester Freund zu sein, habe ihn bestenfalls in Henris Restaurant einmal Abendbrot essen sehen.

»Ja, er wird furchtbar überlaufen«, sagt Sinclair, »mehr als hundert Menschen kommen täglich mit irgendwelchen Anliegen, um ihn zu sehen, ihm ihre Bewunderung auszudrücken, mit einem Projekt oder einem Pumpversuch.«

Sinclair stoppt seinen Wagen Ecke Longpré Avenue und La Brea Avenue vor einer Gruppe rotgedeckter Häuschen. Es ist nichts dahinter zu vermuten, am allerwenigsten ein Filmatelier, denn Filmateliers sind in Hollywood gigantisch ummauerte Komplexe mit Gittertoren und Pförtnern, jede Giebelwand für Kinoreklame ausgenützt. Hier ist auf winzigem Metalltäfelchen »Chaplin's Studio« graviert, und wir treten ins Büro ein, das heißt zu einem Fräulein, das abwechselnd mit Telefonstiften hantiert und Korrespondenz erledigt. Wir gehen vorbei in den Hof, der wirklich ein Hof ist und auf dem Filmbauten stehen. Anderswo wär er kein Hof, und wär er einer, hieße er »Stage Nr. 35«, Eintritt wäre verboten und ein Wächter majestätisch davor postiert.

Zwei Männer begrüßen Sinclair, es war gerade Aufnahme, erzählen sie, und einer sagt: »Dort kommt ja der Boß!«

Der Boß! Der Alte! Der Chef! Wir wenden uns um nach dem Boß. Nach Charlie Chaplin. Wenn er wenigstens in einem anständigen Anzug daherkäme, wie sich's für einen Boß, einen Chef, den Alten geziemt, so könnte er allenfalls außerhalb dieser Zeit – wenn er kein Boß, kein Chef, nicht der Alte ist – jener tieftraurige Vagabund mit den komischen Einfällen sein, den wir so sehr lieben. Aber er naht auch jetzt in den herabhängenden geflickten Hosen, in den geflickten großen Schuhen, mit der verschobenen Krawatte und mit dem zerschlissenen Röckchen. Er kommt eben von der Arbeit, er ist ein Boß, der arbeitet.

»Hallo, Upton«, ruft er von weitem, »daß Sie sich wieder mal anschaun lassen!« Sinclair äußert etwas über den Gast, den er mitgebracht. »Das ist fein«, erwidert der leibhaftige, eigenhändige, höchstselbstpersönliche Charlie Chaplin, und wir schütteln einander die Hände. Er flucht, seine Arbeit geht nicht vorwärts, er dreht einen neuen Film »City Lights – Die Lichter einer Stadt«, aber »jetzt ist wieder ein toter Punkt da, der Teufel soll es holen, wir können nicht weiter – wollt ihr mir helfen, Burschen?«.

Ja, wir Burschen wollen Charlie Chaplin helfen.

Es ist nicht ganz der Charlie Chaplin aus dem Film. Er kommt zwar aus der Arbeit, aber er ist nicht während der Arbeit oder, besser gesagt, er spielt gerade nicht. Sein Hut fehlt, das eingedrückte Melonenhütchen, und das Bambusstöckchen fehlt, und das schwarze Zahnbürstchen unter der Nase fehlt. Außerdem sind seine Stiefel gar nicht so überwältigend groß und gar nicht so überwältigend lächerlich, wie sie im Film erscheinen, es sind ausgelatschte, geflickte, zerrissene, vielleicht etwas zu große, aber immerhin gewöhnliche Schuhe, und erst die Kunst ihres Boß hat ihnen kosmisches Ausmaß verschafft. Jetzt, da er mit uns, die wir ihm »helfen« sollen, dem Vorführungsraum zueilt, sind die Stiefel unauffällig und der Boß alles andere als plattfüßig. Er trägt eine Hornbrille. Ohne sie kann er nicht einmal seinen Namen unterschreiben, so weitsichtig ist er.

