Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Als Leichtmatrose nach Kalifornien

Die ganze Geschichte, von der ich nicht weiß, wie sie ausgehen wird, ob sie überhaupt ausgehen wird und ob sie überhaupt eine Geschichte wird – denn ich beginne kurz nach ihrem Beginn ihren Beginn zu notieren, heute am 12. Januar 1929, und unsere Reise soll bis tief in den Februar hinein dauern! –

Die ganze Geschichte also begann im Internationalen Seemannsklub in New York.

Dort kam ich mit einem Burschen in ein Gespräch. Er hieß Harry Warwick, wie ich später erfuhr, aber voraussichtlich sind weder er noch sein Name von irgendwelcher Wichtigkeit für den weiteren Verlauf der Begebenheit, deren Anlaß und Ursprung er gewesen. Begierig fragte er mich über Deutschland aus, das sich in ihm zu einem Sehnsuchtsland entwickelt hatte, obwohl oder weil er noch niemals jemanden aus Deutschland gesehen oder gesprochen hatte und weil er so viel über Deutschland gehört. Gleich möchte er bei der United States Line anheuern, wenn er nicht schon morgen früh den verdammten Trip nach Oregon antreten müßte. Aber im April sei er wieder hier, und dann gehe es nach Bremen, koste es, was es wolle.

»Morgen segelst du?«

»Morgen um neun.«

»Wie fahrt ihr da?« fragte ich, hatte ich doch keine rechte Ahnung, wo das liegt: Oregon.

»Die Küste entlang bei Pennsylvanien, Maryland und South Virginia. In Georgia stoppen wir, von dort geht's nach Florida und dann hinüber zum Panamakanal, durch, und hinauf nach Los Angeles und San Francisco und bis Portland, das ist schon Oregon.«

»Teufel«, sagte ich, »möcht ich da gerne mitfahren!«

Wer hätte denn etwas anderes gesagt? Wenn jemand eine besondere Reise antritt, muß er diesen Satz hören, oft mit humoristisch sein sollenden Beifügungen: »Können Sie mich da nicht im Koffer mitnehmen?«, »Brauchen Sie nicht einen Sekretär oder jemanden, der Ihnen die Stiefel putzt?«

Aber selten kriegt der Sehnsüchtige die Antwort, die mir der junge Matrose Harry Warwick gab: »Nun, so fahr doch mit.« »Wie?« fragte ich, denn ich glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. Wie sagst du? sollte das etwa heißen. Aber er verstand: Wie mache ich es, um mitzufahren? Und erwiderte, ich möge ihn jetzt einfach begleiten, sein Schiff, die »Hiawatha« lichte morgen früh Anker, vielleicht nehme man mich mit.

»So schnell kann ich nicht weg.«

»Nun, sobald du Zeit hast, meldest du dich im Sea Service Bureau und sagst: ich will als Seemann gehen. Da schickt dich der Clerk auf irgendein Schiff, das Leute angesprochen hat. Das muß dich aufnehmen.«

»Ich bin doch kein Seemann!«

»Wen kümmert das etwas! Wenn du zur See fährst, bist du einer. Jeder, der zur See fährt, ist ein Seemann.«

Da war etwas mehr oder etwas weniger darin als eine Behauptung des guten Harry: es war eine allgemeine amerikanische Banalität, »Are you a good sailor« ist nicht etwa die Frage, ob man ein guter Angehöriger der Marine ist, sondern ob man nicht seekrank wird. »My wife is a bad sailor« – nicht ein schlechter Matrose, sondern zu Seekrankheit neigend.

»Aber ich habe doch keine Papiere!«

»Du brauchst nur das erste!«

»Hab ich auch nicht.«

Ganz groß sah mich Harry Warwick an, er hatte sieben Meere durchschifft und allerhand Menschen gesehen, heute sogar einen, der geradeswegs aus Deutschland kam – aber daß jemand, und gar dieser schon ohnedies Absonderliche, nicht einmal das Erste Bürgerpapier der Staaten habe, das war dem Seemann Harry Warwick denn doch noch nicht begegnet.

»Macht nichts. Wenn du auf die Löhnung verzichtest, kannst du überall mitfahren. Da steckt der boos'n deinen Lohn ein – das tun sie immer, wenn sie einen work-a-way haben . . .«

»Wen . . .

»Einen Studenten oder einen Kaufmann, der anheuert, um seine Reise unentgeltlich zu haben.«

»Wie hast du das genannt?«

»Einen work-a-way, einen, der sich seinen Weg erarbeitet, das kommt oft vor, meist so Burschen gegen zwanzig. Wie alt bist du denn?« – »Zweiundzwanzig.« – »Na, das ist gerade noch gut. Kannst Mittwoch fahren mit der ›Hannawah‹, das ist unser Schwesterschiff. Sie liegt neben uns, bei India Street in Brooklyn. Sie segelt schon am Mittwoch. Komm mit mir, du wirst Dave Dunge treffen – er ist boos'n auf der ›Hannawah‹, du kannst es gleich ausmachen. Ich hole ihn ohnedies ab.«

So gingen wir in ein Billardlokal, nachdem mir Harry noch eingeschärft, ich möge mit Dave Dunge nicht über Politik sprechen, er interessiere sich zwar nicht dafür, aber es sei besser so.

Dave Dunge spielte Billard oder das, was man hierzulande so nennt, ein Spiel für Amerikaner und Kinder, mit sechzehn verschiedenfarbigen und numerierten Kugeln, die durch Anspielen mit der weißen in sechs Seitentaschen des Bretts zu karambolieren sind. Nur zwei Regeln scheint es zu geben: daß man den Rock ablegen, aber Hut und Revolverfutteral anbehalten muß.

Dave Dunge war entzückt zu hören, daß ich als work-a-way anheuern möchte und ihm meine Löhnung zu überlassen geneigt sei, immerhin 42 Dollar im Monat, wie ich bedauernd vernahm. Er legte gleich das Queue nieder, zahlte der herbeischießenden Mulattin seinen Teil vom Billardgeld, und selbdritt wanderten wir zum Brooklyner Hafen, wo wir alle wohnten: Dave auf der »Hannawah«, Harry auf der »Hiawatha« und ich am Ufer bei Mrs. Field, 104 Columbia Heights. Wir kehrten noch in eine Flüsterkneipe ein. Darauf bestand Dave Dunge, und ebenso darauf, unsere neun Glas Whisky zu bezahlen, mich dadurch sozusagen mit Handgeld verpflichtend.

Am liebsten hätte er es wohl gesehen, wäre ich gleich an Bord mitgekommen. Das tat ich um so weniger, als ich erfuhr, daß das Schiff fünf Tage in Baltimore vor Anker liegen werde. »Kann ich nicht erst in Baltimore an Bord kommen?« fragte ich. »Bis zum 10. kann ich auf jeden Fall meine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Ob das bis Mittwoch geht, weiß ich nicht so bestimmt.« »Alles recht. Wenn du bis Mittwoch nicht da bist, kommst du nach Baltimore. Ich nehme keinen anderen auf. Am 9. abends bist du an Bord, wir machen dann noch eine Nacht. Ich hab dort ein Mädel – Harry kennt sie. Auf Pier 9, Locus Point, Baltimore and Ohio Railroad liegen wir.« (Er schrieb mir das auf.) »Hast du Arbeitsanzug und Stiefel? Alles recht, ich borg dir einen guten Overall und Stiefel.«

»Ist es auch ganz sicher? Ich möchte die Bahnfahrt nach Baltimore nicht vergeblich machen.«

»Perfekt sicher.« Handschlag.

Die letzte Frage hatte ich nur gestellt, um seine Besorgnis zu zerstreuen, daß ich's nicht ernst meine.

Meinte ich's ernst?

Es war eine schwierige Sache. Einerseits: ich kann Florida sehen und Kalifornien mitsamt Los Angeles und Hollywood, und San Francisco, wozu ich sonst nicht käme; die Reise von New York dorthin und zurück kostet an 400 Dollar, die ich bei weitem nicht besitze.

Andererseits: fünf, sechs Wochen meiner für Amerika bewilligten Aufenthaltsdauer durch eine vielleicht langweilige, vielleicht stürmische Seereise auf einer alten Frachtkiste totzuschlagen, bei jämmerlicher Kost, in einem schmutzigen Bett (so fürchtete ich damals – oh, hätte ich doch wenigstens ein schmutziges Bett!) und bei achtstündiger Arbeitszeit!

Zweiundzwanzig Jahre! Dieses Alter hat mir Harry Warwick geglaubt. Das sei gerade noch recht!

Guter Harry! Ich bin doppelt so alt, und diese Zweiundzwanzig, die ich mehr zähle als zweiundzwanzig, sind nicht wie die ersten Zweiundzwanzig, worin ja Kindheit und Schule einbegriffen sind: nein, diese zweiten Zweiundzwanzig sind zweiundzwanzigmal 365 Tage und Nächte mit Arbeit und Affären und Aufregungen, mit Wünschen und Erfüllungen und Nichterfüllungen, mit Gasthauskost und fremden Betten und Frauen und einem Weltkrieg. Und jetzt soll ich da eine fremde Arbeit beginnen, auf fremdem Frachtkahn in eine fremde See?

Nein, ich meinte es doch nicht ernst.

Und ich zählte meine Barschaft. Sie reichte so ungefähr für eine Fahrkarte nach San Francisco und einen Aufenthalt von etwa vierzehn Tagen in San Francisco oder Chicago, vorausgesetzt, daß ich dort in der gleichen Preislage leben könnte wie in New York. Aber nicht mehr zur Rückreise, verflucht! Es wäre schade, die Amerikareise gemacht zu haben und nichts als New York und Chicago zu sehen. (Meine Rückreise-Schiffskarte nach Europa hatte ich schon in Berlin gelöst.)

Nach meiner Vorlesung in der New Yorker Volksbühne hatten mich die Veranstalter gefragt, ob ich nicht in ihren Ortsgruppen im Westen lesen wolle, dreißig Dollar für einen Abend. Das mußte ich ablehnen, denn das hätte kaum für die Spesen gereicht. Wenn ich nunmehr nach dem Westen unentgeltlich fahren kann, bleibt nur die Rückreise nach New York zu bezahlen, und diese ließe sich von den Vorträgen decken. Ich fragte telefonisch an: »Seid ihr noch bereit, die Tournee zu arrangieren?« Sie bejahten.

So, jetzt meinte ich es ernst!

Den Koffer ließ ich bei Mrs. Field, 104 Columbia Heights, Brooklyn, und fuhr nach Baltimore. Meine New Yorker Freunde, denen ich von diesem Reiseentschluß Mitteilung machte, konnten sich allesamt in Bekundungen aufrichtigen Neides nicht genugtun, bewunderten die »Kühnheit« meines Entschlusses und behaupteten, ich sei ein »Mordskerl«.

