Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Mummenschanz und Quäkerstadt

Die Neujahrsparade, einen Maskenzug von fünfzehntausend Personen, zu sehen stand die Bewohnerschaft Philadelphias Spalier von elf Uhr morgens bis halb fünf. Stand? Sie hing auf den Kandelabern. Sie klammerte sich an das Bronzemonument des Warenhausgründers Wanamaker (wann, zum Teufel, werden Tietz und Wertheim endlich ihre Reiterstandbilder in Berlin bekommen?) und der anderen großen Amerikaner. Sie hockte halsbrecherisch und unzüchtig in den Fenstern. Sie balancierte auf Fruchtkisten. Sie saß auf grobgezimmerten Estraden, unter deren Brettern Menschen gingen.

Die Tauben vor City Hall bekamen reichlich Erdnüsse zu picken. Um zwei Uhr, von einer lebensgefährlichen Bewegung der Massen, durch den aus den Wolkenkratzern niedergehenden Wolkenbruch von Papierfetzen mit Angst erfüllt, schwirrten die Tauben von dannen.

Es kam der Fastnachtszug. Zweieinhalb Stunden lang, zweieinhalb Tage langweilig. Neugierig sich die Hälse ausreckend, aber weder angeregt noch amüsiert, sah die Menge auf tänzelnde Männer in roten Perücken und Negermasken, auf Schalksnarren mit Schelle und Pritsche, auf rotbemalte Indianer im Federschmuck, auf Phantasiegestalten mit bunten Kopfgestellen à la Haller-Revue, auf Kinder in Biedermeierkleidern, gemeinsam einen Stern bildend, auf girlandengezierte Wagen.

Sich auf eine Obstkiste zu stellen kostete einen Quarter, auf eine Baumwollkiste fünfzig Cent, der Tribünenplatz einen Dollar. Je höher, desto teurer.

Ganz hoch, allerhöchst, auf dem Glockenturm des Rathauses, stand, die Hand leicht von sich gestreckt, William Penn. Er hat die Stadt gegründet mit einer kleinen Schar eingewanderter Quäker. In England waren sie verfolgt worden, weil sie sich allem Mummenschanz widersetzt hatten, dem des Hofes, dem des Heeres und dem der Kirche.

Der steinerne William Penn streckt die Hand von sich. Segnend oder abwehrend?

 

Noch immer führt Philadelphia den Beinamen »Quaker City«, obwohl die Gründer der Stadt in verschwindende Minderheit geraten sind. In der ganzen Welt gibt es nur hundertfünfzigtausend Quäker.

Vor nicht allzu langer Zeit sah man sie noch in ihrer alten Tracht, würdig und freundlich, durch die Straßen gehen. Jetzt gehen sie auch durch die Straßen, aber sie sind nicht mehr von den anderen Passanten zu unterscheiden.

Man muß sie aufsuchen, wenn man sie kennenlernen will. Sie haben in Philadelphia fünf oder sechs Kirchen – nein, sie haben keine Kirchen, sie sind gegen Kirchen und Gebetstuben, auch keinen Kirchhof oder Gottesacker haben sie, sondern nur »Meeting houses«, Versammlungshäuser, und »Burial grounds«, Beerdigungsplätze.

Ihr Sonntag ist der Firstday, mit dem die Numerierung der Wochentage beginnt, so daß ihr Mittwoch der Donnerstag der anderen ist. Die Worte »Januar«, »Februar« und so weiter verwenden sie nicht, sie zählen die Monate, wie sie fallen, sie halten die lateinischen Namen für überflüssigen Prunk.

Was ihnen ferner unbekannt ist, ist das förmliche »Sie«, obwohl die englische Gebrauchssprache kein Wort für »du« besitzt; die Quäker gebrauchen statt »you«, »your« und »yours« die Anreden »thou«, »thee« und »thy«.