Von seinem Haar fallen zwei Strahlen einer Fontäne silbern über die Mitte seiner Stirn. Auch am Nacken ist das Haar grau – dort, wo es nachwächst. (»Sie sollten es dort schneiden lassen, Charlie«, sagte ich einige Tage später vorsichtig zu ihm. Aber er macht kein Hehl aus seinem gefärbten Haar. »Sie sehen, daß ich mich nicht mehr darum kümmere. Was weiß wird, wird nicht mehr nachgefärbt. Schluß damit. Mit vierzig Jahren werde ich wieder ganz weiß sein, wie ich's mit fünfunddreißig gewesen bin.« – »Und was macht Ihre Frau jetzt?« – »Ich weiß es nicht«, bemerkt er mit einer Gebärde der Gleichgültigkeit, »aber ich habe zwei Kinder, und die sind bei ihr.«)

Jetzt sind wir im Vorführungsraum; während der Streifen eingelegt wird, spielt Charlie Chaplin auf dem Harmonium das Lied »Violetera« und singt spanische Worte dazu, die es nicht gibt, und lädt mich ein, in sein Haus zu kommen, dort werde er mir Orgel vorspielen, bis mir Hören und Sehen vergeht. »Was, Jungens?«

Die Jungens bestätigen dem Boß wunschgemäß, daß er zu Hause eine großmächtige Orgel hat, auf der er sehr laut und brausend zu spielen versteht, ob's nun dem Besucher recht ist oder nicht.

»Ich spiele schrecklich schön«, lacht Chaplin. »Ihr versteht aber einen Dreck von meiner Musik.«

Der Jungens, die übrigens den Boß mit »Charlie« ansprechen, sind es zwei, und sie heißen Harry Crocker und Henry Clive. Harry Crocker ist ein junger Amerikaner mit Sweater und Humor, hat im »Zirkus« den Seiltänzer im Frack und glücklichen Nebenbuhler Chaplins gespielt und außerdem den Clown, den Charlie einseift, und noch einige Rollen. Henry Clive ist schon älter, achtundvierzig Jahre, und hat eine seriöse Laufbahn als Zauberkünstler an amerikanischen Provinzvarietés hinter sich. Der dritte der Jungens heißt auch Heinrich, wie die beiden anderen, und ist heute nicht da, aber das ist eine Ausnahme, wir werden keinen weiteren Besuch in Chaplins Studio erleben, ohne daß Mister Henry Bergmann, breitbäuchig und breitspurig, in einem dementsprechenden Stuhl sitzt. Nachts aber ist Bergmann-ur (so wollen wir ihn lieber statt »Mister« nennen, denn er ist ein ur-Magyare) selbst ein Boß, Besitzer eines Hollywood-Boulevard-Restaurants für Prominente und solche, die sie sehen wollen. Den Restaurateur Henry hat Chaplin erzeugt und ihm als Mitgift seinen allabendlichen Besuch gegeben, für den sich Bergmann-ur durch alltäglichen Besuch bei Chaplin revanchiert.

Ein schwarzlederner Lehnstuhl und vier hölzerne Sessel sind außer dem Harmonium das Inventar des Vorführungsraumes. Chaplin will mich in den Ledersessel nötigen, aber da ich ablehne, scheint er sehr zufrieden, denn er hockt sich mit untergeschlagenen Beinen darauf, es dürfte sein gewohnter Platz sein.

Und nun wollen wir den Film abrollen lassen. Vorläufig ist nur ein Viertel fertig, vierhundert Fuß, von denen noch mancher eingerenkt und mancher amputiert werden wird. Der Film rollt.

Bei der Stelle mit der Uhrkette (siehe unten) lache ich laut auf. Aber jemand legt mir die Hand auf das Knie und bedeutet mir, still zu sein. Wer ist es, der mir das Naturrecht, bei einem tollen Einfall Charlie Chaplins toll zu lachen, streitig machen will? Er heißt Charlie Chaplin und sitzt neben mir. Der Film ist noch nicht fertig, wir sollen ja »helfen«, mein Lachen ist fehl am Ort, wie wenn der arme Chaplin lacht, da er im »Zirkus« die Späße des Clowns erlernen soll.

»Großartig«, flüstern wir, nachdem das Filmfragment abgerollt, der Vorführungsraum erhellt ist.

Der Boß wehrt ab. »Möchten Sie mir erzählen, was Sie gesehen haben?«

Gewiß. Gern. Also ein Mädchen verkauft Blumen an der Straßenecke. Da kommt Chaplin . . .

