Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Sein Liedchen bläst der Postillon

Der Postmeister von New York, ein kleiner korpulenter Herr, den zu frankieren nicht billig wäre, gibt uns, die wir das Postamt in Augenschein zu nehmen wünschen, die Erlaubnis.

»Vorher will ich Ihnen sagen, was wir leisten. Wollen Sie?«

»Sicherlich.«

Da singt der kleine Postmeister des großen New York ein Liedchen mit folgendem Text:

»Wir haben 18 000 Angestellte.

Wir empfangen, liefern ab und befördern täglich 16 Millionen Stücke gewöhnlicher Post.

Wir empfangen, liefern ab und befördern täglich 156 000 Einschreibebriefe.

Wir empfangen und verteilen täglich 75 000 versicherte und Nachnahmepakete.

Wir wiegen und befördern täglich 600 000 Pfund Zeitungen und Zeitschriften.

Wir finden täglich 100 Dollar in unbestellbaren Briefen.

Wir erzielen jährlich 30 000 Dollar durch Versteigerung unbestellbarer Pakete.

Wir erhalten täglich 2100 Adressenänderungen.

Wir behandeln täglich 350 000 Stücke falsch dirigierter Post.

Wir finden täglich die Empfänger von 200 unadressierten Paketen heraus.

Wir erhalten täglich 80 000 Poststücke ohne Angabe der Straße.

Wir versehen täglich 36 000 Poststücke nach dem Adreßbuch mit Angabe von Straße und Hausnummer.

Wir lösen täglich 252 000 Dollar für Postgebühren.

Wir zahlen jährlich 165 Millionen Dollar Postanweisungen aus.

Wir haben im Postsparkassendepot 25 Millionen Dollar.

Wir haben 92 000 Postsparkassen-Einleger.

Wir nahmen vom 30. Juni 1927 bis zum 30. Juni 1928 77 165 071 Dollar ein gegen 74 443 632 Dollar im Vorjahr.«

Damit hat der Postmeister von New York sein Lied zu Ende gesungen und verspricht, uns einen glänzenden postalischen Fachmann zur Führung mitzugeben.

Der allerglänzendste postalische Fachmann ist sicherlich der Postmeister selbst, laut Aussage des jungen Mannes, der uns bei ihm angemeldet hat. Sicherlich ist der Postmeister auch ein ebenso glänzender Republikaner, wie er der glänzendste Fachmann ist; wäre aber der Demokrat Smith statt des Republikaners Hoover zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden, so hätte sich sicherlich der glänzendste postalische Fachmann von seinem Amte entfernen und ein (wohl vorher vorbereitetes) Privatgeschäft übernehmen müssen, und an seine Stelle wäre sicherlich ein noch glänzendsterer postalischer Fachmann demokratischer Färbung getreten.

(Der geneigte Leser wird sicherlich die häufige Anwendung des Wortes »sicherlich« verzeihen, es muß in jeder amerikanischen Gesprächswendung mindestens einmal vorkommen, ein Satz ohne dieses Wort ist nicht vollständig. Sure!)

Während wir uns solcherart den tiefen philosophischen Gedanken über die Vergänglichkeit aller irdischen Macht innerhalb des New Yorker Postbezirks hingeben, tritt der Mann ein, der unsere Führung übernehmen soll und gleichfalls einer der glänzendsten postalischen Fachleute von Amerika ist. Er sieht so amerikanisch aus, als ob sein Ahn mit der Karavelle »New Netherland« vor dreihundert Jahren auf Manhattan Island gelandet und mit den Mohawk-Indianern zu handeln begonnen hätte. Andererseits sieht er auch einem Rechtsanwalt in unserer Heimat ähnlich, was nicht weiter verwunderlich ist, da die Passagiere der Karavelle »New Netherland« ja Brüder und Schwestern in Europa zurückgelassen haben.

»Mr. Kisch, meet Mr. Mautner«, fordert der Postmeister auf, worauf uns nichts anderes übrigbleibt, als »How do you do, Mr. Mautner« zu fragen, und ihm nichts anderes als »How do you do, Mr. Kisch«.

