Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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In einem Theater, das erschossen wurde

An diesem dreistöckigen grauen Hause, 10. Straße, Washington, ist keine Glocke.

Ich klopfe ans Tor, nichts rührt sich.

Zum zweiten Male klopfe ich. Ein Mann macht mir auf.

»Ich möchte das Haus besichtigen.« – »Da ist nichts zu sehen.« – »Nun, so möchte ich das Nichts sehn.« – »Go in.«

Da ist wirklich nichts zu sehen. Ein leerer Speicher mit drei Galerien rund um die Wände. Ein Warenaufzug mitten im Raum. Eine kleine Nebenkammer mit eingebauten Waschschüsseln. (Im Krieg hat hier eine Militärbehörde amtiert.)

Der alte Pförtner ruft mir zu: »Dort, wo Sie stehen, war die Bühne, rechts oben die Loge.«

 

Das Stück, das für heute, den 14. April 1865, angesetzt wurde, ist Tom Taylors exzentrische Komödie »Unser Vetter aus Amerika«.

Auf den schmalen Plakaten des Ford-Theatre an den Straßenecken steht zu lesen, daß es als Benefiz- und Abschiedsvorstellung der exzellenten Direktorin, Dramatikerin und Schauspielerin Laura Keene in Szene geht. Sie wird die Rolle der Florence Trenchard spielen.

Hohe Ehre ist der Benefiziantin widerfahren. Abraham Lincoln, der Präsident, erscheint in der Loge (rechts oben) mit seiner Frau.

Er kann sich zum erstenmal eine Zerstreuung leisten. Mit dem heutigen Tag ist der furchtbare Krieg zwischen Nord und Süd zu Ende, die Niederlage der Sklavenhändler besiegelt.

Vor einer Woche ist die Armee der Konföderierten zu General Grant übergegangen, und heute ist der letzte Zwischenfall, ein Flaggenstreit auf Fort Sumter, erledigt worden. Es gibt keine Sezessionisten mehr und wird niemals mehr welche geben.

Es gibt keinen Kauf schwarzer Menschen mehr und wird keinen mehr geben. Die Inserate und Preislisten und Geschäftskarten der Sklavenhändler mit Angabe des Alters, des Handwerks, der Fähigkeit und des Preises werden der Geschichte angehören. Kein Schiff wird mehr nach Amerika segeln, auf dem »Schwarzes Elfenbein« verfrachtet ist, geraubte und gefesselte Männer, Frauen und Kinder aus Afrika. Plakate mit der Ausschreibung eines Preises von hundert Dollar für die Einbringung des geflüchteten Sklaven Baptist N. werden nicht mehr affichiert werden; nie mehr wird ein Farmer diese hundert Dollar und die Druckkosten der Anzeigen opfern, um einen entflohenen Sklaven wiederzukriegen und vor den entsetzten anderen teeren und federn zu können.

Das ist Abraham Lincolns Werk. Er setzt sich in die Loge, rechts oberhalb der Bühne; um die Balustrade der Loge ist ein Sternenbanner geschlungen.

Das Stück beginnt, es ist lustig und bringt auf andere Gedanken.

Im zweiten Akt, zwanzig Minuten nach zehn Uhr, ertönt ein Schuß.

Bevor man noch weiß, was geschehen ist, schwingt sich ein Mann über die Brüstung der Präsidentenloge, will auf die Bühne hinabspringen, sein gespornter Stiefel verfängt sich in dem Sternenbanner, und der Mann fällt mit einem Aufschrei vor die Soffitten, hierher, wo ich jetzt stehe. Er hat sich den Fuß gebrochen.

Jemand aus dem Publikum versucht, die Bühnenrampe zu erklimmen, um den Täter festzuhalten, aber der richtet sich auf, hebt einen Dolch – merkwürdigerweise nicht den Revolver –, und niemand wagt, sich ihm zu nähern. Ungehindert humpelt er über die leer gewordene Bühne rechts ab. Vor dem Bühnenausgang steht ein Pferd, auf dem er in die Dunkelheit davonjagt.

Abraham Lincoln ist blutend seiner Frau in die Arme gesunken. Er hat einen Schuß im Hinterkopf. Der Täter hatte – dort oben rechts – die Logentür geöffnet und aus unmittelbarer Nähe gefeuert. Man hebt den Präsidenten auf und will ihn ins Weiße Haus tragen.

Der Vorhang fällt. Ein Mann, der im Verdacht steht, das Reitpferd gehalten zu haben, wird festgenommen. Ebenso einige Leute, die knapp an der Präsidentenloge Galerieplätze innehatten, wie der Attentäter auch. Man fragt sie im Polizeibüro nach ihren Wohnungen, nach ihrer Herkunft, nach ihrem Verkehr.