Eine negative Sehenswürdigkeit: ihre Grabstätten. Kein Hügel, keine Kapelle, keine Gruft, kein Blumenbeet, kein Gitter. Auf leerer Wiese kleine weiße Steinplatten, kaum zehn Zentimeter aus dem Rasen hervorragend, sagen, hier ist ein Grab. Darauf die Anfangsbuchstaben des Namens, Geburts- und Todesjahr. Nicht Spruch noch Wunsch.

Durch das, was fehlt, ist auch die Andachtstube bemerkenswert. Es fehlen: Orgel, Chor, Kanzel, Podium und Pulte für Gesangbuch oder Gebetbuch, denn die Quäker lehnen Geistliche und Gesangbuch und Gebetbuch ab.

Reihen von gepolsterten Bänken sind in der Andachtstube und dichte englische Jalousien an den Fenstern.

Stumm sitzt die Gemeinde da während ihrer Zusammenkünfte, und jeder einzelne harret, daß der Herr mit ihm rede. So vergehen oft Stunden, bis einem erstrahlet das Innere Licht. Nun erhebet er sich und überbringet die göttliche Botschaft; von seinem Platz aus spricht er, ein Freund zu den Freunden. Nur »Freunde« gibt es, das Wort »Quaker« wird in der Gemeinde derjenigen nicht angewendet, die es bezeichnet.

Neben dem Saal dieser fast wortlosen Andachten ist ein Gesellschaftsraum mit Klavier und altenglischen Stichen aus dem Quäkerleben. Einer stellt vor, wie Freundin E. Frey den weiblichen Sträflingen von Newmarket die Lehre Gottes predigt, wobei die zerrauften wüsten Gefangenen sichtlich von Reue ergriffen sind, als hätten sie allesamt aus Liebe zur Sünde, aus Unkenntnis der Tugend oder aus Mutwillen das Verbrechen verübt, das sie in den Kerker brachte.

Auch George Fox (1624-1690) hängt stahlgestochen an der Wand. Sohn eines Webers, selbst aber Schafhirt und Schuhmacher, hat er 1648 in Nottinghamshire (England) die erste Gesellschaft der Freunde gegründet; sie hieß damals »Kinder des Lichtes«. Er verkündete, daß Gott direkt zu der menschlichen Seele spreche, die in gegenwärtiger, lebender Hingabe an ihn denkt. Und niemand vernehme das Wort des LORD, ohne zu erbeben, to quake.

Fox gewann großen Anhang im Volk, da er das Priestertum als überflüssig und schädlich bezeichnete, Taufe, Abendmahl und Kommunion als Firlefanz ablehnte (noch heute ist kein Quäker getauft), Kriege und Kriegsvorbereitungen verdammte, die Ablegung jedes Eides verbot und später der offiziellen Hochkirche den Zehent verweigerte. Vor allem aber, weil er – für die damalige Zeit eine wahrhaft revolutionäre Auffassung – die Frauen den Männern gleichstellte. Diese Bundesgenossenschaft der Frauen war es vornehmlich, die es den Quäkern ermöglichte, die Einkerkerung ihres Führers Fox und ihre jahrzehntelange Verfolgung durch den Hof und den Klerus zu überdauern.

Als William Penn, einer von Foxens Getreuen, den Entschluß faßte, mit seinen Brüdern in Christo aus England auszuwandern, wandte er sich an König Charles II. und verlangte in traulichem Du, »Freund Karl« möge ihm ein Kolonialgebiet zuweisen, und zwar als Bezahlung eines von der englischen Krone an Penns Vater, einen Admiral, ausgestellten Schuldscheines. Heilfroh, die unangenehme Gesellschaft loszuwerden, verlieh ihm der englische König die waldige Halbinsel zwischen Delaware und Schuylkill River, nannte das Land »Pennsylvania« und wünschte den Pennbrüdern sicherlich, sie mögen niemals wiederkehren.

Das taten sie auch nicht, sie lebten freundschaftlich mit den Indianern, wie Fox es ihnen ausdrücklich vorgeschrieben. Aber von den anderen Pionieren Amerikas wurden sie deshalb scharf angefeindet. In einer zeitgenössischen Protestnote wird als Beweis für eine zweifellose Sinnesverwirrung von William Penn angeführt, »daß er in dem Lande, das er als Bezahlung einer Kronschuld zu Lehen erhalten, mit den Indianern umgehe, als ob sie ein Recht oder einen Anspruch besäßen, die irgendeiner Beachtung wert wären«.