»You have a brother in Prague, a lawyer, haven't you?«

»Sure! Den Rechtsanwalt Dr. Richard Mautner«, erwidert er, und die Führung beginnt mit der Feststellung, daß wir beide als Einjährig-Freiwillige beim k. u. k. Infanterieregiment Nr. 11 gedient haben, wenngleich er bedeutend früher – man muß schon ein gewisses Alter erreicht haben, ehe man als glänzender postalischer Fachmann anerkannt wird. (Auch in Amerika . . . Daß man hier sozusagen als Generaldirektor auf die Welt kommt, daß Knaben Präsidenten von Aktiengesellschaften sind und Jünglinge Alterspräsidenten – das haben die feschen Reiseschriftsteller erfunden.)

Wir gehen durch die Hallen des Postgebäudes, das außen ein marmorner Griechentempel und innen eine häßliche Fabrik ist, an schreibenden, tragenden, werfenden oder sonstwie hantierenden Weißen vorbei, unter denen wir gleichfalls Bekannte finden, und auch an Negern, bei denen sich aber keine landsmannschaftliche, verwandtschaftliche oder militärische Beziehung mit Mister Mautner und uns feststellen läßt.

Allen in den Manipulationsräumen tätigen Menschen zu Häupten rollen in drahtgeflochtenen Röhren die Postsendungen, vor ihnen rollen die Fließbänder, und unter dem Boden, auf dem sie stehen, rollen Eisenbahnzüge.

Die Pace-up-table, einen stählernen Tisch, umsäumen zehn Männer, und zwanzig Hände bewegen sich, um die heransausenden Briefe auf zwei Geleise zu verschieben – die Briefe in länglichen Umschlägen auf das eine, die kleineren und die Postkarten auf das andere. Die Schienen führen zu den beiden Stempelapparaten, die stündlich nur 30 000 Briefmarken durch den Aufdruck New York, der Jahreszahl, des Datums und der gegenwärtigen halben Stunde entwerten. Nicht mehr als 30 000 in der Stunde, also nur 720 000 im Tag. Wie aber sang uns der Postmeister so schön: »Wir empfangen, liefern ab und befördern täglich 16 Millionen Stücke gewöhnlicher Post.«

Also sang er, und wenn auch die durchgehende Post bereits gestempelt ist, so bleibt doch mehr, als eine lendenlahme Stempelmaschine bewältigen kann. Deshalb sind sechzehn da, auf acht Pace-up-Tischen, umstanden von je zehn Männern mit zwanzig rasenden Händen, Postarbeit, Postarbeit!

Bei den Einschreibebriefen geht es etwas ruhiger zu, doch flößen die Waffen Angst ein, die den hemdärmeligen Beamten aus der hinteren Hosentasche gucken, einschüchternd große Revolver, eher halbwüchsige Kanonen als Revolver.

Es wird auch geschossen. Hierher und von hier. Aber nicht Revolverkugeln sausen, sondern Granaten, regelrechte 32-cm-Geschosse. Statt mit Sprengstoff sind sie mit Briefen gefüllt, sie kommen und gehen durch die ganz New York durchlaufenden pneumatischen Röhren, aus und zu den dreihundert Filialpostämtern. Per Sekunde lassen sich sechzehn dieser Granaten abfeuern; wehmütig denkt man bei ihrem Anblick an die idyllischen Tuben der heimatlichen Rohrpost.

Dort, wo die Geschosse einfallen, und dort, wo sie in den Lauf geladen werden, sind Schwerarbeiter am Werk, von Öl und Schweiß triefen diese Postillone, für die Lenau keine Verse der Zuneigung gefunden hätte. Aber Schulter an Schulter mit ihnen wirken leichtbeschwingte Gesellen; sie haben nichts mehr mit dem Verschießen der Riesenprojektile zu tun, deren Zünder bereits abgeschraubt und deren Inhalte ausgeschüttet sind. Sie verteilen die Briefe. Einen ganzen Packen in der linken Hand, schleudern sie mit der Rechten, routiniert wie alte Croupiers in Monte Carlo, einen Brief nach Philadelphia, einen nach Europa, einen nach Massachusetts, einen nach Chicago, einen nach Texas, einen nach San Francisco, das heißt in die auf Rädern stehenden Säcke, die diese Städte- und Staatennamen tragen. Wie Papierschlangen schwirren die Briefe auf ihren Flugbahnen übereinander und durcheinander in der Luft.

