Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Die Ballade von Sutter's Fort

Hierher, in dieses Zimmerchen des befestigten Handlungshauses »Sutter's Fort«, führte am 28. Januar 1848, einem regnerischen Tag, der Kommandant Johannes August Sutter seinen Angestellten James W. Marshall.

Marshall, von seinem vorgeschobenen Posten Coloma eben herbeigeritten, hatte vom Chef eine Unterredung unter vier Augen gewünscht in einer ungeheuer wichtigen Angelegenheit. Und draußen klatschte der Regen.

Es stand ein Tisch mit Papieren in dem Raum, alte deutsche Bücher und neue amerikanische. Johannes A. Sutter war ein Deutscher, 1803 in Kandern, Großherzogtum Baden, geboren, frühzeitig mit den Eltern nach der Schweiz übergesiedelt und dann in Paris bei der Schweizergarde Karls X. eingetreten. Die Julirevolution machte die Lakaien stellungslos, auch ihn, der seiner Wesensart nach alles eher war denn ein Lakai.

Er ging als Handelsmann nach Afrika und später nach New York, betrieb eine Schankwirtschaft; dort erzählten Trapper von ungehobenen Schätzen im Wilden Westen, und Sutter brach dorthin auf. Aus San Francisco ruderte er 1839 mit einigen Kanaka-Indianern und zwei Weißen den Sacramento hinauf, was vorher noch niemand unternommen. Er wollte sich in der Wildnis ansiedeln, anbauen und Waren versenden, vom Haß der Konkurrenten, vom Lärm der Städte nicht umtobt sein . . .

Aus Lehmziegeln, an der Sonne getrocknet, baute er sein Haus – dieses hier, um das der Wall läuft. Er taufte es »New Helvetia«, bald aber hieß es Sutter's Fort, weil die Mexikaner, denen damals Kalifornien gehörte, es zu ihrem militärischen Stützpunkt machten und zum Kommandanten Sutter ernannten. Er konnte als loyaler Mexikaner gelten, wie er vorher als großherzoglich badischer Untertan, als Schweizer Eidgenosse, als französischer Königshüter, als afrikanischer Handelsmann loyal gewesen und nachher (vom nordamerikanisch-mexikanischen Kriege an) als amerikanischer Staatsbürger.

Jetzo Festungskommandant, hatte er an den vier Ecken der Umwallungsmauer je eine Kanone aufgestellt, und so stehen sie noch da, wahrscheinlich in den ganzen neunzig Jahren niemals verwendet. Den Krieg, in dessen Mitte er sich bald sah, hätten alle Kanonen der Welt nicht entscheiden können.

Das ganze Glück oder Unglück – wir werden schon sehen, was von beiden es war – begann in diesem Kämmerchen hier, wohin an jenem Januartag Anno Domini 1848 Sutter den James W. Marshall führte. Und draußen klatschte der Regen.

Zu Sutters Handelsgeschäften gehörte es damals, Holz nach San Francisco flößen zu lassen. Das Befahren des Sacramento, den er vor Jahr und Tag mit seinen weißen und roten Ruderern entjungfert, war inzwischen ein bequemes eheliches Vergnügen geworden, man hatte keinerlei Überraschungen mehr zu gewärtigen, keinen hinterhältigen Überfall unbekannter Völkerstämme und keine Tücken der Strömung und keine Klippen. Nur eines kostete Mühe: die Baumstämme aus den Waldungen nach New Helvetia zu bringen. Deshalb verlegte Sutter seinen anstelligsten Angestellten James W. Marshall mit zwei oder drei Gehilfen einige Meilen höher nach Nordosten, damit er dort, am American River, Nebenfluß des Sacramento, eine Sägemühle aufführe.

Und diese Zweigniederlassung oder dieser vorgeschobene Posten eben war's, von wo James W. Marshall an dem achtundzwanzigsten Januartage im Regen zur Zentrale der Firma beziehungsweise zum Vorpostenkommando heruntergeritten kam, mit geheimnisvoller Miene die Bitte um eine Privataudienz vorbrachte und vom Chef in dieses Zimmer hier geführt wurde.

Bevor sich die beiden Männer an den Eichentisch setzten, bat Marshall, Sutter möge die Türe versperren. Sutter tat das.