»Oh, noch nicht.«

Vorher kommt ein Mann mit seiner Frau und kauft eine Blume.

»Ein Mann? Was für ein Mann?«

Ein Mann, der ein wenig wie Adolphe Menjou aussieht.

»Ja, ein eleganter Herr mit einer Dame. Das ist wichtig. Nun, und?«

Dann biegt Chaplin um die Straßenecke. Er sieht einen Brunnen an der Mauer und zieht die Handschuhe aus, um zu trinken. Das heißt: nicht die Handschuhe als Ganzes, sondern jeden Finger einzeln. Einer fehlt, und Charlie sucht ihn, ohne ihn zu finden.

»Sehen Sie, Charlie!« ruft Harry Crocker siegreich.

»Nein, es ist nicht klar. Wir werden die Stelle noch einmal drehen.« (Er erklärt mir, daß es ein Fehler ist, als ersten Handschuhfinger den abziehen zu wollen, der nicht da ist, ihn auf dem Boden zu suchen und dann erst die vorhandenen Handschuhfinger abzunehmen.)

Nun nimmt Charlie den Trinkbecher von der Mauer . . .

»Haben Sie erkannt, was ich vorstelle?«

??

»Bin ich diesmal nicht etwas anders als sonst?«

Ja. Sie haben eine kleine Schmetterlingskrawatte und die Handschuhe. Sie wollen diesmal ein etwas geckenhafterer Landstreicher sein, nicht? Darauf deutet ja auch der Einfall mit dem Trinkbecher hin.

»Bitte, erzählen Sie auch den.«

Chaplin nimmt den Becher, der an einer Kette hängt. Sie legt sich um seinen Bauch, und Chaplin bemerkt, daß das eine herrliche Uhrkette wäre, und versucht, sie von der Mauer loszulösen (siehe oben), während er trinkt. Es mißlingt, resigniert watschelt er weiter zu dem Blumenmädchen. Die Kleine bietet . . .

»Halt, halt. Da ist etwas dazwischen.«

Chaplin sieht mich ganz scharf an, angstvoll, fast flehend. »Etwas ist dazwischen.«

Nein, ich kann mich absolut nicht erinnern, daß etwas dazwischen war.

»Es kommt doch ein Auto!«

Ja, ein Auto kommt, ein Herr steigt aus und geht an Chaplin vorüber. Chaplin grüßt wie immer.

»Und was tut das Auto?«

»Ich weiß nicht«, sage ich.

Und Upton Sinclair meint: »Ich glaube, es fährt weg.«

»Teufel, Teufel«, murmelt Chaplin, »alles verdorben.« Auch seine Mitarbeiter sind niedergedrückt.

Ich erzähle nun weiter, was geschieht. Das Mädchen reicht Chaplin eine Blume, sie fällt zur Erde, beide bücken sich, Chaplin hebt die Blume auf, aber die Verkäuferin sucht weiter, sie sucht weiter, obwohl er ihr die Blume hinhält. Da erkennt er, daß das Mädchen blind ist. Er kauft die Blume und entfernt sich.

Um sich zu überzeugen, ob er sich nicht getäuscht hat, schleicht er nochmals hin . . .

»Nein, nein, er schleicht nicht.«

Er kommt das zweitemal sehr rasch, als ob er vorbeieile, bleibt aber stehen, indem er, auf der Stelle gehend, den Schall seiner Schritte allmählich abdämpft. Dann kehrt er, leise, auf den Zehenspitzen zurück und setzt sich neben das Mädel. Das hat eben die Blumen besprengt und schüttet den Eimer aus – Chaplin ins Gesicht. Er schleicht sich weg und kommt ein drittes Mal. Kauft wieder eine Blume. Die Kleine will sie ihm anstecken und fühlt dabei in seinem Knopfloch die ihm vorher verkaufte Blume. Sie erfährt so, daß der Mann ihretwegen zurückkam. Chaplin bedeutet ihr, das andere Knopfloch sei noch frei, aber sie erwidert, man könne nicht in beiden Knopflöchern Blumen tragen. Da bittet er sie, die Blume zu behalten. Sie befestigt die Blume an ihrem Busen . . . ». . . und . . .«

. . . sie ist verliebt!

»In wen?«

In Chaplin!

»Teufel, Teufel!«

??