Dies muß reproduziert werden, weil ich betonen will, daß ich von Anfang an meine Fahrt nicht im geringsten als beneidenswert empfand und nicht als beneidenswert empfinde, daß ich mir von ihr weder Abenteuer noch Sensation versprach, sie eher als Zeitvergeudung ansah, daß ich damit weder originell noch ein Kopist Jack Londons sein wollte; daß ich mir viel beneidenswerter erschienen wäre, hätte ich meinen Weg nach dem Westen im Pullmanwagen zurücklegen können, und daß mein Entschluß kein Entschluß, geschweige denn eine Kühnheit und noch weniger die Äußerung eines Mordskerls war, sondern nichts weiter als das traurige Ergebnis einer klaren Rechnung, einer Aufnahme des Vermögensstandes.

Über Washington fuhr ich nach Baltimore. Am 9. Januar um ein Viertel eins mittags war ich im Weißen Haus, am Abend selbigen Tages kletterte ich, mein Ränzlein auf dem Rücken, von Pier 9, Locus Point, Baltimore, das Fallreep empor auf S. S. »Hannawah«.

Dave Dunge begrüßte mich. Er sagte nicht, daß er sehr erfreut sei, mich zu sehen, wie Coolidge es heute mittags gesagt hatte, aber er war es. (Zweiundvierzig Dollar!) In seiner Kabine auf dem Poopdeck sollte ich mein Bündel ablegen und gleich mit ihm in die Stadt gehen, sein Mädchen warte auf ihn. Wenn wir wieder an Bord kämen, würde er mir einen Schlafplatz anweisen.

Die Nacht war mehr als wüst, ich weiß nicht, ob es wichtig ist, sie zu beschreiben, es scheint jedoch, sie werde auf mein Bordleben nicht ohne Folgen bleiben. In Hull Street pfiff er durch die Finger, einen langen und zwei kurze Pfiffe, und schon stand Deborah vor ihrem Haus. Sie war Anfang der Dreißig, nicht eben häßlich, obzwar sicherlich nur aus Höflichkeit oder Kameradschaftlichkeit der gute Harry Warwick in New York so verzückt bestätigt hatte, wie hübsch sie sei.

Und dann ein Saloon mit vier oder fünf kleinen besetzten Tischen und einer dicht umstandenen Bar, der Whisky, laut Etikett der Flaschen, »Old Kentucky«, aber sicherlich nicht O.K. Wir tranken, ergatterten schließlich einen Tisch, aber Dave segelte zur Bar, um dort große Reden zu halten und schließlich zu würfeln. Als wir gegen Mitternacht mit dem Antrag, endlich aufzubrechen, zu Dave Dunge an die Theke kamen, lehnte er ab.

Unser Tisch war inzwischen besetzt. Dave würfelte und war so betrunken, daß er Deborahs nicht achtete. Wir wurden abgedrängt von ihm. »Komm mit mir weg«, sagte Deborah. »Kann ich nicht machen«, erwiderte ich, nicht nur, weil Dave mein Chef war. Sie war wütend, nun noch überzeugter, ich sei »etwas Besseres«, und vermutete, ich wolle mich nicht zum besten halten lassen. »Komm«, flüsterte sie mir zu, »wir sind gleich zurück. Ich warte auf dich, Hull Street 19.« Sie ging.

Ich drängte mich zu Dave Dunge. »Hallo, Dave, ich glaube, Deborah ist nach Hause gegangen.« – »Sei sicher, sie kommt zurück.« – »Kann ich mitwürfeln?« – »Nein, das geht nicht mehr.« Es waren sechs Spieler da, die mit ihm um ihren Einsatz kämpften. Er schob mich mit der Hand beiseite.

Noch immer spielte er mit den sechs, schaute nicht auf, als ich ins Lokal zurückkehrte. Dann kam Deborah, er gab ihr keinen Blick.

Aber als wir endlich gingen, fragte Dave Dunge: »Wo seid ihr gewesen?« – »Ich war zu Hause«, sagte Deborah. – »Ich weiß.« Das war alles. Er war schlecht gelaunt, obgleich er drei Dollar neunzig gewonnen hatte.

An Bord forderte er mich auf, sein Bett zu nehmen. Er werde sich in das des Lotsen legen.

Und so schlief ich den Rest der Nacht vom 9. auf den 10. Januar in der Koje des Bootsmanns. Das erste- und wohl auch das letztemal.

Als ich am Morgen erwachte, spät, benebelt und vergiftet von dem üblen Whisky, beängstigt aus mehreren Gründen, wimmelte es auf Deck von Schauerleuten, durchweg Polen. Sie löschten merkwürdigerweise, obwohl das Schiff aus New York kam, wo doch sicherlich keine Ladung für Baltimore genommen worden war. Später erfuhr ich, daß die »Hannawah« vor Monatsfrist in Oregon Kupferplatten für die Baltimore Copper Smelting and Rolling Co. geladen und wegen ihrer Schwere auf den Grund der Luken gebettet hatte. Nachdem man in New York den übrigen Kargo gelöscht, konnte man nun in Baltimore darangehen, den kupfernen Grund an seinem Bestimmungshafen auszugeben.

Wir luden übrigens ebenso schwere Dinge – Baltimore, Maryland, ist der Vorhafen Pennsylvaniens, des Stahl- und Eisenlandes –, Stahlrohren, Rundeisen, Zinnblech. Auch drei Lastautos schwebten vom Pier empor und in den Schiffsrumpf hinab.

Möwen schwirrten knapp über den polnischen Arbeitern. Der Hafen, riesenhaft, war voll von Schiffen. Die Fähren mit den Waggons sind stark gewölbt, sie sehen wie überschwemmte Eisenbahnbrücken aus, deren Pfeiler im Wasser stehen. Drüben in Hull Street, rechts zu ebener Erde, wohnt Deborah. Todsicher war der Whisky giftig, fast aller Alkohol ist hier giftig.

Dave kam mich holen, führte mich zum Steuermann und dieser zum Kapitän. Dort unterschrieb ich auf dem Umschlag die Bedingungen, die innen auf einem Bogen standen und mir gar nicht gezeigt wurden.

Nun wurde mir Arbeit zugewiesen; darüber zu schreiben werde ich später noch Zeit finden, ebenso über das Massenquartier, in dem ich nun allabendlich in meine Hängematte kletterte.

Am 11. waren wir in Norfolk – ich glaube, so schreibt sich das –, einem Hafen in Virginia, nahmen Erdnüsse, Zigaretten und Karbid. Nach Sonnenuntergang segelten wir zur Kohlenschütte, wo ein gigantisches Klistier in den Unterleib der »Hannawah« gesenkt wurde und siebenhundertfünfzig Tonnen hineinspritzte. Auf einem kreisrunden Geleise hoch über unseren Häuptern drehte sich donnernd ein Karussell von Kohlenwaggons.

Ein Lotse kam an Bord. Er lenkte uns vom Ozean in den Savannah River, und am 14. warfen wir im Hafen von Savannah Anker. Ich bekam den Auftrag, Briefe aufzugeben, und ging in die Stadt; am Abend privat ein zweites Mal.

Im Kino hörte ich unter anderem einen Sprechfilm mit Eddie Kantor, dem Kurt Bois von Amerika. Man sieht ihn anfangs, wie er am Telefon das Engagement zu dem Sprechfilm abschließt. »Soll ich in englischer Sprache spielen«, fragte er, »oder ist es ein Film für New York?« Man kann das Beifallsgetrampel des Publikums nicht schildern, minutenlang war kein weiterer Witz des kostspieligen Eddie zu vernehmen, so sehr freute sich die Provinz, daß die Metropole eins ausgewischt bekam für ihre Internationalität, ihr Kauderwelsch, ihr Gemauschel.

Der Weg vom Hafen nach Savannah führt durch den Bezirk der Schwarzen. Palmen, ungepflegt und verkümmert, stehen vor den Häuschen aus Lattenwerk, das grau ist wie das Baumaterial in ihrer Urheimat: Lehm mit Kamelmist gemischt. Viel anders sieht es hier zwischen India Street und Lumber Street nicht aus als am Nordrand der Sahara.

Dagegen ist die Kostümierung verschieden: gleich Affenjäckchen hängen die europäischen Kleider von vorgestern und urvorgestern auf ihren Leibern – die Bettler Afrikas in zerlumptem Leinenmantel und zerschlissenem Burnus, die nackten Kinder von den Oasen bei Sidi-bel-Abbès oder bei Tuggurt sehen königlich aus gegen ihre verschleppten und zivilisierten Vettern.

Tragigrotesk die weißbärtigen Neger mit harten Hüten, die schwarzen Matronen mit den längst zerfallenen Heckenrosen auf schwarzem Strohhut. Noch immer, noch immer hocken sie vor Onkel Toms Hütte. Außerhalb der Stadt ist ein Hüttendorf, die Hermitage, aus der Sklavenzeit unverändert erhalten. Die Neger tun heute dasselbe wie damals, sie arbeiten hart in den Baumwollplantagen, tragen und laden die schweren Ballen. Saust ihnen auch die neunschwänzige Katze nicht mehr über den blutenden Rücken, Massa zahlt ihnen nur das, was gerade zum Essen und Wohnen reicht, das also, was sie damals bekamen.

Ich habe die schwarzen Schauerleute nach ihrem Lohn gefragt. Dreißig Cent die Stunde. Für 100 Pfund gepflückter Baumwolle – soviel kann eine Negerin mit ihren Kindern an einem Tage schaffen – bekommen sie einen Dollar, in der Baumwollmühle zwölf Cent für die Stunde.

Der Kai ist ein Hochgebirge von Ballen und Kisten mit wollener Ware. Auf Draisinen bewegen sich dunkle Fahrer von den Stapelplätzen zum Landungsplatz, wo Genossen die Last auf die Hebemasten haken und emporwinden.

Ein oder der andere Ballen platzt. Dann bücken sich die Farbigen und kehren mit den Händen die Watteflocken zusammen, und die schwarze Wolle ihrer Köpfe mischt sich auf der Erde mit der weißen, der teureren.

Auch Kisten mit »Snowdrift« (was so etwas wie Baumwollfett zu sein scheint), mit Harz, Terpentin und Kolophonium werden verfrachtet.

Der Barbier, bei dem ich mich rasieren lasse, erzählt mir, es seien vierzigtausend Neger in der Stadt ansässig, die neunzigtausend Einwohner hat. »Sie haben viel mehr Kinder als wir«, seufzt er, »die Schulen sind voll von ihnen. Was soll werden, wenn sie die Mehrheit haben . . .« – Vielleicht machen sie dann die Weißen zu Sklaven?