Marshall begann kaum mit seinem Rapport, als der Chef wieder aufstand, die Tür öffnete und einem draußen stehenden Angestellten zurief, mit der Abfertigung des nächsten Floßes auf ihn zu warten. Und draußen klatschte der Regen.

Nun sagte Marshall, was zu sagen er gekommen war. Im Nu war Sutter bei der Sache. Denn das da, das war, beim Himmel keine Kleinigkeit:

Marshall hatte oben eine Holzrinne angelegt, um das Wasser des American River auf die Schaufeln des Mühlenrades zu leiten. Vor vier Tagen wollte er nachsehen, ob die Rinne genügend dicht sei, und da habe er darin etwas glitzern gesehen, goldig glitzern . . .

»Und?« Sutter beugte sich aufgeregt zum Munde seines Nachbarn.

». . . und rotgelbe Splitter gefunden, die ich mit der Hand herausgekehrt habe. Ich glaube, es ist Gold.«

»Hast du es hier?« Sutter zitterte, und draußen klatschte der Regen.

»Ja, hab es mitgebracht.« Marshall griff in die Tasche, zog ein Tuch heraus, band die Knoten auf, und es blitzten –

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Sutters Buchhalter trat ein, um etwas zu fragen. Er bemerkte, daß er störe, und entfernte sich mit einer Entschuldigung.

Wütend schob Marshall das Tuch in die Tasche. Sutter, an die Wichtigkeit der bevorstehenden Mitteilung nicht glaubend und mit anderen Gedanken beschäftigt, hatte vergessen, die Tür, nachdem er sie geöffnet, wieder zu versperren! Nur mit Mühe konnte Sutter den ärgerlichen Marshall beruhigen, der annahm, der Buchhalter habe spionieren wollen. Erst nachdem die Tür von neuem versperrt und ein Schrank davorgerückt worden war, zeigte Marshall die Stücke wieder.

Sutter schlug in der Encyclopaedia Americana den Artikel »gold« nach, behandelte die Körner mit aqua fortis und fand, daß es Gold von feinster Qualität sei. Er schloß die Chispas fort und schärfte Marshall ein, zu keinem Menschen darüber zu sprechen. Und draußen klatschte der Regen.

Ja, es war Gold. In der Zeit der antiken Sage ruderten die Argonauten hierher, um es zu finden, vor vierhundert Jahren kam der Konquistador Cortez um des Goldes willen an, nach ihm der portugiesische Seefahrer Cabrillo, und schließlich landete 1537 Sir Francis Drake in der Bucht von San Francisco, entschlossen, das ewig lockende Mineral aus seinem Versteck zu holen. Keinem war es beschieden. Dem Sägemüller Marshall war es beschieden.

Die beiden Männer, die einander – in dieser Stube hier – Verschwiegenheit gelobt, während draußen der Regen klatschte, waren nicht imstande, die Verbreitung des Geheimnisses aufzuhalten.

Sie vermuteten eine neue Einnahmequelle, vielleicht hofften sie, eine ganze Ader zu entdecken, aber von der Weltbedeutung des Fundes hatten sie keine Ahnung. Drei Wochen später ritten ihnen einige Knechte davon, jagten mit goldgespickten Satteltaschen nach San Francisco, um sich nach Jahren der Wildnis und der Enthaltsamkeit städtische Nächte und weiße Mädchen zu kaufen.

Panik entstand.

Am Dienstag, dem 15. März 1848, hatte sogar die San Franciscoer Zeitung »Californian« davon erfahren und brachte auf der zweiten Seite, dritte Spalte, ganz unten (ihr amerikanischen Journalisten von damals!) eine kurze Notiz:

»Gold Mine found. – In the newly made raceway of the Saw Mill recently erected by Captain Sutter, on the American Fork, gold has been found in considerable quantities. One person brought thirty dollars worth to New Helvetia gathered there in a short time.«

Acht Tage darauf stellte die Zeitung ihr Erscheinen ein: die Mitarbeiter, die Setzer und die Austräger, alles war hinauf in die Berge geeilt.

Und nicht nur sie, nicht nur ganz San Francisco, aus aller Welt strömte die Armada der Abenteurer heran, Hunderte, Tausende, befallen vom Rausch nach dem Metall, dessen Proben einige Wochen vorher im Knoten eines Taschentuchs geglitzert hatten, als draußen der Regen klatschte.