»Geht nicht jemand vorbei?«

Nicht, daß ich wüßte.

»Teufel, Teufel! Haben Sie nicht wieder ein Auto bemerkt und wieder einen Herrn?«

Nein.

»Und Sie, Upton?«

Nichts bemerkt.

Verzweifelt vergräbt Chaplin sein Gesicht in den Händen, ein Bild des Jammers auf schwarzledernem Hintergrund. Auch die Mitarbeiter sind traurig. Was aber ist geschehen? Wo steckt das Unglück, wenn ich, ein hergelaufener Fremder, einen gag, einen Einfall, nicht verstehe?!

Oh, es ist mehr als ein gag, es ist die Grundidee des Films, die, absolut unklar, unter den Tisch gefallen ist – nichts Geringeres als das geht aus meiner Nacherzählung hervor. Die Straße ist eine elegante Straße, versinnbildlicht durch den ersten Käufer und seine Dame. Den aus dem Auto steigenden Herrn hält die Blumenverkäuferin für den, der die Blume kauft und ihretwegen zurückkehrt. Das Auto – wir haben das gar nicht beachtet – hat während der ganzen Szene an der Straßenecke gehalten.

Gerade als die Blinde auf Wunsch Chaplins die zweite Blume selbst ansteckt, kommt der Herr zurück und steigt ins Auto. Ihm, dem reichen Mann mit dem Wagen, gilt die erwachende Liebe. Und Chaplin soll diesen Irrtum jetzt merken und den ganzen Film hindurch die Rolle des reichen Verehrers durchführen, das Geld stehlen, das sie zur operativen Heilung ihrer Blindheit braucht, es beim Arzt erlegen, arretiert werden und das Mädchen nach abgebüßter Haft wiedersehen. Und das Mädchen wird ihn zum erstenmal sehen und – auslachen, da es nicht ahnt, wer er ist, und da er so komisch aussieht, wie Chaplin eben aussieht . . .

Aber wenn das Publikum das tragische Quiproquo nicht blitzartig begreift, die Erschütterung Chaplins, das Fühlbarwerden seiner Bettelarmut und den Augenblicksentschluß zu Hochstapelei und Diebstahl um dieser Verwechslung willen, um seiner Liebe willen, um ihrer Liebe willen – wenn das Publikum all das nicht elementar erfaßt, so ist alles verloren.

»Wir müssen das Ganze von neuem drehen«, sagt Chaplin.

Und nun beginnt die ernste, schwere, qualvolle Arbeit der Dramaturgie und der Regie zu diesem Detail, die fast acht Tage dauert, und selbst im Übermut der Nächte unterbrach Charlie plötzlich die Stimmung: »Wie wär's, wenn wir das mit dem Blumenmädchen so machen würden . . .«

Bücher sind über Schauspieler, über Mimiker, über Regisseure, über dramatische Volkskunst geschrieben worden; warum hat noch niemand den Versuch unternommen, Charlie Chaplin, dessen Wirkung in der Bühnengeschichte nicht ihresgleichen hat, der eine Legendenfigur: eben Charlie Chaplin dichtete, inszenierte und darstellte, bei seiner Arbeit festzuhalten, sei es durch Stenogramm oder durch Diktaphon?

Acht Tage lang wurde die Szene probiert, jeder von uns war unzähligemal das Blumenmädchen (am seltensten Virginia Cherril, die sie spielen wird), jeder von uns war der Herr aus dem Auto, jeder von uns der Chauffeur, der den Wagenschlag öffnet, aber Charlie Chaplin war immer Charlie Chaplin, zu jedem Versuch eines Versuchs gab er sich her, hoffnungsvoll-hoffnungslos.

»Wie wär's, wenn . . .« So beginnt es immer. Einer springt auf, seines Einfalls voll, und postiert die anderen.

Die dramaturgische Unmöglichkeit der Anfangssituation ist bald festgestellt: die Tatsache, daß die Kleine Chaplin für den aus dem Auto steigenden Herrn hält, kann der Zuschauer keineswegs erfassen, weiß er ja noch nicht, daß sie blind ist. Also sollte man ihre Blindheit vorher zeigen. Das lehnt Chaplin ab, die tragische Entdeckung muß er mit dem Publikum gleichzeitig machen.