Diese kleinen Städte Amerikas haben mit New York nichts gemein, als daß man auch hier englisch spricht, einen weißen Hallenbau für die Saving Bank, die Sparkasse, aufgerichtet, einen Wolkenkratzer auf die Main Street gestellt hat und daß Woolworth eine Filiale besitzt; aber hier hat er Konkurrenz, alle lokalen Ramschgeschäfte benutzen sein ziegelrotes Schild mit den goldenen Buchstaben und der Aufschrift »5 and 10 Cents Store«.

Den Drugstore gibt's auch, er dient mehr den Zusammenkünften, seine Bar vertritt den Stammtisch. Überhaupt, was der Drugstore, die angebliche Drogerie, alles ist! Vor allem: Überbleibsel des Blockhauses, in dem der Digger eine Handvoll Nuggets auf den Tisch warf und sich dafür einen guten Sattel aussuchen konnte, ein paar Pistolen, ein Hemd und einen mächtigen Bärenschinken. So vielseitig kann man auch heute noch darin einkaufen: Ansichtskarten, Schinkenbrot, Zahnbürste, Romane, Zigaretten, Eislimonade, Briefmarken, heißen Kaffee, Uhren und Kameras. Wenige Drogerien führen Drogen, ohne daß der Laden deshalb auf seinen Ehrentitel verzichtet – wer möchte, o du Land der Demokratie, wer möchte denn ein Gemischtwarenhändler sein, wenn er ein Drogist sein kann!

Ja, also, außer diesen Kleinigkeiten hat Amerikas Provinz nichts gemein mit Europas Brückenkopf an der Hudsonmündung. Untereinander ähneln sich die Kleinstädte viel mehr. Dafür sorgt vor allem der große Gleichmacher. In New York, wo das Volk gottlos ist, nicht so unbedingt an den alleinseligmachenden Himmelsvater der Standardisierung glaubt, wagt er sich nicht auf die Straße, aber in der Kleinstadt unterstützt »Sears, Roebuck & Co.« den Text und die Bilder seines allumfassenden Versandkataloges durch die Schaufenster einer Filiale.

Jeder Staat Amerikas ist von einem aus England herübergekommenen Manne gegründet worden, der sich im Laufe der Jahrhunderte den Titel eines voraussehenden Staatsmannes, echten Philosophen und wahren Menschenfreundes samt zugehörigem Denkmal vor dem Rathaus der Hauptstadt erwarb und der seinerzeit mit einem edlen Indianerhäuptling Frieden schloß.

In Savannah, der Hauptstadt von Georgia, heißt besagter Vereiniger von staatsmännischer, philosophischer und philanthropischer Tugend James Oglethorpe, und sein Partner beim Friedensvertrag war Tomatschitschi, Häuptling der Yamacraws. Außerdem gibt es Helden aus den beiden Kriegen gegen die beiden Erbfeinde: England und die Nordstaaten. Die militärische Tradition hat sich erhalten, man sieht viele Kasernen, und Kinder in Uniformen der Armee.

Der Erfolg von »The Beggar's Opera (»Dreigroschenoper«) ist noch nicht bis hierher gedrungen, das Theater hält erst bei dem Reißer »Regen« und kündigt ihn als »the most talked-of play of the Century« an. Wenn wir noch erwähnen, daß am 20. Mai 1819 der allererste Überseedampfer »City of Savannah« von hier seine Reise antrat und am 20. Juni des gleichen Jahres in Liverpool eintraf, so glauben wir alles gesagt zu haben, was sich einem schlichten, in den Straßen Savannahs promenierenden Leichtmatrosen an Tatsachen aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser Stadt darbietet.

Als unser Schiff Anker gelichtet hatte, kaum zwei Meilen auf dem Fluß zurückgekommen war, dem Ozean zu, grüßte die Dampfpfeife – eine Frau. Sie stand auf einer Insel im Fluß, schwang ein großes weißes Tuch. Die Matrosen erwiderten diesen Gruß, sie kannten sie schon, »the waving girl of Savannah«, und der Lotse Captain MacKenzie wußte sogar, daß sie Flora Martin heiße, 65 Jahre alt sei und seit 1880 auf Elba Island stehe und jedem Schiff zuwinke, bei Tag mit dem großen weißen Tuch und bei Nacht mit einer Laterne.

Es soll ein Seemann gewesen sein, den sie geliebt und der sie verlassen hat vor fünfzig Jahren. Sie winkt, denn auf einem Schiff muß er doch einmal vorüberkommen, und er wird wissen: dieser hartnäckige, jahrzehntelange Gruß gilt ihm. Er wird an Land gehen, gerührt von solcher Treue, und wird bei ihr bleiben. Dann braucht sie nicht mehr bei Tag und Nacht Tuch und Laterne zu schwingen. Künftige Geschlechter, von Savannah südwärts steuernd, werden sich die Geschichte erzählen, »das winkende Mädchen von Savannah«.

Und da wir nun schon einmal bei Liebe und Romantik sind, so wollen wir auch erwähnen, daß alle Matrosen, die gestern an Land gewesen, sich aus prophylaktischen Gründen eine Einspritzung mit Protargol machten.

In der Nacht auf den 16. steuerten wir in den St. John's River und legten in Jacksonville an. Das ist die letzte Station auf unserer Fahrt nach Süd und West, das letztemal Ufer. Es wurden zehntausend Kisten Grapefruit an Bord genommen. Grapefruit ist die Lieblingsfrucht der Amerikaner, weil sie nicht ein Naturprodukt ist, sondern eine Erfindung, ein Kreuzungsprodukt von Apfelsine und Zitrone, so daß sie nichts riskiert: ist sie sauer, was wollen Sie denn, wie soll sie denn sein, sie stammt doch aus der Zitrone! Ist sie dagegen süßlich und wässerig, so kommt das eben von der Orange her.

Etwa ein Kilometer war vom Landungsplatz zur Straßenbahn zu Fuß zu gehen, ein Weg, auf dem man kaum zu atmen vermochte. Schwefelgeruch von einer Kunstdüngerfabrik füllte die Atmosphäre; an gelben Hügeln arbeiteten Neger.

Eighth Street East stiegen wir in die Straßenbahn ein. Auf den Plätzen waren Aufschriften: »White« oder »Colored«. Die Zurücksetzung des Negers war uns überall begegnet, sie schien traditionell und uneingestanden, aber daß ihm von Amts wegen ein anderer Platz als dem Weißen zugewiesen wird, hätte man doch nicht für möglich gehalten.

Die Tram führte uns in diese Stadt Jacksonville, deren Namen wir nie gehört hatten. Vom Winter und von der Arbeit kommend, sahen wir sie. Zuerst: geschnitzte Bretterhäuser, auf kurzen Pfählen stehend, von blühenden Beeten umduftet; auf den offenen Veranden saßen weißgekleidete Männer und Frauen auf Gartenstühlen oder auf Schaukeln. Das waren die »Whites«. Die »Colored« bewegten vorsichtig leicht die Schaukeln oder reinigten die Wege zwischen den Beeten.

Dann begann das Straßenpflaster. Die Stadt öffnete sich, und wir erstaunten. Wunderbare Avenuen mit Alleen gepflegter Palmen verbreiterten sich zu Parkanlagen von tropischer Pracht. Mädchen in ganz hellen, ganz grellen, ganz durchsichtigen Sommerkleidern schritten uns, die wir unvorbereitet waren, entgegen. Andere saßen mit übergeschlagenen Beinen plaudernd an den Tischen der Drugstores und der Automatenrestaurants. Weißgekleidete Herren mit Spazierstöckchen machten ihnen Fensterpromenade – sind wir in Amerika oder in Spanien, schreiben wir Mittwoch, den 16. Januar?

Auf dem Dach des Y.M.C.A.-Gebäudes (Young Men's Christian Association) spielte man Handball, in den Geschäften wirbelte der »Elektrische Fächer«, der Ventilator, über dem Kopf jedes Eiscreme-Essers oder Eislimonadentrinkers, in einem Laden, der dem Skee Ball, einem lustigen Kegelspiel, dient, drängten sich die Leute, Männer mit Schutzbrillen gegen die Sonne verhandelten an den Straßenecken, das Logenhaus der »Shriner«, eines Freimaurerordens, war geöffnet, man konnte eintreten durch ein ägyptisches Portal mit grünen Sphinxen und silberblauen Skarabäen und die Altarbrüder im Heiligtum hemdärmelig Billard spielen sehen. Blumen wurden überall verkauft, unwahrscheinlich hellfarbige Blumen, dünn wie aus Seidenpapier, aber dennoch echte Blumen. Ein Block aus Gold, so lag die Sonne zwischen den Häuserreihen.

Auf freiem Platz haltend, lädt ein Autobus zur Rundfahrt nach Fort San Augustin, dem ältesten von Europäern besiedelten Platz Amerikas. Einigen Damen, die unschlüssig sind, beteuert der Führer, dort sei noch eine Markthalle für den Sklavenhandel, wo bis zum Bürgerkrieg die schwarze Ware, männliche und weibliche gemeinsam!, unbekleidet!, öffentlich! feilgeboten wurde. Die Damen steigen ein.

Wir können nicht das gleiche tun, dürfen nicht länger unter Palmen wandeln, müssen an Bord, die Luken über den nunmehr eingelagerten zehntausend Grapefruit-Kisten schließen, die Taue lösen.

Im Augenblick der Ausfahrt bricht ein Platzregen nieder. Die Küste Floridas entlang schauen wir sehnsüchtig nach den Kastellen und Villen am Zauberufer.

Zwischen Palm Beach und Miami kommen wir nachts an einer riesigen Jacht vorbei. Ihre Masten und Kamine und Geländer sind mit Glühkörpern in den Farben des Regenbogens illuminiert, vom Deck tönt Jazzmusik. Lichte Paare tanzen, eine Dame in Lindengrün, den Fuß auf die Reling gestützt, winkt uns zu, die wir, ihr ewig fremd, vorüberfahren.

Noch ein Schiff überholen wir, einen merkwürdigen Bagger. Er ist zweistöckig, sieht wie ein Puppenhaus aus, die Kabinen sind außenbords offen. Es wird noch gearbeitet an den Pumpen, der emporgeförderte Schlamm geht durch eine kilometerlange Röhre ans Ufer, wo er Ackerland wird.

Da wir zurückschauen, überschneiden die flammenden bunten Konturen des Millionärschiffs die Lichter des Arbeitsdampfers, als ob sie brüderlich beieinanderlägen. In Wirklichkeit trennt sie ein Zwischenraum.

