Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Friedhof reicher Hunde

Nicht gelang es dem Doktor Becker, nach Pottersfield zu kommen, zum Armenfriedhof auf Hart's Island.

Er war schon ganz nah, auf der Halbinsel City Island, von wo ein Motorboot hinüberfährt. Das hatte einige Kisten mit Leichen geladen, als der Doktor an Bord gehen wollte.

Kalt war der Tag, und es goß.

Die beiden Wächter, sozusagen als Brückenkopf vorgeschoben, prüften des Doktor Becker Legitimation. Sie war von der Justizverwaltung des Staates New York für alle diesem untergeordneten Institutionen ausgestellt, und da zwei davon auf der Toteninsel sind, hätte gegen eine Überfahrt des Doktor Becker rechtens kaum etwas eingewendet werden können. Leider aber war der Erlaubnisschein vor einer Woche abgelaufen.

Vergeblich bemühte sich der Doktor Becker, den Vorposten begreiflich zu machen, daß er kein verdächtiger Eindringling sei. Und zu einem Friedhofsbesuch könne es unmöglich einer Spezialerlaubnis bedürfen, wer wird denn einem tot Begrabenen einen Kassiber zustecken, wer wird den Inwohnern eines Friedhofs zur Flucht behilflich sein wollen? Was, führte der Doktor Becker ferner aus, was, wenn ich der Hinterbliebene eines der drüben Bestatteten bin? – »Dann bekommen Sie eine amtliche Erlaubnis, sobald Sie den Verwandtschaftsgrad beweisen.« – Und wenn ich das Grab eines der vielen Unbekannten besuchen will? – »Dann müssen Sie in City Hall triftig erklären, welches Massengrab Sie aufsuchen wollen.«

Gewiß nicht aus Unfreundlichkeit verhinderten die beiden Wächter die Überfahrt. Im Gegenteil: sie ließen das Motorboot mit den eingesargten Leichen warten, bis der Doktor Becker sein Plädoyer beendet und ihre Antwort entgegengenommen, und sie stellten ihm sogar das Telefon zur Verfügung, damit er über das Wasser mit dem Verwalter der so wohlgeschützten Insel verhandle.

Diesem las der Doktor Becker mit feuriger Betonung den vom Department of Correction in Albany, der Hauptstadt des Bundesstaates New York, ergangenen Erlaß vor, dem zufolge dem Doktor Becker der Permiß ausgefertigt worden war, insbesondere die Stellen, in denen er (wenn auch nicht unter dem Namen »Doktor Becker«, dessen er sich auf dem amerikanischen Festland nicht mehr ausschließlich bediente) geradezu als die einzige publizistisch-soziologisch-kriminalistische Persönlichkeit der Alten Welt bezeichnet wurde (jede auch nur um einen Grad gemäßigtere Charakterisierung gilt in Amerika bereits als Beschimpfung). Und hier sollte doch begründet werden, warum man das allgemeine Besuchsverbot ausnahmsweise aufhebe:

»The visitation problem at this institution became so serious that it was necessary to issue a general order prohibiting all visitations. You can readily appreciate that we have had hundreds of requests but naturally the order had to be rigidly enforced. I could not conscientiously grant one the privilege and deny others. I, however, have established the precedent of granting a special courtesy permit to those actively engaged in criminological and allied sociological activities and I believe that Mr. Kisch could be properly classified under this group and with that interpretation I would be pleased to grant him the special permit of visiting . . .«

Das nützte alles nichts. Der Doktor Becker gewann nicht das andere Ufer, wohl aber den Eindruck, daß man ihm zwecks Besichtigung der Gefängnisanlagen die Überfahrt sicherlich bewilligt hätte. Nur den Besuch eines Friedhofs, »wo wirklich nicht das geringste zu sehen ist«, wollte man gerade einem als so prominent Gebrandmarkten verwehren.

Kurzum, der Doktor Becker entfernte sich vom Brückenkopf des Armenkirchhofs unverrichteterdinge und hätte die mißglückte Reportage überhaupt nicht oder bestenfalls erst niedergeschrieben, wenn er, an seinem Lebensabend mit der Abfassung seiner Memoiren beschäftigt, zu dem Kapitel »Mißglückte Reportagen« gekommen wäre.

 

Eines Tages, in der Villenvorstadt Hartsdale, verlockte ein offenes Portal, über dem »Canine Cemetery« stand, den Doktor Becker zum Eintritt in die Nekropole, die sich marmorn, bronzen und blumig einen sanften Hügel emporschwang.

Wieder goß es, und während ihn dieses Wetter an obgemeldete mißglückte Reportage erinnerte, bedauerte er, daß es regne, denn ein freundlicherer Tag mit Trauergästen an den zauberhaften Gräbern hätte den Gegensatz zwischen armen Hunden und reichen Hunden sinnfälliger hervortreten lassen. Bald hatte er dieses Bedauern vergessen – wahrhaftig, der Kontrast zu jedem Totenanger der Welt war groß genug.

Hartsdale ist der feudalste Hundefriedhof von Amerika, die Preise für Grabstellen sollen für gewöhnliche Sterbliche unerschwinglich sein. So ist er nicht überfüllt, obwohl ihn der smarte Tierfreund Dr. Samuel Johns schon 1896 errichtet hat. Man muß zugestehen, daß alle hier so liegen, wie sie gelebt haben: bequem.

