Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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»Tolle Kiste«

»Tolle Kiste

Und wir, an sich nicht geneigt, jede hingebrummte Bemerkung des Doktor Becker einem Evangelium gleichzusetzen, wir können nicht umhin, der obig hingebrummten Bemerkung des Doktor Becker diesmal vollkommen recht zu geben.

Es ist eine tolle Kiste!

Schon das Schiff, auf dem wir uns befinden . . ., nein, schon die Landungsbrücke, von der aus wir es betraten. Sie sieht aus wie eine Triumphpforte mit drei Bogen. Zwei dienen den Fußgängern und der mittlere den Lastwagen, Automobilen, Motorrädern und sonstigem Gefährt. Alle fünfzehn Minuten, da sich die Schiebetür der Station South Ferry elektrisch öffnet, strömen Automobile und andere Fahrzeuge durch die mittlere Wölbung und zweitausend Fußgänger teils auf die obere Plattform dieses Brandenburger Tores, teils in die beiden Seitenbogen. Zukünftige Passagiere. Sie stehen über dem Wasser. Ginge die vorderste Reihe einen Schritt weiter, sie fiele ins Meer. Jawohl, ins Meer, in den Atlantischen Ozean, denn der Hudson und der East River haben bereits gemündet.

Diesen Schritt können die an der Tete allerdings nicht machen, ein Gitter verwehrt ihn. Erst wenn es sich hebt, bewegen sich die drängenden Menschenreihen nach vorne. Sie fallen hierbei nicht in die Bai, sondern sind auf dem eben anlegenden Schiff, dessen unteres Deck die Durchgangsbogen und dessen Oberdeck die Plattform der Pforte genau verlängert. Das erste Auto fährt vom Heck bis zum Bug, die anderen Fahrzeuge hinterdrein, die erste Menschenreihe schiebt sich vom Heck zum Bug, die anderen Menschenreihen hinterdrein.

»Vom Heck zum Bug?« Unsinn! Weder Heck noch Bug sind vorhanden. Nur der Schiffsrumpf, um Menschen aufzunehmen für ein Fährgeld von fünf Cent per Person, von fünfunddreißig Cent per Wagen. Der Schiffsrumpf hat demnach eine Daseinsberechtigung. Aber wozu Spitzen vorne und hinten? Weg damit. So. Es bleibt ein prismatischer Hohlkörper, seine Basis schiebt sich haarscharf an das Parterre der Landungsbrücke, seine Decke an deren oberes Stockwerk. (Drüben auf der Landungsseite klappt es ebenso, man braucht nicht einmal zu wenden.)

Kein Schiff also, sondern eine Kiste. Und zwar eine tolle Kiste, um die eingangs hingemurmelte Charakterisierung des Doktor Becker zu plagiieren.

Stellen Sie sich einen Straßenbahnwagen vor, der durch keine Straße fährt, keine Bahn ist und kein Wagen und auch sonst nichts mit einem Straßenbahnwagen gemein hat. Haben Sie? So, und jetzt multiplizieren Sie ihn mit fünfzig. Haben Sie? Nun wissen Sie, wie die New Yorker Fähren aussehen.

Von Manhattan, wo etwa fünf Millionen Menschen Tagesarbeit oder Nachtarbeit leisten, fahren sie alle Viertelstunden nach den Nachbarinseln oder aufs Festland hinüber, nach Hoboen und Jersey City und Weehawken, nach Staten Island, kurzum nach all den Schlafstuben von New York.

Um halb neun Uhr morgens und um halb sechs Uhr abends ergießt sich der Strom des Schichtwechsels in die Fährboote, deren jedes laut affichiertem Dokument einen Fassungsraum von 1600 Personen hat, aber um diese Zeit zweitausend aufnimmt, damit möglichst viele vor der erbarmungslosen Kontrolluhr in den Betrieben gerettet werden.

Die tolle Kiste, die nach fünf Uhr nachmittags von South Ferry abstößt, schafft die commuters, die außerhalb Manhattans lebenden Arbeitsmenschen Manhattans, nach Staten Island. Alle Viertelstunden zweitausend Passagiere, neun Knoten Geschwindigkeit.

Wenn man zum Ufer zurückschaut, sieht man zuerst die Frontseite der zweistöckigen Landungsbrücke: sie gleicht jetzt nicht mehr dem Brandenburger Tor, sondern dem grellen Portal eines Riesenzirkus.

Dahinter die Wolkenkratzer. Je weiter sich das Schiff vom Ufer entfernt, desto mehr ihrer Gipfel treten in das Gesichtsfeld, desto schärfer rücken sie zusammen, ein Felsenmassiv bildend; als erratische Blöcke ragen abseits das Whitehall-Gebäude und das der Telefongesellschaft in die Luft. Es ist noch heller Dämmer, in der Abendsonne glitzern die Fenster wie Kristallschiefer oder wie Gletscher in Alpenhöhen. Vielleicht hat sich die hingebrummte Bemerkung des Doktor Becker, »tolle Kiste«, auf dieses Übereinanderschichten von riesenhaften Paketen bezogen.