 

Uff! Das ist schon lange her, seit wir Jacksonville passiert haben, den letzten Hafen unserer Fahrt. Die »Hannawah« hat inzwischen drei Schritte gemacht, jeden Tag einen mit ihren 240-Meilen-Stiefeln, und jetzt schwimmt sie unter dem Kreuz des Südens, sechs Sternen, die abends ein Doppelkreuz bilden, dem Äquator zu.

Nicht leicht war es, das niederzuschreiben, und es wird täglich schwerer. Die Hitze, sie wälzt sich über das Deck, die Hitze, sie wärmt das Wasser der Dusche, die Hitze, sie drängt sich unter den Propeller der Ventilatoren. Nackt gehen wir umher, das Taschentuch, mit dem wir gestern noch bekleidet waren, ist heute gefallen, es klebte sich zu fest an die Haut. Ich habe Schwindelanfälle, die Nächte sind schlaflos, auch außer der Zeit, da ich auf dem Auslug stehe.

Wir fahren eben die Bahama-Inseln durch, Britisch-Westindien, an San Salvador vorbei, wo Kolumbus landete. Morgen geht es zwischen Kuba und Haiti in das Karibische Meer und in die Doldrums – etwas, was mit Windstille und heißen Luftströmungen zu tun hat und wahrscheinlich auch einen deutschen Namen besitzt.

In dieser Tropenglut der tropischsten Tropen wohne ich in einem engen Raum mit neun anderen. Es sind sechs Matrosen, »A. B.« genannt (able-bodied seamen), und wir vier Leichtmatrosen, ordinary seamen. Acht haben Kojen, je zwei übereinander angeordnet. Nur ein alter Ordinary, der plattfüßig ist, stottert und als eine Art Narr behandelt wird, und ich hängen inmitten der Stube. Ist es geglückt, in die Hängematte zu klettern, so pendelt sie noch lange, wie wohl meine Wiege pendelte, die ich verlassen habe vor – ja, richtig, vor zweiundzwanzig Jahren. Zwei dicke Laken sind über das Netzwerk gelegt, doch sie verhindern keineswegs, daß ich am Morgen ein Muster von zusammenhängenden Rhomben auf meiner Haut trage.

Wir zehn sind es nicht allein, die den Raum, die »skants«, füllen, sondern noch zehn kleine Blechschränke für die Arbeitskleider und die Arbeitswäsche und zwei große Schränke für die Ausgangskleider. Über ihnen ein dreifarbig nacktes, lächelndes Frauenzimmer – Wandkalender einer Firma für Seemannsartikel in Seattle, Washington. Vor jedem Zweibett eine Bank, auf die wirft man Stiefel und Kleider, wenn man sich niederlegt, und unter ihr stehen die Koffer. Wir zwei Fledermäuse haben natürlich keine Bank; unser Gewand muß einfach auf der Erde bleiben, nachdem wir mit Hilfe eines Stuhls zur Ruhe gestiegen sind.

Die Tür ist offen, und die Ölmänner in der Kabine gegenüber lassen ihr Grammophon laufen bis Mitternacht, unterbrochen von Darbietungen auf zwei hawaiischen Geigen.

Man kann die Luft in unserem Schlafsaal nicht als gut bezeichnen, dieweil die Kleider, Wäschestücke und Stiefel, in denen alle tagsüber gearbeitet haben, sich nachts tiefatmend erholen. Auch ist es mitnichten angenehm, bruchstückweise Grammophonmusik zu hören und zu spüren, wie sich die Haut mit einem Muster zusammenhängender Rhomben imprägniert.

Immerhin hatte ich in den ersten Nächten geschlafen, denn die Arbeit ermüdet. Dave Dunge wies sie mir in reichlichem Maße zu; dennoch war ich mir bis zu der Geschichte mit den Briefen nicht klar darüber, ob er mir aufsässig sei. Davon später.

Von acht Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags ist daywork. Auf dem Bootsmannstuhl sitzend, wird man den Mast emporgezogen, oben macht man sich das Brett mit einem Knoten fest; dem Knoten vertraute ich anfangs wenig und war allzeit bereit, wenn er sich lösen sollte, mich mit den Händen am Tau zu fangen und festzuhalten. Schließlich lernt man es aber, auch an den selbstgeschürzten Knoten zu glauben.

Der Mast wird mit einer Bürste abgerieben, der Kübel mit dem Seifenwasser ist unter dem Schwebesitz angebunden; Anfänger schaukeln bei der Arbeit, und das Seifenwasser spritzt hinab, worauf man von den Untenstehenden als Sohn einer Hündin bezeichnet wird.

Anders ist die Behandlung der Ladebäume. Sind die zu waschen oder zu streichen, so läßt man sie herunter. Man sitzt also nicht mehr, während der Mast steht, sondern man steht, während der Mast liegt, und zwar liegt er in Mannshöhe, festgehalten vom Sockelpflock. Der Inhalt der Eimer klatscht in rasantem Bogen überallhin, das Wasser fließt den Körper hinunter, wer Gummistiefel besitzt – sie reichen bis zum Schritt und kosten vier Dollar –, zieht sie zu dieser Arbeit an.

Senkrecht bleiben die beiden Hauptmasten, wenn sie neues Schiffsgelb empfangen. Um den Kamin zu lackieren, wird man wieder auf dem Bootsmannstuhl hochgezogen, einen Topf mit schwarzer, später je einen solchen mit weißer und roter Farbe unter sich an das Sitzbrett gehängt. Der Kamin hat einen roten Ring und darin eine mächtige weiße Swastika, zu deutsch: Hakenkreuz, das schön und ordentlich zu streichen und dabei der Heimat zu gedenken ich mir nicht nehmen ließ.

Schwarz sind die Windfänge außen zu färben und viele andere Schiffsbestandteile, von deren Existenz ich jetzt scheuernd erfuhr. Vom Teeren aber wollen wir, bitte, nicht reden.

Portland, Heimathafen der »Hannawah«, liegt auf der Pazifikseite Amerikas, wohin unser Kurs geht. Wir sind also »homeward bound«, und das ist der Grund, weshalb das alles nicht schon auf der vorigen Fahrt, auf der von Portland nach New York, getan worden ist. Allmorgendlich schickt der Chefingenieur dem Bootsmann, unserem Dave Dunge, einen Zettel achtern, auf dem geschrieben steht, was heute zu leisten ist. Dave Dunge weist die Matrosen und uns Leichtmatrosen an, welchen Teil der Aufgabe jeder zu vollbringen hat.

Acht Stunden beträgt die Arbeitszeit. Ich mache nur vier Stunden daywork, vormittags von acht bis zwölf. Dafür muß ich von Mitternacht bis vier Uhr am Bug Wache halten. Ich luge aus. Sehe ich ein Schiff, einen Leuchtturm oder Land steuerbords auftauchen, ziehe ich den Strang der Glocke über der Ankerklüse einmal, kommt eines backbord, so gebe ich »zwei Glasen«, ist eines geradeaus, lasse ich »drei Glasen« erklingen. Ist ein Schiff hinter uns, auch wenn es uns vorfährt, so geht mich das nichts an; auszuweichen ist die Sache jener.

Mein Glockenzeichen gilt den beiden Männern auf der Kommandobrücke, dem Navigationsoffizier und dem Rudergänger, einem A. B.-seaman. Sie haben in ihrem Häuschen nicht so feinen Ausblick und sind mit Kompaß, Steuerrad und Karte beschäftigt.

Der Kollege, der von acht bis zwölf Dienst hat, weckt mich zwanzig Minuten, bevor mein Dienst beginnt. Wenn die Glocke auf der Brücke Mitternacht schlägt, nur achtmal läutet sie, gehe ich auf meinen Platz. Nichts sehe ich stundenlang als ein riesenhaftes Lager von Staubkohle, durch das wir waten; ein wenig glitzert der pulverisierte Anthrazit unter unseren Schritten. Das ist das Meer, das sind meine Nächte.

Wir passierten die Bahama-Inseln, heute wanden wir uns durch zwischen Kuba und Haiti, zwischen Haiti und Jamaika – Inseln, wo Zauber wohnt und das Paradies noch lebt. Was waren sie für mich? Kuba: ein Glockenzeichen, Haiti: ein Glockenzeichen, Jamaika: zwei Glockenzeichen!

Mitten in die Seekarte sind die Verhaltungsmaßregeln gedruckt für Hurrikane, das heißt für Schiffe, die in einen Hurrikan geraten. Bis jetzt ist nichts von einem Herannahen des grausen Karussells zu merken, toi, toi, toi. Wir haben genug daran, daß sich die Sonne mit ihrer ganzen Last auf uns legt, als ob wir Hängematten wären, und daß unter uns das Meer nichts ist als rieselnder Kohlenstaub.

Zu Anfang amüsierten mich die fliegenden Fische. Sie fliegen nicht – vielleicht ist ihnen die Luft zu heiß –, sie schwirren aus dem Wasser empor und sausen die Oberfläche entlang wie flitzende, blitzende Kieselsteine, von kundiger Hand der Dorfjugend über das Wasser des Teiches geschnellt. Jetzt schaue ich ihnen nicht einmal mehr zu, obwohl sie leuchten bei Nacht.

Auf der Kommandobrücke wird auch geläutet, alle halben Stunden: um halb ein Uhr nachts: ein Glas, um eins: zwei Glasen und so fort bis zu den acht Glasen, die für den Offizier, den Rudergänger und mich das Ende des Dienstes bedeuten. Diese klingenden Zäsuren verlängern die Zeit des Wartens nur. Die Sterne schaukeln und springen, wenn sie wissen, jemand beobachtet sie von der Spitze eines Schiffes.

Zwanzig Minuten vor vier Uhr klopfe ich an die Kabinentür des Ersten Offiziers, so lange, bis er mir die Tatsache, daß er erwacht ist, mit der Formel bestätigt: »Go to hell, damned fool.« Dann wecke ich den dritten Rudergänger, der sich hierfür mit den Worten: »Dry up, you son of a bitch« bedankt. Und schließlich versichert mir mein Kollege, den ich auf den Beginn seines Dienstes aufmerksam mache: »I don't give a shit . . .«

Allmählich aber kommen sie alle vor, und ich darf wieder in mein Netz, mich bis halb acht Uhr morgens mit Rhomben imprägnieren lassen. Frühstück, hernach Tagesarbeit, Mittagessen im Meßraum, und nachmittags kann ich, kardanisch gehängt, schlafen, wenn ich's nicht vorziehe zu schreiben.