Zum Glück für Penns Sylvanien gab es dort noch Leute ohne einen derart »deranged mind«, und so wurden, wie in den übrigen Bundesstaaten, die Indianer samt und sonders geschlachtet. Auch gegen die Sklaverei hatte der Quäkerbund Stellung genommen. Auf seiner Tagung in Germantown, Pa., 1688, wurde der »Handel mit Menschenleibern« verdammt, und siebzig Jahre später verlangte in Philadelphia die Fraktion John Woolmans, daß jeder an Import, Kauf oder Verkauf von Sklaven beteiligte Quäker aus der Gemeinschaft ausgestoßen werde. Und wieder geraume Zeit hernach wurden auch diejenigen cum infamia chassiert, die sich weigerten, ihre Sklaven freizulassen.

Wie in der Frage der Rothäute sind sie auch in der der Schwarzhäute nicht allzu wirksam gewesen, denn fast zweihundert Jahre mußten seit jenem Protest von Germantown vergehen, bevor sich die Anhänger und die Gegner der Sklaverei entscheidend trafen. Im Weltkrieg haben die Quäker, die, long, long ago, die Bergpredigt wörtlich genommen, sich zu Widerstandslosigkeit und Brüderlichkeit bekannt hatten und nicht zum wenigsten wegen ihres prinzipiellen Pazifismus im Mutterland verfolgt waren, keinen Protest gegen das Blutvergießen erhoben.

Sie beschränkten sich darauf, den Opfern des Gemetzels nachträglich Linderung zu bringen. Bei der American Relief Administration, die während des Krieges die Hungerhilfe in Belgien, Frankreich, Rußland und Serbien und nach dem Waffenstillstand auch in Deutschland leistete, waren die Quäkergemeinden mit der Handhabung des Verteilungsapparates betraut. Es war eine großangelegte Wohltätigkeitsaktion, aber ach, eine Wohltätigkeitsaktion nur.

Der Amerikaner, über seinen eigenen Edelmut zu Tränen gerührt, brachte seine Sympathie jenen entgegen, denen er die Verantwortung für die richtige Verteilung seiner Spende überlassen. Indem er seine Vollzugsorgane pries, pries er sich selbst. Deshalb pries er die Quäker und ihren Herbert Hoover.

Und als selbiger für die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten kandidierte, setzte gegen ihn keine religiöse Kampagne ein. Obwohl es in den USA 18½ Millionen Katholiken gibt, riefen alle protestantischen Kanzeln Zeter und Mordio über Al Smith; als Katholik sei er nichts anderes denn ein Götzenanbeter und ein Schrittmacher des Papstes.

Gegen Hoover aber wurde kein Vorwurf des Heidentums und des Konkubinats erhoben, obschon er weder getauft ist noch das Sakrament der Ehe empfangen hat.

Denn die Quäker sind beliebt; die Tage, da sie die Leiden von Einkerkerung, Emigration und Denunziation ertragen mußten, sind längst vorbei, die Quäker treten nicht mehr gegen Gewalt und Unterdrückung auf, kein Amerikaner braucht bei Freund Hoover die sozialen Gefühle eines William Penn zu befürchten, die Quäker betätigen ihren Pazifismus, indem sie mit den herrschenden Gewalten in Frieden (pax, pacis) leben, sie tragen nicht mehr die ostentativ einfache Kleidung, sie verabscheuen den Mummenschanz nicht mehr –

– und es ist ihre Stadt, Penns Gründung, Philadelphia, Quaker City, durch die sich heute mehr als vier Stunden lang der Fastnachtszug bewegte mit tänzelnden, rotbefrackten Negermasken, mit klingelnd springenden Schalksnarren und Indianern im Federschmuck, mit Kindern und Erwachsenen in prunkvollen Phantasiekostümen.

 


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