Die Bahre mit dem Präsidenten hat kaum das Theater verlassen, als er das Bewußtsein verliert. Die Ärzte erklären, den Transport ins Weiße Haus könne Lincoln nicht überleben. Deshalb schafft man ihn ins gegenüberliegende Haus der Frau Petterson, wo man ihn im Erdgeschoß auf ein Bett legt.

Nachforschungen setzen ein, Verfolgungen aller, die der Sympathie mit den Südstaaten verdächtig sind. Zur gleichen Stunde, da das Attentat erfolgte, war an Lincolns Sekretär Seward, während er krank zu Bett lag, ein Mord versucht worden.

Man erfährt, wo der Präsidenten-Attentäter gewohnt hat – Nachbarn erkannten im Rampenlicht den fremden Mieter von Mrs. Mary Surrat. Sie und einige ihrer Freunde werden verhaftet.

Der Täter heißt John Wilkes Booth und ist Schauspieler. Sein Vater, der sich übrigens als unbeteiligt erweist, trägt die Vornamen »Junius Brutus«, des Tyrannenmörders, was zur Zeit der Großen Revolution häufig vorkam.

Die ganze Nacht umstehen die Ärzte das Lager Lincolns. Morgens nach sieben Uhr stirbt er.

Washingtons Garnison jagt nach dem Attentäter. Es wird eruiert, Booth habe seinen gebrochenen Fuß von Dr. Samuel Wudd verbinden lassen und in einer Fähre den Potomac übersetzt.

Vier Tage später umzingelt man das Versteck des Flüchtigen in einem Gehölz. Er soll gegen die Soldaten geschossen haben, worauf sie das Feuer erwiderten. Da sie sich ihm nähern, atmet er, schwerverwundet, sein Leben aus. »Bringt meiner Mutter meinen letzten Gruß. Was ich getan, tat ich fürs Vaterland, und ich glaube, es war eine gute Tat.«

Einige Tage vorher verübt, hätte sie das Kriegsglück zugunsten der Konföderierten wandeln können. Aber wer weiß, ob es dem Attentäter darauf ankam, vielleicht war er einer von jenen, die der Haßpropaganda des Krieges glauben und sich nicht damit abfinden können, daß der Todfeind von gestern als der Bundesgenosse von heute proklamiert wird.

Am 7. Juli 1865 werden als Booth' Mitschuldige Mrs. Mary Surrat, Lewis Payne, David Herold und Geo Atzerot in Washington gehängt. Den Arzt Wudd verurteilt man für seine Hilfeleistung zu lebenslänglichem Kerker; der Fährmann, der keine Ahnung davon hatte, wen er übersetzte, stirbt im Kerker. Wudd wird nach vier Jahren von Andrew Johnson begnadigt, der zur Zeit Lincolns Vizepräsident gewesen. (Gerüchte behaupteten, Johnson habe die Mörder gedungen, um Bundespräsident zu werden. Aber nicht deshalb, sondern wegen nachgewiesener Betrügereien machte man ihm später den Prozeß.)

Das Sternenbanner, das (hier oben rechts) den flüchtenden Attentäter zu fassen versuchte und verletzte, wird als Trophäe im Schatzamt aufbewahrt. Im Hause, wo Lincoln starb, ist ein kleines Museum mit Bildern und Zeitungsausschnitten von der Tat und von der Hinrichtung. Und da es nun schon einmal auf Präsidentenmord spezialisiert ist, so sind auch Bilder vom Präsidenten James Abram Garfield hier ausgestellt, den am 2. Juli 1881 der New Yorker Rechtsanwalt Charles Guiteau erschoß, weil Garfield dessen Ernennung zum Konsul in Marseille nicht unterschreiben wollte, und des Präsidenten McKinley, der 1901 auf der Panamerikanischen Ausstellung in Buffalo von dem Anarchisten Leo Czolgosz getötet wurde. Dort, wo Lincolns Totenbett stand, sind Porträts, Totenmaske, Gedenkmünzen und Reliquien Lincolns und Andenken an die Zeit aufbewahrt, da die Sklaven keinen Lohn bekamen.

Der Leichnam von John Wilkes Booth wurde einige Jahre später auf Wunsch seiner Angehörigen exhumiert und in der Familiengruft auf dem Green Mount Cemetery in Baltimore begraben.

 

Hier, wo ein Schuß das Leben eines Theaters erledigte, ist gar nichts zu sehen. Rechts oben war die Loge, links unten die Bühne.

 


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