Das Karibische Meer, durch das wir jetzt schwimmen, ist die erste Landschaft, die die Gespräche der zehn Schlafgenossen beeinflußt. Jeder weiß – es scheint eine verbreitete Jugendlektüre in Amerika zu sein –, daß hier der Bukanier sein Handwerk trieb, der Seeräuber des siebzehnten Jahrhunderts, der Schrecken der spanischen Kauffahrtei in Westindien. Östlich von uns – so nah an Nikaragua und so fern von uns, daß ich nicht einmal den Glockenstrang ziehe – sind die Inseln der Piraten, Saint Andrew und Old Providence, Berge darauf. Steile Ufer, vorgelagerte Korallenriffe und ein Felsen, der die Züge des Korsarenhäuptlings Morgan trägt und »Morgan Head« heißt, ließen den Pfeffersäcken und ihrer Armada den Versuch nicht ratsam erscheinen, das Nest ihrer Peiniger auszuheben. Dennoch haben die ihre Beute, ungeheure Schätze von Gold und Edelgestein anderswo aufbewahrt – all das liegt auf der Cocos-Insel vergraben. Viele hundert Schiffe haben sich aufgemacht, den Räuberhort zu finden, aber alle erlitten Schiffbruch, wenn sie sich dem Eiland näherten. Wie wär's, Jungens, wollen wir es einmal versuchen?

Die Matrosen und die Leichtmatrosen erzählen mir, der ich in der Mitte des Schlafraums schwebe, gleich Mohammeds Sarg in der Kaaba, mit Begeisterung von den Freibeutern und ihren Kaperschiffen. Ihre Begeisterung gilt den Piraten, nicht mir. Warum sollten sie für mich auch nur Sympathie empfinden? Ich bin der ungeschulteste Arbeiter, offenkundig ein Außenseiter, kenne die Personen und die Lokale nicht, um die die Gespräche gehen, und die Aufsässigkeit Dave Dunges (davon später) trägt nicht dazu bei, mich beliebt zu machen. Und doch werde ich als einer der Ihren angesehen, denn ich habe etwas mit ihnen gemeinsam: ich habe Jack London gelesen und liebe ihn, wie alle rings um mich. Wir sprechen von dem Ende des Romans »Martin Eden«, das dadurch nicht weniger unwahrscheinlich wird, daß der Autor später selbst dieses Ende nahm, und wir sprechen von der »Eisernen Ferse« . . . Darüber ist viel zu sprechen.

Heute wuschen wir das Bootsdeck, nachmittags war Feueralarm, abends stürmische See. Dazwischen ein Tag, eingeschnürt in eine Schlinge des Äquators, wir glaubten zu ersticken.

Wir sind nahe dem Panamakanal, von wo wir Post senden können. Verschiedene Dinge, Wäschestücke, Papier, zollfreie Zigarren, Parfüme usw. kann man beziehen, der Funker notiert die Bestellung und wird sie bei der Einfahrt dem Kommissionär übergeben. Auch ich habe Briefe aufzugeben und den Wunsch nach hundert ägyptischen Zigaretten und komme daher heute, 23. Januar, neun Uhr, zum Radiomann, dem »sparks«, der sich, wie oft, mit mir unterhält, während die Kurzwellen einander Geschichten erzählen, von Weltmeer zu Weltmeer, schnurrige Geschichten und surrende Geschichten von Weltteil zu Weltteil.

Plötzlich wird er blaß und nimmt den Hörer.

Aber er würde ihn nicht brauchen, ich höre so wie er: . . . – – – . . . S–O–S.

Rettet unsere Seelen!

Es ist still geworden von Weltmeer zu Weltmeer, von Weltteil zu Weltteil; alle surrenden und schnurrigen Gespräche haben zu verstummen, wenn dieser Aufschrei ertönt: SOS.

Die Station Kuba ruft in den Äther: »Wo bist du? Gib uns deine Position.«

Antwort: SOS.

Weiter nichts als der Hilferuf. Das Schiffsradio der Schiffbrüchigen hat zu hören aufgehört, wahrscheinlich ist der Empfänger schon vernichtet, der Funker drückt nur auf den Taster . . . – – – . . . mit einem neidischen Blick auf jene, die sich in die Rettungsboote schwingen und vom Hurrikan wieder emporgeschleudert werden. Sie hegen noch Hoffnung auf Rettung ihrer Seelen. Nicht mehr retten kann sich der Funker. Man sieht die Todesgedanken, man sieht diesen Todeskampf von Menschen über tausend Meilen hinweg, in derselben Sekunde, gleichzeitig. Unheimlich ist das und beklemmend.

Irgend jemand irgendwo scheint von nichts zu wissen und funkt. Ganz schrill – denn sie ist uns besonders nahe – ruft die Station Colon im Panamakanal ihr »kusch« ins All: QRT.

Die Stille im Funkraum ist das Echo der Stille, die in der Unendlichkeit eingetreten ist – bis auf das Knacken der Luftelektrizität. Luft und Wasser sind Mordkomplicen. (Preist nur die Natur, ihr Naiven!)

Kuba fordert dringend Auskunft: »Deine Position! Deine Position!

Niemand antwortet Kuba.

Nicht einmal das . . . – – – . . . ist mehr zu hören. Ungerettet blieben die Seelen.

Schon will das Gezwitscher und Gesurre wieder beginnen, da tönt ein neues SOS in den Raum. Unfern dem ersten ausgestoßen, aber von einer anderen Station: . . . – – – . . . Anschließend ein Radiogramm. Unser Funker, angeschnallt die Hörer, schreibt:

»SOS SOS SOS de KOPD KOPD KOPD: SS Dannedaiki sinking Lat. 37,56 north, Long. 59,37 west. Require immediate assistance. Any ships near position please report.«

Zwei Minuten Totenstille. Dann eine Antwort an den Kapitän der sinkenden »Dannedaiki«:

»KOPD de KDMQ Master KOPD. Our position about 75 west yours. We are coming your assistance at once. Please keep us informed your weather. Signed Master SS President Harrison.«

Und fürchterlich und unglaublich: mitten in diese Antwort stößt ein drittes Schiff den dreifachen Todesschrei aus:

»SOS SOS SOS de IXB IXB IXB Lat. 38,05 north, Long. 60,12 west. SS Florida . . . and lost rudder . . . Wind west force 10, seas high . . . please . . . need help.«

Auch ihr, der mindestens steuerlosen »Florida« wird zu helfen versprochen: »IXB de . . . 39,54 north . . . 4 west . . . you . . . changed course for your position . . . Signed Master SS America.«

Unser Funker knüllt seine Radiogramme zusammen und wirft sie in den Papierkorb. Wir können nicht helfen, sind viele Breitengrade südlicher und viele Längengrade westlicher. (Nachts, da ich von der Wache gehe, hole ich die Telegramme aus dem Korb.)

 

Märchenhaft die nächtliche Einfahrt in den Panamakanal, vor allem für uns, die wir die Lichtgirlanden der Städte lang entbehrt haben. Hier spiegeln sie sich golden in seichtem Gewässer, in das wir mit ein Drittel Dampf einfahren, ganz langsam, und dann den Anker rollen lassen. Rechts ist Dschungel, links eine weiße Stadt. Ihre Landungsplätze blitzen wie des Sultans Marmorpalast im Goldenen Horn.

Bei Tag sehen wir das alles viel deutlicher und schöner und haben Zeit, es zu betrachten, denn viele große Schiffe »sind im Begriffe, auf dem Kanale hier zu sein« (Goethe), und sie kommen vor uns dran; die deutsche »Isis«, das französische Schlachtschiff »Edgar Quinet« mit vier Kaminen, das drüben am Kohlenhafen bunkert, Frachtkähne mit Brettern aus Kalifornien, ein Dampfer mit Eisenerz aus Chile, ein Kabelleger, die französische »Miriam«, die Gefangene für das Bagno an Bord haben soll, vier Frachtschiffe der Luckenbach-Linie, »James Luckenbach«, »Julia Luckenbach«, »Edward Luckenbach« und »Paul Luckenbach«, ei der Tausend, da muß doch schon die ganze Familie Luckenbach komplett sein, Ölschiffe, ein Postschiff »Mongolia« und nicht weniger als zwanzig Schiffe der Kriegsflotte, darunter ein Dreadnought.

Von Toro Point hinüber nach der Marinestation und dem Torpedohafen von Coco Solo Point verkehrt eine aus Zement gebaute Fähre. Hydroplane schwingen sich vom Wasserspiegel in die Lüfte.

Die weiße Stadt ist Colon, gehört zu Panama und soll gutes Bier, gute Schnäpse und gute Zigarren haben. Jenseits des Eisenbahngeleises hinter den Landungsbrücken liegt die Stadt Christobal. Das ist schon Kanalzone, also USA, Prohibition herrscht und amerikanisches Rauchzeug. Glücklicherweise ist's für Christobals Yankees nur drei Minuten weit zu den irdischen Genüssen.

Südlich von Christobal steht eine Druckerei am Ufer, das Trockendock, der Friedhof »Mount Hope« und eine Raffinerie. Das Trockendock und den Friedhof haben die Franzosen angelegt und drei Kilometer »Kanal«, einen schmalen, von den Amerikanern nicht verwendeten Durchstich, der niemals zum Transport der Schiffe, sondern nur der Spekulation dienen sollte: wurde ein neu vollendeter Kilometer gemeldet, so schnellten die Börsenkurse empor. Unzählige Familien Frankreichs wurden finanziell zugrunde gerichtet, weil sie dem Namen Lesseps und der Unfehlbarkeit der heimatlichen Ingenieure glaubten. Mehr als ihr Geld verloren Tausende, die hierher zogen, um an dem Sieg des französischen Unternehmungsgeistes und der französischen Technik mit eigener Hand mitzuarbeiten. Das gelbe Fieber hat sie geholt. Vom Deck unseres Schiffes sehen wir den Friedhof »Mount Hope« mit den Kreuzen und Hügeln über den wahren Opfern des Panamaskandals.

An Bord kommt der Agent der Schiffahrtsgesellschaft und bringt Zeitungen mit, »The Panama Tribune«, »Panama-American« und »Star and Herald«, die zweisprachig sind. (»Pagina deportiva« heißt die Sportrubrik auf spanisch!)

Auf die vorgestrigen Schiffskatastrophen bezieht sich nur eine kurze Meldung in den Blättern. Das erste Schiff, dessen SOS wir vernahmen, war der britische Frachtdampfer »Tessbridge« mit 38 Mann Besatzung; ohne Zweifel ging er unter. Über das Schicksal der sinkenden »Dannedaiki«, die ein amerikanischer Öltanker ist mit einer Bemannung von 33, und das der »Florida«, italienisch, Bemannung: 35 und Passagiere, ist nichts bekannt.