Könnte man die Autoszene so eindringlich gestalten, daß die Zuschauer sich wenigstens später daran erinnern? Wie wär's . . . Der Herr steigt aus dem Auto und sagt (Titel): »Chauffeur, warten Sie hier.« Chaplin schließt höflich die Wagentür des Fremden, das Mädchen macht eine paar Schritte zum Auto . . .

Oder so: der Herr geht hinter Chaplin in gleichem Schritt, bleibt stehen und zündet sich eine Zigarette an, so daß Chaplin die dem Fremden entgegengestreckte Blume auf sich bezieht.

Sollte der Mann mit dem Auto nicht etwas weniger indifferent sein, etwa ein auffallend hübscher junger Mensch, der übermütig aus dem Wagen springt? Zwar sieht ihn die Kleine nicht, aber das Publikum sieht ihn doch und merkt: der da ist sicherlich wichtig für das Mädchen! Die Leute hätten so vor Augen, was die Illusion der Blinden ist.

Wie wär's, wenn das schon als blind erkannte Mädchen zu Chaplin mit Bezug auf die zweite Blume sagen würde (Titel): »Geben Sie sie Ihrem Chauffeur.«

Wir wär's, wenn Chaplin dem Herrn in den Wagen helfen würde, und die Verkäuferin versuchte, ihm die zweite Blume durchs Fenster zu reichen, aber sie stößt an die Glasscheibe, und es ist gar nicht das Fenster, sondern die geöffnete Autotür, hinter der Chaplin steht.

»Wunderbar, wunderbar«, ruft Chaplin und probt das. Es ist wirklich wunderbar, wie er das spielt, aber plötzlich springt er auf seinen Lehnstuhl und sinkt da zusammen. »Es geht nicht. Ich kann doch nicht einen Lakaien abgeben, wenn mich eine Minute vorher die Blindheit der Kleinen erschüttert hat und ich mich in sie verliebt habe.«

Wie wär's, wenn der Mann sagt: »Chauffeur, nach Hause« oder »Ins Ritz-Carlton«, und das Mädchen sieht sich an seiner Seite in einem prunkvollen Palast oder in der Halle des Hotels . . .: »Um Gottes willen, nur keine Vision!«

Wie wär's, wenn die Blinde, gleichsam durch Chaplin hindurch, gleichsam durch die Luft dem Auto nachsehen würde …: Und Chaplin bemerkt plötzlich, daß sie ihn für den Reichen hält. Man müßte auch das Auto zeigen, wie es um die nächste Ecke biegt und dann noch um eine Ecke und wieder um eine Ecke. Und dazwischen das nachstarrende Blumenmädchen. Zwar kann kein Mensch ein Auto mehrfach einbiegen sehen, aber die Kleine ist doch blind, sie kann es . . .

So geht es, wie gesagt, tagelang. An dem Aufbau der Straßenecke, wo man mit dem Auto laborieren kann, oder oben im Bungalow, wo der Kriegsrat abgehalten wird, oder in der Garderobe oder vor dem großmächtigen Denkmal dreier allegorischer Figuren, dessen Zweck uns Chaplin so lange als Geheimnis zu bewahren bittet, bis dieses Denkmal und dieses Geheimnis vor allen Bewohnern aller Weltteile enthüllt werden wird.

Von jeder dieser Lokalitäten ließe sich eine Episode erzählen. Zum Beispiel aus der Garderobe, die eigentlich gar keine Garderobe ist, sondern der gesellschaftsfähigste Raum des ganzen Studios. Links ist ein mit Spiegel und Schminktisch ausgestattetes Kämmerchen, auf der anderen Seite das Badezimmer. Eines Nachmittags tranken wir Tee, als eine sehr berühmte Dame, die beste Freundin Chaplins, gemeldet wurde. Er ging ihr entgegen, und ich trat in den Seitenraum, um mich zu kämmen.

Vor dem Spiegel lag ein Kamm, weiß, aber nicht sehr rein: es stak ein Büschel ausgekämmter, dunkler Haare darin. Ich schob sie heraus, warf sie auf die Erde und brachte meine Frisur in Ordnung. Dabei fiel mir ein, man könnte auf dem blitzsauberen Parkett das kleine Haarbüschel sehen und erkennen, daß jemand unbefugt die Garderobe des Boß benutzt habe. Vielleicht waren die Härchen sogar zu einem bestimmten Zweck da? So hob ich sie auf und legte sie wieder auf den Kamm.