Rings um die Claims bildeten sich hölzerne Siedlungen. Bei Marshalls Brettsäge schoß eine Stadt empor: Coloma, allüberall auf dem Erdball mit sehnsüchtigem Schaudern genannt. Jetzt fährt man mit einem Schaudern anderer Art durch diesen Ort: kahle Bretterfronten, leere, dachlose und zerbrochene Häuser – kein Mensch wohnt mehr darin.

Kaum zwei Kilometer weiter: Placerville, das zuerst Hangtown hieß; denn hier wütete die Lynchjustiz am tollsten. Wer den »Vigilanten«, einer Maffia von Mächtigen, nicht paßte, wurde auf den nächsten Baum geknüpft. (Charakteristischerweise ist heute in Amerika eine ziemlich starke Strömung zur Glorifizierung der Vigilanten und ihrer »nationalen Selbsthilfe« im Gange.)

In Carson Hill fand man das größte Nugget, zweihundertvierzehn Pfund schwer, neunzigtausend Dollar wert. In Tuttletown ging Bret Harte zur Schule, seine Stadt »You bet« (Wetten wir) ist in der Nähe. In Grass Valley wohnte Lola Montez nach ihrer Vertreibung aus Bayern. In Jackass Hill verlebte Mark Twain einen lustigen Winter mit Bill Gillis. Aber am Donner Lake verendeten eines Winters die ersten Pioniere, fast die ganze aus Illinois gekommene Reed-Donner-Party, in Wind, Frost, Schneesturm, Verzweiflung und Hungersnot; zwölf Frauen und siebenundzwanzig Kinder waren darunter. In einem Krater ward der Ort Volcano erbaut. In North San Juan schürften die hydraulischen Bagger nach Gold; Herbert Hoover war hier in seiner Jugend angestellt.

Whisky Diggings hieß eine Stadt. Port Vine (Portwein) eine andere. Wild Yankee Diggings die dritte.

Es gab kein New Helvetia mehr. Sutter's Fort stand inmitten einer weitausladenden Stadt: Sacramento. Oh, Sutters Traum von Waldfrieden und Einsamkeit! Er war zu Ende mit jenem Januartag, da er Marshall in dieses Zimmerchen führte. Und draußen klatschte der Regen.

Da war ein Schuppen gewesen oder ein Stall neben jenem Zimmer, in dem einst James W. Marshall den Fund eröffnet hatte. Nun kein Stall und kein Schuppen mehr. Peter Slater herrschte hier über das Liquor Emporium, die erste Schnapsbude und die erste Spielhölle des Westens und wohl die wildeste beider Hemisphären. Mit Nuggets wurde bezahlt, mit Revolverschüssen Ordnung gehalten.

Die schweren Pferdekutschen, die Concord Stages, und die leichteren, die Prairie Schooner, brachten in Kassetten die goldenen Eingeweide der Sierra und die goldenen Gräten der Flüsse. Nebenher ritten, bis an die Zähne bewaffnet, die Besitzer. Siegten die Räuber, die sie überfielen, oder brachten die Diggers ihre Fracht glücklich in das Tal, sie kamen gleicherweise in Slaters Kaschemme und ließen Chinese Gin aufsetzen für alle Anwesenden, Ladies und Gentlemen.

Auf hohem Stuhl, dem Gambler's Lookout, saß der Croupier, zwei Pistolen neben sich, und achtete darauf, ob bei Pharo, Monte, Poker, Einundzwanzig, Roulette und Landsknecht fair gespielt werde. Versuchte einer zu schwindeln, so ergriffen zwei Indianer seinen Körper – sie hatten nichts weiter zu tun, als ihn hinauszutragen und auf Sutter's Fort Cemetery zu bestatten. Und draußen klatschte der Regen.

Sutters Knechte desertierten allesamt – wen wollte ein Monatslohn von vierzig Dollar locken, wenn eine Hacke, eine Pfanne genügte, um täglich hundert Dollar aus dem Fluß zu waschen oder aus dem Fels zu sprengen. Längst hatten die Indianer das Saufen gelernt und lebten von Trinkgeldern.

Geerntet wurde fast nicht mehr, am Halm vertrocknete Korn, auf den Ästen verfaulte Obst, in den Eutern versiegte Kuhmilch, in den Mühlen verschimmelte Mehl, in den Brettsägen vermorschte Holz, in den Manufakturen verrosteten Maschinen, Goldgräber fingen mit dem Lasso von den weidenden Pferden Sutters die, die ihnen gefielen, und schossen sich aus seinen Herden, um eines Stückchen Fleisches willen, die tüchtigsten Zugochsen.