Ausführliche Erläuterungen über die massenhafte Anwesenheit der amerikanischen Kriegsmarine finden wir in den Blättern. Nichts Geringeres hat sie zu verhindern als die Zerstörung des Panamakanals. Wann soll denn die Vernichtung erfolgen? Schon in der nächsten Woche! Und wer ist es, der dieses Zerstörungswerk beabsichtigt? Neun Schlachtschiffe, ein Flugzeugmutterschiff »Saratoga«, viele kleinere Einheiten und 97 Flugzeuge. Und woher kommt diese Flotte? Vom Stillen Ozean, sie nähert sich bereits dem Orte Balboa. Und wer ist diese Kriegsmacht? Sie ist die »Black Fleet«. Und welchem Staat gehört sie? Sie gehört den USA. Das Ganze ist das diesjährige große Flottenmanöver.

Keine Angst, die »Blaue Flotte« wird die schwarze schon zurückschlagen! Obwohl wir vom Angriff des bösen Feindes überrascht worden sind und nur vier Schlachtschiffe und auch weniger Torpedoboote als er bei der Hand haben, nur 24 Aeroplane, den Flugzeugtender »Lexington« und 22 Wasserflugzeuge! Wir besiegen ihn, bevor wir Verstärkung durch die vom Norden des Atlantiks heransegelnde Hauptflotte bekommen! Gelingt es ihnen dennoch, den schwarzen Schurken, uns zu überrennen, dann sollen sie an unserer Festungsartillerie im Kanal ihre blauen Wunder erleben, und auch die Infanteriebesatzung an den Schleusen ist bis zum letzten Mann entschlossen, ihren angestammten Panamakanal vor Vernichtung zu schützen.

Ich gehöre zu der Bemannung des Frachtschiffes »Hannawah«, das in diesem brudermörderischen Kampfe strengste Neutralität bewahrt. Pazifistisch und neutral, wünschen wir beide Parteien zum Teufel, denn wir müssen ihretwegen warten. Nacht, Tag und wieder Nacht. Wir werden ungeduldig.

Mit einer elektrischen Signallampe fragen wir über drei Meilen und viele Schiffe hinüber den Leuchtturmwächter, wann wir endlich in den Kanal dürfen: »When do we move?« Antwort: »I will find out.« Schließlich buchstabiert er mit zuckenden Lichtern zu uns herüber: Morgen um sechs Uhr vormittags.

Und so geschieht es. Ein Lotse steigt ein und einige nonchalant zerrissene Eingeborene. Sie haben die Seile zu knüpfen, an denen wir durch die Schleusenkammern geschleppt werden. Große grüne Zitronen, Kokosnüsse, Bananen und Ansichtskarten bringen sie an Bord, wofür sie so viel Geld verlangen, daß niemand etwas kauft. Wahrscheinlich hat jemand diese Preise für die Passagierdampfer festgesetzt, und niemand kam auf den Gedanken, bei der Mannschaft der Frachtschiffe nach niedrigerem Tarif zu verkaufen. Für Alkohol bekämen sie freilich so viel, wie sie wollten. Aber sie dürfen keinen an Bord bringen, darauf steht eine Strafe von 200 Dollar oder zwei Monate Haft. Das Schmuggelgeschäft betreiben andere – größere und hellere Herren.

Übrigens machen sich die schwarzen Westindier nichts daraus, daß ihnen wenig abgekauft wird. Mit dem nackten Hintern, der aus den Resten ihres Hosenbodens lugt, setzen sie sich im Kreis auf Platten glühenden Eisens, das Deck, und spielen Domino.

Die Lemon Bai durchfahrend, sehen wir noch einmal den »French Channel«, wie aufgedämmt aus Straßenkot von planschenden Kinderhänden und doch das Corpus delicti eines Massenmordes.

Wir kommen durch die drei Schleusen der atlantischen Seite, die Gatun-Locks. Jeder dieser flüssigen Fahrstühle hebt uns etwa zwölf Meter empor, denn das Niveau der panamaischen Seen liegt 34 Meter über dem Meeresspiegel. Auf der pazifischen Seite, bei Pedro Miguel und Miraflores, werden wir drei ebenso hohe Stockwerke hinabsteigen müssen.

Was aber liegt dazwischen?

Dazwischen liegt das Weltwunder.

Dazwischen liegt der vollführte Entschluß, aus einem Weltteil zwei Weltteile zu machen. Dazwischen liegen 44 Meilen, die den Westen des Erdballs dem Osten um 8000 Meilen näher brachten, als er seit der Erschaffung der Welt war.

Dazwischen liegt eine Barauslage von 34 Milliarden Dollar. Die Kosten anderer Kanäle, des Suezkanals mit 127 Millionen, des Kieler Kanals von Nordsee zu Ostsee mit 40 Millionen und des Kronstadt-Leningrad-Kanals mit 10 Millionen Dollar Kosten, sind wohlfeile Anschaffungen dagegen.

Dazwischen liegt menschliche Arbeit.

Sie mußte zur Korrektur der Natur geleistet werden. Die wehrte sich verzweifelt. Sandte Erdrutsch auf Erdrutsch gegen das Werk. Schickte Armeen von Moskitos und Wolken des gelben Fiebers gegen die Arbeiter. Feuerte die heißesten Strahlen und hetzte Alligatoren und Krokodile gegen den, der vor der mordenden Sonne ins Wasser zu flüchten versuchte.

Wie unschuldig und verführerisch die Landschaft jetzt daliegt! Leicht gewellt dehnen sich die beiden Urwälder, die aus dem einen geworden sind, backbords und steuerbords dem Himmel zu. Farnkräuter, groß wie Palmen, und Palmen, ohne Stamm wie Farnkräuter. Ein ungeahntes Grün und ein ungeahntes Gelb sind die Komponenten dieses tropischen Dschungels, nur Gauguin hatte solche Farben auf seiner Palette. Am Gipfel der flachen Hügelwellen, die der Horizont sind, vereinigt sich das Laubwerk zu Kegeln, als stünde dort ein Dorf von runden, geflochtenen Hütten.

Über dem totenstillen Wasser, durch das wir fahren, schaukeln blauschimmernde und hellviolette Schmetterlinge. Vögel stelzen oder springen am Ufer umher, samtene und seidene.

Hinter dem Gestrüpp sind Sümpfe und Schlamm versteckt. Von den Menschen, die hier jahrelang gearbeitet haben, durfte es niemand wagen, in den Schatten zu gehen. Auf beiden Seiten des dichtestbelebten Schiffahrtsweges ist jungfräuliches Gebiet.

Auch zwischen Felsen windet sich die Strecke zeitweise hindurch, sie ist hier eingleisig, man muß die Schiffssirenen schrillen lassen und an einer etwas verbreiterten Stelle warten, wenn über der Felsenspitze signalisiert wird, von der Pazifikseite komme ein Dampfer.

Gestein, Land und Schlamm wegzuschaffen, das war die erste Arbeit für den Panamakanal, der Durchstich; Dynamit, Schaufel und Bagger die ersten Hilfsmittel. Dann erst kam der Damm, das Land zwischen den Seen in Wasser zu verwandeln, indem man den Chagres River in einem Reservoir auffing. Und schließlich errichtete man die Maschinenanlagen, um die Schiffe von der Tiefe des Meeres zur Höhe des Kontinents zu heben und von der Höhe des Kontinents wieder zur Tiefe des Meeres zu senken, ihnen mit elektrischen Linealen den Weg von Kammer zu Kammer zu weisen.

Ein ausgeruhtes Köpfchen hat berechnet, daß ein Lastzug, beladen mit der diesem Isthmus entrissenen Erde, zweimal so lang sein müßte wie der Äquator, 165 Millionen Kubikmeter wurden bis zu zwölf Meilen weit weggeschafft.

Mehr als eine halbe Million Kilogramm Dynamit war der Monatsbedarf innerhalb des Jahres, in dem der Kanalbau zum Culebra Cut vorschritt. Hier wurde ein steinerner Riesenberg mit Luftkompressoren tief durchlöchert, in jedes der Löcher eine Tonne Dynamit gestopft und elektrisch entzündet, bis er gesprengt war, um Raum für den künstlichen Strom zu schaffen. Hatte sich der Urwald schleichend gerächt – das Felsenmonstrum rächte sich vehementer: urplötzlich, als die Menschenhand ihr Werk schon vollendet glaubte, brach sich der gespaltene Leib nochmals selbst entzwei, stürzte hinab, alles zerschlagend und verlegend.

Je vier schmalspurige Lokomotiven, wie Tanks gebaut, ziehen das Schiff in die zementene Staukammer empor oder hinab; ihre Geleise krümmen sich schärfer aufwärts als die Berg- und Talbahn des Lunaparks.

Steht man am Bug des Schiffes, so sieht man das Wasser in die nächste Schleusenkammer strömen, sich aufbäumend und schäumend und tobend muß es von dorther, wo man es nicht mehr braucht, dorthin, wo man es braucht.

Nachdem wir die drei Treppenstufen auf der Atlantikseite erklommen haben, hören die elektrischen Kanalschlepper auf, uns zu ziehen, nur die Neger, die uns an die kleinen Lokomotiven gebunden und wieder losgebunden haben, bleiben an Bord und spielen vierzehn Stunden lang Domino.

Diese vierzehn Stunden lang fahren wir mit eigener Kraft ganz langsam, bis wir gegen Mitternacht auf einem anderen Weltmeer auftauchen.

Woran hat uns dieser Tag vorbeigeführt! An Flamingos und an Baggern, an Krokodilen und Leuchtbojen, an Kolibris und an den schwimmenden Demag-Drehkränen »Ajax« und »Herkules« mit je fünfzig Tonnen Hebekraft, an Port Miguel mit seinen glasgedeckten Veranden und seinen goldenen Palmengärten und an schwimmenden Gesteinsbohrern, an den Ruinen der französischen Maschinen aus der Zeit des ersten Panamatraums und an kobaltblauen Schmetterlingen, an fliegenden Fischen und einer schwimmenden Kraftstation.

Und an unerfreulichen Dingen. An Kasernen zum Beispiel, luftig gebaut wie Bungalows und anscheinend doch nicht bewohnbar, denn lange Reihen von Zelten stehen davor, der Eingang mit Gaze verhängt. Darin schlafen die, die sich von den Werbeplakaten an den Straßenecken locken ließen. Zwei Jungens, man weiß nicht, ob sie Pfadfinder oder Soldaten sind, sitzen am Schleusenkai. Wir fragen sie: »Hallo, guys, you belong to the army?« – »Sure, we stay in Camp Clayton.« – »Have you been here a long time?« – »Two months, and jail looks good to us.«

Sie meinen damit, jedes Zuchthaus scheine ihnen ein Paradies, seit sie hier in Garnison sind. Wir sehen aber auch das Zuchthaus in concreto. Die schwarzen Westindier, vom Dominospiel aufstehend und scheu ans Ufer lugend, flüstern mir zu, wer abends die Drähte berühre, sei gleich tot. Canal Zone Penitentiary ist eine lückenlos geschlossene Holzhalle im Einschnitt des Gambo-Hügels: ein Glasturm mit Maschinengewehr für den Wächter; auf einer terrassenförmigen Erhöhung die Häuser der Beamten. Das ganze Tal: ein Käfig aus stählernem Draht.