Von den bekanntesten Bildhauern Amerikas wurden die Grabdenkmäler geschaffen, und ein Friedhofsbeamter zeigt dem Doktor Becker diejenigen Skulpturen, die über 80 000 Dollar gekostet haben. Das einzige ästhetische Kriterium ist – nicht nur für den Hundetotengräber – der Dollar.

Der Doktor Becker sieht sich die gemeißelten Dollars an. Büsten, lebensgroße Statuen, Hochreliefs und Basreliefs aus Marmor, Basalt und Bronze, alabasterne Rosenkränze und Arabesken, bemalte Medaillons, monumentale, mit Prunkketten eingesäumte Platten, ein steinerner Baum, gefällt vom unerbittlichen Schicksal. Überflüssig zu sagen, daß fast alle Porträts Hunde darstellen, seltener Katzen. Aus den Inschriften möchte der Doktor Becker die Verdienste und Eigenschaften erfahren, durch die man sich das Recht auf einen letzten Ruheplatz in diesem schönen Gebiet und auf ein ewiges Denkmal erwirbt.

Über Dolly steht nichts dergleichen auf ihrem Marmorobelisk. Nur zwei Daten: geboren 24. Oktober 1914, gestorben 6. Oktober 1918. Dennoch blickt der Doktor Becker lange auf diese Buchstaben und Ziffern. Nicht jeder, der um diese Zeit geboren wurde, nicht jeder, der um diese Zeit starb, hat ein Grab, geschweige denn ein solches wie das vierjährige Hündchen.

Cornelius Vanderbilt, der über unzählige Kreaturen gebietet, gibt auf der in den Erdboden eingelassenen Platte die Namen dreier an, deren Andenken er ehren will, der drei Hunde Lassy, Sportie und Happy Boy. Frau Astor wiederum nennt keine Namen, ist aber dafür weniger karg mit Worten. Auf dem ihr gehörigen mächtigen Komplex steht: »In liebender Erinnerung an alle meine Hunde und Pferde – meine treuen und ständigen Gesellschafter.«

»Du warst unser Liebling.« – »Wir beklagen unseren zarten Kameraden.« – »Hier ruht Bella, unsere sonnige Freundin.« – »Beloved Pico, 1916-1924, beautiful, intelligent, heroic.« – »Süß warst du, unser kleiner Bill.« – »Proud, sunny, loving.« – »Schneeball! Nimmermehr wird dein Andenken aus unseren Herzen schwinden.« – »Hier schlummert Ami, geliebtes Mitglied unserer Familie.« – »Bébé, ewig beweint.« – »Schlafe süß, Ben.« – »Grumpy, 4. August 1913–20. September 1916. Deine Liebe, Anhänglichkeit und Verständnis bereicherten unser Leben. Warte auf uns!«

Beim Lesen des Epitaphs für »Nigger, den alten Gentleman« kann sich der Doktor Becker des Gedankens nicht erwehren, daß die Hinterbliebenen dieses schwarzen Pudels seinen Paten niemals »alter Gentleman« genannt hätten, weil er für sie das polare Gegenteil davon ist: ein Nigger. Zwar hört man manchmal das Wort: »ein farbiger Gentleman«, das ist jedoch kontradiktorisch gemeint, etwa so wie »Gentleman-Einbrecher«.

Auf einem einzigen Stein steht ein Satz, der dem Doktor Becker gefällt, denn es liegt ein Gedanke darin: »Jack as ever preceeds his master a few steps – Jack, wie immer seinem Herrn um ein paar Schritte voraus.«

Inschriftlich protzt ein Hinterbliebener, genau Namen und Stand nennend, mit seinen Weltreisen, indem er dem toten Hund bescheinigt: »Ah-Sum-Pupp hat 6600 Meilen mit seinem Herrn zurückgelegt.«

Einem anderen Hündchen hat die Anti-Vivisektionsliga um seiner erlittenen Qualen willen ein demonstratives Denkmal gesetzt.

Wo über einem Hügel das Sternenbanner weht, dort ist ein Kriegergrab, das heißt: das Grab eines Kriegshundes. Immerhin, denkt der Doktor Becker, immerhin haben auch die Kriegshunde an der Front das geführt, was Hunde unter sich wohl als »ein Menschenleben« bezeichnen mögen. Ob es aber gerade die waren, die hier bestattet sind, läßt sich füglich bezweifeln. Kein fühlender Hund konnte aus einer Welt, in der ungenießbares Fleisch und unbeknabberbare Knochen zum Himmel stanken, freudig bellend über den Ozean heimkehren, manche fühlenden Hunde starben dort, wo sich keine Fahne über den toten bläht.

Das haben vielleicht auch die maßgebenden Kreise empfunden, als sie, um den Ehrgeiz einer künftigen Hundegeneration aufzustacheln, auf dem höchsten Punkt des Canine Cemetery of Hartsdale ein kolossales Monument errichteten zu Ehren des unbekannten Kriegshundes. Feldmäßig ausgerüstet blickt er kühn dem Feinde des Vaterlands entgegen. Um was es geht, weiß er so, wie es seine zweibeinigen Kriegskameraden wissen . . .

Hinabsteigend den Hügel, vorbeigehend an grünen Ranken, weißen Plastiken und blumigen Rabatten, unter denen Schoßhündchen in den Schoß der Erde gebettet sind, kann der Doktor Becker nicht finden, daß diese prunkvolle öffentliche Stätte einen Widersinn zu dem Armenfriedhof bildet, den zu betreten ihm verwehrt wurde. Der reiche Hund ist hier so begraben, wie er gelebt hat, und drüben auf Pottersfield geht es dem armen Menschen ebenso.

 


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