Harry Crocker kam herein, um sich auch ein bißchen schön zu machen. »Sehen Sie«, sagte er und zeigte auf das schwarze Etwas, das wieder auf dem weißen Kamm war, »das ist der Schnurrbart. Er hat ihn schon fünfzehn Jahre, immer denselben, ein New Yorker Theaterfriseur hat ihn dem Boß angepickt. Kein anderer Bart taugt etwas für monatelange Aufnahmen bei jeder Witterung. Und den New Yorker Friseur können wir nicht mehr ausfindig machen. Wenn der Bart kaputt ist, sagt Charlie, wird er glattrasiert weiterspielen.« Ich muß wohl bleich geworden sein. Kinder, denkt einmal an: Chaplin ohne sein Bärtchen – und ich wäre schuld.

Die Gespräche mit Chaplin drehten sich immer und immer wieder um die Einheit von ästhetischem und sozialem Zweck. Er, in dessen Werk diese Einheit sich verkörpert, er, der als ein »radical« und »bolshevik« gesellschaftlich fast geächtet ist, spricht immerfort Zweifel aus, vielleicht aus Gründen der Diskussion, vielleicht um von den Besuchern neue Argumente zu erhalten, vielleicht infiziert von der Atmosphäre Hollywoods. »Wenn alles so einfach wäre, wie wir es uns wünschen! Wie ist es mit Poe, meinem Lieblingsautor? Ich kann nirgends eine Spur von Liebe zu den Entrechteten in ihm entdecken – so leidenschaftlich ich auch suche. Und Shakespeare! Dieser unerträgliche Spott über den gemeinen Mann . . .

Hier wird das Gespräch stürmisch. Wir schreien auf ihn ein, die Könige habe Shakespeare noch mit ganz etwas anderem beschüttet als mit Spott, und Shakespeare sei Rebell gewesen gegen das absolute Königtum und für die nächste Gesellschaftsklasse, den Adel, er wollte also zeigen, daß Adel nicht Plebs sei . . .

»Nein, nein«, überschreit Chaplin uns, »Shakespeare ist homosexuell, die Homosexuellen sind, vielleicht wider Willen, eine Kaste, und jede Kaste denkt aristokratisch. Alle Männer bei Shakespeare sind verkleidete Frauen und alle Frauen verkleidete Männer. Julia liegt oben und Romeo unten, sie ist über die Balkonbrüstung gelehnt und doziert, er ist im Garten und girrt. Selbst die königlichen Greise sind Weiber, Lady Macbeth aber ist ein Mann, und Porzia zieht sogar die adäquate Kleidung an und erscheint als Anwalt vor Gericht. So wie Hamlet zu Ophelia spricht, so spricht kein Mann zu einer Frau, das ist keine Entladung, keine sexuelle Sublimation, das ist Verachtung, das ist obszön . . .

Und Chaplin spielt den Hamlet, spricht Shakespearesche Blankverse, die wie Peitschenhiebe auf eine Sklavin sausen. »Nein, nein, da ist kein soziales Fühlen, und es ist – dennoch Genie.«

(Es sei ihm hier das letzte Wort gegeben, obwohl er es keineswegs behielt.)

Wir sprachen oft über Filme, Charlie kennt keinen der russischen. (Hollywood!) Gestern war er im Kino und regt sich nun endlos darüber auf, daß die als Vorspiel gegebene Tanzvorführung einen wallenden silbernen Hintergrund hatte, der die Wirkung ruinierte.

Auch von seinen Filmen erzählt er Episoden. Die Affen im »Zirkus« hatten ihn fürchterlich zerkratzt, und sechs Wochen lang mußte er in ärztlicher Behandlung bleiben. Noch jetzt sind zwei Wunden zu sehen.

Und das Gebrüll der Affenbesitzer. Die Affen haben nämlich vier verschiedenen Extras gehört, und jeder hielt den seinen für die Hauptperson. »Dreh den Apparat nach unten«, schrie einer dem Kino-Operateur zu, »du siehst doch, daß Jonny auf der Erde ist.« Der andere: »Jetzt, jetzt! Mungo wendet das Gesicht herüber.« Charlie spielt die Szene: vier Affen, vier Bändiger, sich selbst und den Kameramann.