Marine – die »Blaue Flotte« – fährt vor uns, neben uns und hinter uns, und überall gibt es Befestigungen und Geschütze.

Zwischen den Staukammern sind breite Dämme, und auf diesen spielt sich etwas ab, was wir längst vergessen haben: Leben. Festländisches Leben. Wir starren hinunter. Drei Mädchen – einander untergefaßt haltend – gehen spazieren. Ein weißgekleideter Herr zieht vor ihnen seinen mit Luftlöchern geschmückten Strohhut. Männer ohne Rock tragen dort, wo der Gentleman seinen Revolver trägt – ein Telefon, das heißt ein Hörrohr mitsamt Mikrophon und Draht; von Zeit zu Zeit gehen sie zu einem der Zementkandelaber, schalten sich ein und sprechen.

Ich habe – seit zehn Tagen zum erstenmal – Strümpfe und Schuhe angezogen, Hosen und ein Hemd mit Kragen und Krawatte. In Miraflores, der letzten Schleuse, frage ich vom Deck herab einen der Knaben, die auf dem Kai spielen, ob er mitkommen möchte. Der Kleine sagt nichts. »Ne sais-tu pas répondre?« schilt die Gouvernante. »Ah, Madame est française?« – »Non, Monsieur, je suis de la Suisse.« – »De quelle ville, Madame?« – »De Berne.« – Dütsch? Ja, dütsch. Reden wir deutsch. Von Berner Burgern und Bürgern. Sie hat schon lange nicht mehr Deutsch sprechen gehört. Freilich, freilich kennt sie Herrn Dr. W., er ist ein Freund ihres Vaters.

Wir stehen uns jetzt gegenüber, auf gleicher Plattform. Als das Gespräch begann, schrie ich von vier Meter Höhe hinab, jetzt bilden Deck und Kai eine Fläche. »Das ist ein sehr gelehrter Mann, der Herr Dr. W., und auch ein netter Mensch ist er, hier aber gibt's keine besonders netten Menschen, überhaupt keine Ansprache, ich möchte . . .«

Bei jedem Wort muß sie einen Schritt vorwärts gehen, denn unser Schiff sinkt, sie ist schon nahe an dem Seil der Lokomotive, am liebsten möchte sie es überspringen.

»Bleiben Sie heute in Balboa?« fragt sie herunter.

»Nein, wir fahren gleich weiter«, rufe ich hinauf, dorthin, wo ich nur ihre Beine sehe. »Schade«, ruft sie.

»Sehr schade«, schreie ich, ich sehe auch ihre Beine nicht mehr. Das letzte Tor der letzten Schleuse öffnet sich, der Panamakanal entläßt uns, wir fahren in den Pazifischen Ozean hinaus.

Am Ende des Piers von Miraflores weist ein transparenter Pfeil nächtlichen Schiffen den Weg. Unter dem Lichtpfeil steht das Mädchen aus Bern. Sie winkt mit dem Taschentuch. Die drei Kinder, die sie zu betreuen hat, müssen auch winken, obwohl sie nicht wissen, warum. Hier spielt sich das Ende eines Romans ab, der nicht begonnen. Vielleicht wäre er von Claude Farrère.

Ein Motorboot kommt heran, macht an uns fest, der Lotse klettert die Strickleiter herab. Nach ihm die Neger, sie drängen sich am Heck des Kahns zusammen.

Beleuchtet sind die Straßen von Panama, Hauptstadt der Republik, beleuchtet die Fenster von Balboa, der Festung des Kanals, und ihrer auf den vorgelagerten Inseln zum Herstellungspreis von zwölf Millionen Dollar ausgebauten Forts. Sogar auf Palo Seco, einer Sammelstelle für die amerikanische Leprakolonie von Agua Bendita in Kolumbien, brennen Lichter. Achtern funkelt noch der Pfeil oberhalb der Schleuse von Miraflores. Aber darunter ist niemand mehr, der mir winkt.

Old Panama liegt im Dunkel, es ist eine Ruine. Vor dreihundert Jahren hat Morgan, der große Pirat, die Stadt eingeäschert.

Wir dampfen südwestlich bis Cap Mala und den siebenten Breitengrad entlang, ganz nahe dem Äquator. Bei der Insel Quileo, zur Republik Panama gehörig, wenden wir Nordwest. Es geht an vielen Staaten vorbei: Costarica, Nikaragua, Honduras, San Salvador, Guatemala, Mexiko.

 

Gewiß, auch die Anstreichearbeit hat ihre Nachteile. Die Befürchtung, daß die Strippe, mit der man seinen Schwebesitz in einer Höhe von sechs Metern befestigt hat, nicht kunstgerechtdauerhaft geknüpft ist, gehört nur örtlich zu den höchsten der Gefühle. Zu ebener Erde arbeitet man sicherer.

Ganz mechanisch läßt sich's allerdings auch unten nicht machen. Nach ehernem Brauch müssen bestimmte Teile des Schiffes in bestimmten Farben gestrichen werden, die Ankerspills und die Innenseite der Windfänge, die Alarmglocken, die Feuerlöschgeräte, die Hydranten und das Geländer der Kommandobrücke zinnoberrot, die Türen braun, die stählernen und die hölzernen Mastbäume ledergelb (buff), das ganze Deck, Reling, Davits, Funkenrahe, Maschinen und Winden zuerst mit roter Bleifarbe und dann schwarz, Rettungsboote und Wände oben weiß und unten mastgelb. (»Finishing color« steht auf den Farbentöpfen – nie habe ich daran gedacht, daß das Wort »Firnis« vom lateinischen »finis« kommt.) Man muß achtgeben, daß der Pinsel mit einer Deckfarbe nicht ausrutscht, fährt er in den andersfarbigen Teil, so ist alles verdorben.

Die Lacke besudeln den Körper des Anstreichers, und die Tropensonne brennt diese Flecke ein. Für ewig? Mit heißem Wasser und Seife gehen sie nicht weg, am allerwenigsten unter der Seewasserdusche.

Schwellen und Türklinken sind aus Messing und werden mit »grease« poliert (weiß der Teufel, wie die Putzpasta, Schmiere und alle diese Dinge auf deutsch, geschweige denn auf seemannsdeutsch heißen).

Weitaus am schlimmsten ist es, die alte Farbe und den darunter befindlichen Rost von den Eisenplatten des Decks abzukratzen. Der steel scraper, den man mit beiden Händen festhält, macht keine Haarstriche. Man muß aufdrücken, sonst geht nichts weg, kein Stäubchen des tief eingefressenen Rostes. Wenn man aber aufdrückt – zuerst entsteht auf dem rechten Daumen eine Blase und auf beiden Handflächen Schwielen. Man will schlau sein, stützt den Kratzerstock nicht mehr auf den Daumen, sondern auf die anderen Finger. Auch hier bilden sich Blasen, und der Anfänger glaubt, dadurch, obwohl er noch nicht eine einzige Platte fertig hat, von weiterer Entrostungsarbeit befreit zu werden. Stellt sich als Irrtum heraus. Er kann Handschuhe anziehen, was ihm früher nicht eingefallen ist, da die anderen keine anhaben.

Im Personalstand unseres Schiffes sind zwei definitive und mehrfache gelegentliche Änderungen eingetreten; kurz nach Abfahrt von Jacksonville erkrankte ein Matrose und stöhnte nächtelang vor Unterleibsschmerzen, bis in Lemon Bai ein Arzt an Bord kam, Blinddarmentzündung konstatierte und den armen Kerl, dessen Zustand sich in den langen Tagen der Seefahrt sicherlich verschlimmert hat, nach Colon zur Operation nahm; er wurde auf der angeseilten Matratze in ein Spitalsboot hinabgesenkt.

Glücklicher war ein Heizer, der im Maschinenraum stürzte, sich den rechten Unterarm und den Beckenknochen brach. Er war deshalb glücklicher, weil sich der Unfall in Culebra Cut ereignete und er schon wenige Stunden später, bei Pedro Miguel, ärztliche Hilfe bekam; er humpelte vom Deck zu einem Wagen des nahen Ancon-Hospitals. Die anderen Fälle waren Fußverstauchungen und ein Durchfall mit Fieber.

Vertretungen mußten erfolgen, und so habe ich zwei Tage in der Mannschaftsmesse und vier Tage in der Offiziersmesse als Steward fungiert. In der Mannschaftsmesse ist der Zinnteller mit Suppe, dann der mit Fleisch und Gemüse und der mit Pudding aufzutragen und schließlich die Blechtassen mit Kaffee.

In der Offiziersmesse wird vor dem Essen der Tisch gedeckt, die Bestecke, Zucker- und Butterdosen und die Servietten in ihren Ringen angeordnet. Es gibt eine Speisekarte, und jeder Offizier kann eines von den beiden Fleischgerichten wählen; serviert wird hier in Porzellantellern und Porzellantassen. Die »steam table«, worin die aus der Küche geholten Speisen warm gehalten werden, steht nicht wie bei der Mannschaft im Eßzimmer, sondern in einem Nebenraum, der Pantry. Zwei Mittagessen sind zurückzustellen: für den eben wachehabenden Offizier und den im Dienst befindlichen Ingenieur.

Nach dem Frühstück (½9), dem Dinner (½12) und dem Supper (½6 Uhr) sind in der Pantry die Schüsseln, Gläser, Teller und Tassen zu waschen, die Speisereste wegzuschütten und das Eßzimmer zu reinigen. Kaltes Fleisch und eisgekühlter Tee bleiben nach dem Abendbrot auf dem Tisch für die Offiziere, die in der Nacht von der Wache kommen.

Während ich auftrage oder, an die Anrichte gelehnt, darauf warte, bis der Gang vorbei ist, werde ich vom Kapitän oder von den Offizieren ins Gespräch gezogen, befragt, und man disputiert mit mir. Äußerliche Betonung eines Standesunterschiedes, das Distanzhalten und das Katzbuckeln, der Begriff des Respektverhältnisses, all das, was in Europa und insbesondere in Deutschland jeder Zigarrenfritze von seinem »Untergebenen« verlangt, existiert nicht. Man spricht mit dem Fabrikbesitzer, dem Präsidenten des Verwaltungsrats, dem Chef genauso wie mit dem Laufburschen; der Kapitän bittet den Öler um eine Zigarette, ein Leichtmatrose fragt den Ersten Ingenieur um Feuer. Sie sind durchaus nicht alle gleich, sie sind sogar viel ungleicher als in Europa, aber da sich jedermann nur nach dem Dollar bemißt und vom anderen weiß, »wieviel er wert ist« (dieser Wertbegriff wird auch in allen Biographien, Nekrologen, Handbüchern und Festreden ziffernmäßig angewendet), und da jedes Dollarplus ein Plus der Lebensform bedeutet, das durch keinerlei andere Eigenschaft ausgeglichen werden kann, so ist die Hervorhebung des Unterschiedes überflüssig.