General Sutter – diesen Titel hat ihm USA verliehen – geht mit finsterem Gesicht durch die Mißwirtschaft und empfindet erst jetzt, wie prachtvoll das alles war vor jenem Januartag, als es aus dem Taschentuch Marshalls golden glitzerte, im trüben Licht der Kammer da drinnen und des Regengusses da draußen.

Er hat auf Feststellung geklagt, daß alles Land sein sei. Und der Oberste Richter von Kalifornien gibt seiner Klage statt, 1855: die ungeheuren Ländereien mit allem, was darauf steht und wächst, seien des Generals Johannes August Sutter uneingeschränktes Eigentum, und niemand habe dort ohne seinen Willen etwas zu suchen.

Am 15. März 1855 ist dieses Urteil ergangen. Der Tag, an dem es Sutter erfährt, mag der einzige sein, an dem er jenen andern Tag segnet, den Regentag sieben Jahre vorher. Sutter ist glücklich. –

Die Diggers sind aber keineswegs gewillt, das Feld zu räumen, das Goldfeld. »Sind wir hierhergezogen, viele tausend Meilen weit, haben wir hier in Wind und Wetter geschuftet, um uns von dem Schweizer vertreiben zu lassen?«

So sprechen sie, da das Gerichtsurteil bekannt wird, rotten sich zusammen, eine Revolte bricht aus, Sutters Meierhof »Ermitage« und alle Gebäude, seine Speicher und seine Gärten werden mit Gras, Baum, Blume und Zaun in Brand gesteckt, die Weinberge zertrampelt und verwüstet, Gewehrfeuer auf die Herden eröffnet, sogar das Geflügel mit Revolverkugeln ausgerottet, die Deiche durchstochen, die Brücken gesprengt, die Schleusen zertrümmert, seine ethnographischen Sammlungen, meist indianische Folklore, Pelze seltener Tiere, Mineralien, Vorräte und Bücher, alles in die Flammen geschleudert. Wer den aufständischen Goldgräbern begegnet von Sutters Dienern, Weiße und Kanaker, wird geteert und gefedert, tot oder lebendig an die Bäume geknüpft.

Nichts steht mehr. Nur das Fort blieb unversehrt, darin Militär ist, das Fort steht mit jener verhängnisvollen Kammer.

Sutter selbst war nicht da, als die Erneute Platz griff, er war auf dem Weg nach Washington. Zurückgekehrt, findet er Schutt und Trümmer. Nicht findet er seine Söhne, der eine hat sich erschossen, einer wurde ermordet, der dritte ist geflüchtet. Seine Tochter, von vier Männern geschändet, erleidet einen Wahnsinnsanfall.

Nun ist Johannes August Sutter, der sich noch vor einer Woche als einen der reichsten Leute des Erdballs betrachtete, ein Bettler, weniger als das. In Lititz, einer Kolonie der Mährischen Brüder in Pennsylvanien, findet er Unterschlupf.

Er strengt einen Schadenersatzprozeß an. Fünfundzwanzig Jahre lang, fünfundzwanzig Jahre lang interveniert Sutter beim Kongreß und beim Obersten Gericht in Washington. Obwohl er in unbestreitbarem Recht ist, obwohl er seine Ansprüche herabschraubt, erfolgt keine Entscheidung. Sie ist bis zum heutigen Tage nicht ergangen.

Johannes A. Sutter, der Gründer Mittelkaliforniens, stirbt in Jammer und Elend, nur die Mährischen Brüder begleiten ihn zu seinem Grab auf dem Lititzer Friedhof, wo er in der Nordostecke liegt, als einziger, der nicht ihres Glaubens.

James W. Marshall, dem Kalifornien Milliarden verdankt, lebte jahrzehntelang in San Francisco in einer Dachkammer mit vier Personen zusammengepfercht. Ihn, der das Gold gefunden, hatte das Gold nicht gefunden. Man sammelte für ihn; der Aufruf zur Kollekte ist noch erhalten. Sie ergab hundertzwanzig Dollar.

Aber Denkmäler haben sie jetzt beide, die Männer, die einst beisammensaßen in diesem Zimmer, an dessen einzige Fensterscheibe eben – wie damals am 28. Januar 1848 – der Regen klatscht.

 


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