»Nächte einer schönen Frau« war kein Erfolg. Was ich, Mr. Kisch, von »Shoulder the Arms« halte? Ich kenne den Film nicht, er durfte in Deutschland nicht gespielt werden.

»Und in Amerika darf er jetzt nicht gespielt werden, weil Hindenburg darin vorkommt, der Präsident eines befreundeten Staates. Dabei ist er gar nicht verspottet, nicht einmal der Kaiser und der Kronprinz! Ich habe die Hetzerei nicht eine Sekunde lang mitgemacht, niemanden habe ich karikiert, nur einen preußischen Offizier, der mit den preußischen Soldaten schlecht umspringt. Und da ich ihn verprügle, kommen die deutschen Soldaten und schütteln mir dankbar die Hände. Das war den Militaristen nicht recht: ein amerikanischer Soldat, der mit den ›Hunnen‹ Händedrücke tauscht! Ich bin sehr stolz auf diesen Film, inmitten der wahnsinnigsten Kriegspsychose ist er entstanden und zeigt den ganzen Unfug und die Schrecken des Krieges. Es ist ein revolutionärer Film – nein, nicht pazifistisch, revolutionär angesichts der Zeit. Sie müssen ihn sehen, Sie müssen ihn sofort sehen.«

Er wirft das Bambusstäbchen und das Hütchen hin, läuft in den Vorführungsraum. Nun sitze ich dort, wo ich vor einigen Tagen bei dem Fragment von »City Lights« neben einem saß, der mir Beifallsäußerungen verbot. Heute sitzt einer neben mir, der mich immerfort am Knie packt und mich in die Schulter stößt. »Passen Sie jetzt gut auf – jetzt kommt eine feine Szene.« Du Pferd an meiner Linken, stoß mich nicht, wer braucht mir bei einem Chaplin-Film den Rat zu geben, gut aufzupassen!

»Sehen Sie, das hat man mir auch verübelt, daß ich einen stinkenden Käse als amerikanische Liebesgabe ankommen lasse. Und daß der Unterstand überschwemmt ist . . .« (Der Soldat Chaplin legt sich ins Wasser, nimmt aber einen Schalltrichter vor den Mund, um nicht zu ertrinken. Frühmorgens zieht er die eingeschlafenen Füße aus dem Wasser und reibt sie, bis er bemerkt, daß es die seiner beiden Nachbarn sind.)

»Die Szene da« (Chaplin ist als Baum verkleidet hinter den deutschen Linien) »haben wir im Freien gemacht. Kein Double konnte mich vertreten, in einer mörderischen Hitze mußten wir herumjagen, bis ich zusammenbrach. Sehen Sie den Dicken? Kennen Sie ihn?« Ja, ich erkenne ihn, es ist Bergmann-ur, er sitzt friedlich vor mir und gedenkt der Hetzjagd hinter einem fliehenden Baum in mörderischer Hitze.

»Sehen Sie . . .? Sehen Sie . . .«

Um des Teufels willen: ja, ich sehe. Sehe alles, stören Sie mich nicht!

Aber dann kommt eine Stelle, schöner als Gorkis Novelle von der alten Dirne, die sich von einem Schreiber Briefe an einen erfundenen Geliebten verfassen läßt.

Die Feldpost hat dem Soldaten Chaplin zu seiner Enttäuschung nichts gebracht, nicht einmal eine Karte. So begnügt er sich damit, einem Kameraden über die Schulter zu schauen, der einen Brief aus der Heimat liest. Chaplin nickt befriedigt, denn er erfährt, daß es zu Hause allen gut geht. Chaplin lacht über die Bemerkungen, die die beiden Kinder gemacht haben. Die braune scheckige Kuh aber ist vor acht Tagen krank geworden und gestorben. Chaplin weint über die braune scheckige Kuh, und seine Tränen fallen auf den Nacken dessen, den der Brief angeht.

Der dreht sich wütend um, und Chaplin zuckt chaplinisch die Achseln, er watschelt schuldbeladen davon, denn er hatte kein Recht auf diese Freude und dieses Leid . . .

Da lege ich meinem Nachbarn die Hand aufs Knie.

 


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