Die Südspitze von Manhattan, die zweifellos ungeheuerlichste Landschaft von Menschenhand, im Kielwasser lassend, fährt die Straßenbahn weiter über das Meer. Hinter den Glasscheiben stehen oder sitzen Männer, reihenweise zugedeckt mit einer langen Leinwand – nein, es ist nur ein Zeitungsblatt, das jeder vor sich hält und das sich lückenlos an das des Nachbars fügt, wie das Schiffsdeck an die Landungsbrücke. Alle lesen Berichte über Rennen und Wettspiele, bei denen sie nicht waren, über Gesellschaftsempfänge bei Lady Sowieso, zu denen sie nie eingeladen werden, über neue Theaterstücke, die sie nicht besuchen können, über Börsenkurse und Aktiengesellschaften, von denen sie ebensowenig etwas haben wie von den Verdiensten des Unternehmens, für das sie arbeiten.

Die Mädchen sind anders als tagsüber in der Untergrundbahn. Dort saßen sie munteren Blickes mit übergeschlagenen Beinen und freuten sich ihrer Wirkung auf die Männerwelt. Hier aber sind sie zusammengesunken, der Kopf auf die Brust gepreßt, die Unterlippe hängt häßlich herab.

Schuhputzer pendeln auf jedem Fährboot zwischen City und Vorstadt, über die Hände Stiefelbürsten gespannt, einen Schemel unter dem Arm.

Ihr Kalkül ist richtig: wenn der Amerikaner schon stillsitzen muß, nichts weiter tun kann als Gummi kauen und aufgebauschte Zeitungssensationen studieren, so will er wenigstens die Zeit dazu verwenden, sich die Schuhe reinigen zu lassen.

Nur während des evening rush machen die Männer mit den Bürsten und dem Schemel schlechte Geschäfte – wer zur Nachtarbeit fährt oder ins Bett, braucht kein gewichstes Schuhwerk, vergeblich locken ihn die Rufe: »Shine them up? Polish?«

Hart an dem flüssigen Schienenstrang der Fähren, nahe von Staten Island klingen Glocken. Bojen sind es, die da läuten, Sterbeglocke und Warnungssignal zugleich. Es schwingen Tag und Nacht die Wellen den Klöppel, unter ihm liegen die Wracks eines schwedischen Passagierdampfers und eines gerammten Frachtkahns. Bim, bam, du New Yorker Schiff, das über Leichen schreitet, gib acht, verstauche dir nicht den Fuß.

Hinter den Glockenbojen schlüpft die Fähre in eine schwimmende Remise, den slip. Einem Billardball gleich klatscht das Fahrzeug an das geflochtene Mantinell und karamboliert nun mit der Landungsbrücke knapp und so leicht, daß es »press« stehenbleibt.

Dies ist der Augenblick des Anlegens. Wie aus einer Gießkanne spritzt alles auseinander. In der Mitte jagen die Autos vor, von oben und unten, nach rechts und links sausen Strahlen von Menschen zur festländischen Straßenbahn, zu den Autobussen, zu den Bahnhöfen.

Geleert ist die tolle Kiste, um sich mit neuen Zweitausend zu füllen, die den umgekehrten Weg machen.

Es ist ganz genau derselbe Weg, und er führt ganz genau zum früheren Abfahrtspunkt, aber es ist ein ganz anderer Weg, und der Abfahrtspunkt hat sich verändert. Denn die Dunkelheit ist angebrochen – New Yorker Dunkelheit!

Aufgeflammt sind die Lichtreklamen. Colgate meldet die Zeit auf rotem, brennendem Zifferblatt, Squibb squibbt »Magnesia-Milk«, das ein Abführmittel ist und eine Panazee zugleich, ein Scheinwerfer, den Passagieren der Überseeschiffe ins Gesicht fallend, läßt nach seinem Ursprung lugen: Hotel St. George.

Die feurigen Straßenkämpfe, ausgetragen zwischen Zahnpasta und Zahnpulver, zwischen Kaugummi und Konfekt, zwischen Rasierseife und Rasiercreme, der Bürgerkrieg der Zigarettensorten untereinander – hier setzt sich das als Seeschlacht fort.

Was aus der Nähe ein bedrohliches Felseneiland war, ist jetzt ein phantastisches Juwel, hängend an doppelter Perlenkette: den beleuchteten Brücken nach Brooklyn. Ein Familienschmuck mit schwarzen Partien, mit einem flammenden Brillanten in der Mitte, von dem wir wissen, daß er die Spitze des Woolworth-Turmes ist, mit den zwei Saphiren der Standard Oil, mit dem Rubin von Equitable-Trust; und von diesem Schmuck baumelt ein schwarzer Diamant, dessen Facetten glänzen, der Wolkenkratzer der Telefongesellschaft.

Und wär das alles wirklich ein Schmuck aus Perlen und Demanten und ebenso groß wie diese Gebäude – er wäre noch immer nicht so teuer wie diese Schatulle aus Beton, welcher möglicherweise der vom Doktor Becker gebrauchte Ausdruck »tolle Kiste« gegolten hat.

 


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