Transportation Platform heißt die Rampe, auf der die Opfergaben abgeliefert oder weitergeleitet werden. Die Lastautos der Firmen und die der Postämter (ihre Karosserie ist meist ein riesenhaftes Drahtnetz) werden von Negern ausgeladen und die Fracht teils ins Innere des Hauses befördert, teils in Schächte geworfen, teils auf die Schütten. Auch Laufkrane rollen aus den Manipulationsräumen heran, um sich zu entleeren.

Tief unten: Eisenbahnzüge, fünfunddreißig, nebeneinander. Dorthin kommt kein Spaziergänger, fahren keine Passagiere, die sich durch Herausstecken des Kopfes oder eines Armes verletzen könnten, dort wird niemand erwartet. Deshalb bedarf es keines Bahnsteigs, keiner Halle und keiner schamhaften Verkleidung der Felsen. An den grob gehackten Wänden der Schlucht reiben sich die Postzüge, so knapp geht's an den Felsen vorbei.

Die Kanzleiräume unterscheiden sich nur durch ihre Dimensionen von denen der Privatfirmen. Aber der Untersuchungsabteilung, wo Reklamationen und mangelhaft adressierte Stücke behandelt werden, drücken der Detailversand und die Einwanderung sozusagen ihren Poststempel auf.

Vieles von dem, was aus dem allumfassenden Katalog von »Sears, Roebuck, Chicago« oder einem anderen Mail-Order-House bestellt und geliefert wird, geht via New York. So schnell auch die Bestellung effektuiert wird, die Lebensbedingungen des kleinen Mannes wechseln noch schneller. Er hat inzwischen seinen Aufenthaltsort geändert oder ist stellungslos geworden oder hat seine letzten paar Dollar auf der Börse verspielt. Da muß nun die neue Adresse ermittelt oder das Paket zurückgehalten werden, und das Postmagazin ist mit ebenso mannigfacher Ware gefüllt wie die Versandhäuser selbst.

Sherlock Holmes und Mezzofanti müßten ihre Künste vereinen, um die Adressen der Sendungen zu entziffern, die meist von Landarbeitern Italiens, Polens, der Slowakei und des Balkans an ihre in die Neue Welt ausgewanderten Verwandten abgehen. Oft fehlt der Bestimmungsort, aber man hat auf dem Postamt Straßenverzeichnisse aller amerikanischen Städte, und wenn irgendwo »6404 Washington Street« steht, so weiß man, daß eine Washington Street mit so hoher Hausnummer nur die von Philadelphia sein kann. Außerdem kennen die Beamten die Straßen in den Fremdenbezirken aller Städte und serbische, bulgarische und griechische Buchstaben. Selbst Briefe ohne Adresse haben schon ihren Empfänger erreicht.

Die Pakete, deren Adressaten nicht ausfindig zu machen sind, werden geöffnet und ihr Inhalt sortiert, alte Männerkleider extra, alte Frauenwäsche extra, Hausgeräte und Stiefel extra; am Montag stellt man die Ware zur Besichtigung aus, am Dienstag versteigert man sie in der dichtgefüllten Auktionshalle. Heute ist Mittwoch, und wir sehen die Partiewarenhändler und ‑händlerinnen allerhand Trödel mißvergnügt betrachten, in Decken packen und in Bündel verschnüren. Gestern haben sie das erhandelt, heute tragen sie es davon, die Behauptung unserer reisenden Kollegen widerlegend, daß in Amerika abgebrauchte Ware einfach weggeworfen werde und von niemandem aufgehoben. Ach, seht euch die Elendenmärkte des New Yorker Südostens an – nur noch auf der Kasbah in Algier hält man solchen Dreck für marktfähige Ware!

»Tote Briefe«, solche, die ganz tot sind, werden vor der Überführung ins Krematorium noch obduziert, ob sich nicht ein Dollar oder ein Scheck in ihren Eingeweiden verberge. Eine Sektionsmaschine besorgt den Schnitt, und da liegen nun die postalischen Leichen mit aufgeklappten Leibern. Kommen die Anatomen und lugen hinein, jeder in 3200 pro Tag. Wenn sich eine Banknote oder eine Geldanweisung findet, wird der tote Brief noch ein Jahr lang aufgehoben; hat sich bis dahin der Besitzer nicht gemeldet, so gehört das Geld dem Staat und der Brief dem Krematorium.

Kurzum, genug wird dem Kunden geboten für seine zwei Cent Porto, und wir können nicht umhin, dem Mister Mautner unsere Anerkennung über sein Amerika auszusprechen.

 


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