Von Kaiser Franz I. wird erzählt, daß er beabsichtigte, allabendlich mit den Bauern seines Schloßdorfes Kegel zu spielen, diesen Wunsch jedoch aufgab, als ihn bei der ersten Partie ein Bauer fragte, wann er denn die Leibeigenschaft aufheben wolle.

Keiner der amerikanischen Kaiser hat eine solche Frage zu befürchten, denn Kaiser und Bauern denken über alles gleich und sind nicht nur für die Beibehaltung der allgemeinen Leibeigenschaft, sondern auch der allgemeinen Geisteigenschaft, Kaiser und Bauer lesen genau dieselben niveaulos aufgemachten Zeitungen, genau dieselben hirnverbrannten Magazine, dieselben phantasielos-abenteuerlichen Kurzgeschichten, alle sehen dieselben Kitschfilme, und alle hören das uniformierte Programm des Radios, des Grammophons und der Sonntagskirche. Ob sie nun für Hoover oder für Smith gestimmt haben, sie sind begeistert darüber, daß Hoover Präsident wurde, da er persönlich ein hochanständiger Mensch ist – wäre Smith gewählt worden, könnte er jetzt der hochanständige Mensch sein. (Das ist übrigens überall so: vor drei Jahren habe ich in Warschau den Pilsudski-Putsch erlebt, die vier Tage, in denen sich auf den Straßen die Leichen häuften, bis am Morgen des 16. Mai 1926 Pilsudski in der allgemeinen Meinung ein »persönlich hochanständiger Mensch« geworden war.)

Außerdem sei Smith Katholik, und die Religion bleibe besser von der Politik fern. Wirft man bescheiden ein, daß Hoover Protestant sei, also die Religion auch bei ihm nicht von der Politik fernbleibe, bekommt man zu hören: das sei etwas ganz anderes, ein Protestant wird nie . . ., aber bei den Katholiken, ha, »ich habe einen Katholiken gekannt . . .«, »in unserer Stadt war eine katholische Famili . . .«.

Über die Minderwertigkeit der Neger – über die Notwendigkeit der Todesstrafe – daß Sacco und Vanzetti vielleicht unschuldig gewesen seien, aber man durfte sich von Schreiern nicht einschüchtern lassen – darüber, daß es zum Teufelholen ist, kein Glas Bier trinken zu können, die Prohibition jedoch aufrechterhalten werden muß, »weil die Arbeiter am Samstag ihren Lohn vertrinken würden« – über Automobilmarken und Lebensfragen ist man sich vollkommen einig.

Die Gespräche und Ansichten und Ausdrücke, die mathematisch gleichen, die man von Kaufleuten auf Manhattan und von Beamten in Washington und von Arbeitern in Pennsylvanien gehört hat, hört man in der Offiziersmesse und auf dem Achterdeck wieder. Die Main Street der selbstbewußten Engstirnigkeit führt nicht nur, wie Sinclair Lewis meint, von jeder Kleinstadt des Ostens geradewegs zu jeder Kleinstadt des Westens, sie verläuft auch durch den Broadway New Yorks bis an die Landungsplätze und darüber hinaus auf beide Ozeane. Wir schwimmen auf Gopher Prairie durch den Meerbusen von Tehuantepec.

Was fragt man mich? Warum »thé Kaiser« den Krieg »gestartet« hat. Ob er ein Sadist war. Ob die Deutschen froh sind, daß Amerika sie vom Kaiser befreit hat. Ich sehe mich in die spaßige Lage versetzt, Wilhelm II. verteidigen zu müssen, indem ich etwas über die Kriegsursachen sage. O weh! Ich erfahre erst hier, Kaiser Wilhelm habe den Mord in Sarajevo persönlich organisiert, um jedem seiner vielen Söhne einen Thron zu verschaffen.

»Und daß Captain Schweiger der Freund, der beste Freund des Kaisers war, wissen Sie auch nicht?« Nein, ich weiß nicht einmal, wer Captain Schweiger ist! »Der hat die ›Lusitania‹ versenkt mit tausend Frauen und Kindern, mit hundert Amerikanern, und deshalb haben wir sofort den Krieg an Deutschland erklärt.« So? Ich glaube, die Kriegserklärung kam mehr als ein Jahr später. Wir streiten, und schließlich wird der »World Almanac« geholt, ein Buch mit hohen Auflagen, weil es alle Wetten entscheidet und als Hilfsmittel für Kreuzworträtsel unentbehrlich ist.

Ich borge mir das Jahrbuch aus und lese es abends: die Gesetze der Bundesregierung und Gesetze einzelner Staaten, die Kerkerstrafen auf Ehebruch und Bruch des Eheversprechens, die Verbote des Theaterspielens und des Sports am Sonntag, des Unterrichts in der Entwicklungslehre; lebenslänglicher Kerker für jeden, der das viertemal verurteilt wird, auch wenn er nur eine Übertretung des Prohibitionsgesetzes begangen hat. Ich lese das projektierte Gesetz gegen die noch immer vorkommende Lynchjustiz an Negern.

Und ich lese, nicht ohne persönliche Anteilnahme, das Einwanderungsgesetz, besonders den Absatz 2 des Artikels: »Excluded classes«, worin jenen die Einreise verboten wird, die der Idee eines gewaltsamen Umsturzes anhängen und Mitglieder oder Freunde von Organisationen sind, die Unglauben (disbelief) oder Opposition gegen die Regierung lehren; auf die Übertretung dieser Bolschewiken-Klausel steht die strengste Strafe des Einwanderungsgesetzes: fünf Jahre Kerker und Geldstrafe bis zu fünftausend Dollar.

Das lese ich vor dem Schlafengehen im Meßraum, nicht mehr in meiner Hängematte, denn keine Lampe bescheint sie. Wir liegen schon lange in freier Luft, auch zur Nachtzeit.

Tagsüber gehen wir nackt herum, nur mit dem Hut bekleidet, nicht von wegen »wenn doch jemand kommt«, sondern weil Sonnenstich unangenehm ist. Man möchte sich auch die Haut vom Körper reißen, dieses enganliegende unbequeme Kleidungsstück. So ist uns eingeheizt. Brennenden Leibes fahren wir Mexikos Ufer entlang, und was sehen wir dort auf dem Festland, was winkt uns höhnisch herüber? Schnee! Es sind, wie ich der Karte entnehme, zwei feuerspeiende Berge, der Vulcano de Safa (14 118 Fuß hoch), auf indianisch Pico Helada genannt, und der Vulcano Colima, 12 745 Fuß.

 

Cap San Lucas ist die Südspitze der kalifornischen Halbinsel, deren unterer Teil zu Mexiko gehört. Wir sind zum 24. Breitengrad emporgestiegen, und noch glühen wir nachts unter dem Kreuz des Südens, noch schlafen wir auf Deck. Aber wir haben wieder Hosen an, wenn wir arbeiten.

Dave Dunge. Kein Zweifel, er haßt mich. Das wußte ich schon in den ersten Wochen der Reise, obwohl er sich verzweifelt zusammennahm – er fürchtete, ich würde in einem der Häfen desertieren. Dann wäre er um sein, das heißt um mein Geld gekommen.

In Jacksonville sah ich den Agenten der Schiffahrtskompanie mit Post an Bord kommen. Wenige Minuten später standen oder saßen die Offiziere und einige Matrosen herum und lasen Briefe. Ich erhielt nichts. Das war mir unverständlich, denn ich hatte in New York gebeten, mir alles nachzusenden. Erst nachts lagen zwei Briefe auf meiner Hängematte, die vorher nicht dort gewesen waren. Uneröffnet. Dave Dunge hatte jedenfalls den Auftrag gegeben, meine Briefe aufzufangen und ihm einzuhändigen, wenn er aus der Stadt komme. Er wollte sich überzeugen, ob mir Deborah schreibe. Möglicherweise hat sie es getan – dann hat er eben den Brief. Bin nicht neugierig.

Ich schreibe diese Tagebuchnotizen entweder im Meßraum oder – bohrt sich die Sonne nicht allzutief in mein Fleisch – irgendwo auf dem Schutzblech sitzend, das befestigt ist über den vier durch das ganze Schiff führenden Röhrenleitungen für Dampf, Frischwasser, Wasserspülung und Wasser für die Feuerlöschschläuche.

In den ersten Tagen machte sich Sid, ein A. B.-seaman, der eine Kreatur Daves ist, an mich heran. »Was schreibst du da?« – »Einen Zeitungsartikel über unsere Reise.« – »Zeig mir, was du schon geschrieben hast.« Er versteht natürlich nicht deutsch, obwohl er auf einem Getreideschiff in Bremen war, von dort einen Abstecher nach Berlin gemacht hat und immer vor den anderen mit mir »deutsch« spricht: »Bringe Sie mir thwei Bier.« Und dann, mit seinen Sprachkenntnissen genugsam imponiert habend, beteuert er: »Oh, I like Berlin. The Köllnischer Fischmarkt – that's a wonderful place.« Hab ich gar nicht bemerkt, es wird wohl in Berlin places geben, die more wonderful sind als ausgerechnet der Köllnische Fischmarkt, aber ich sage: »Oh, yes, it's really a fine place.«

Er will also sehen, was ich geschrieben habe. Ich gebe ihm ein paar Seiten, in meinem so unbequem hingekritzelten Manuskript könnte kaum ich, geschweige denn Sid das finden, was er sucht, den Namen »Deborah«. Daß es kein Brief an sie ist, hat er wohl gemerkt, denn es ist deutsch, und Deborah versteht nicht einmal die Worte: »bringe Sie mir thwei Bier« und »Köllnischer Fischmarkt«. Vielleicht aber ließe sich erkennen, wie weit meine Liebe zu Deborah gediehen ist oder ob ich Dave Dunge als gehörnten Liebhaber verhöhne.

»Was kann man denn so viel über unsere langweilige Reise schreiben? Übersetz mir etwas daraus.« Ich lese ihm vor, was ich eben über den Panamakanal notiert habe, und er geht.

Dave Dunge hegt sicherlich keinen Zweifel an den deutschen Sprachkenntnissen seines Spitzels und weiß daher aus Sids Geheimbericht, daß meine Schriftstücke persönliche Mitteilungen nicht enthalten. Trotzdem hängt Dave mir die übelsten Arbeiten an: die Dampfsirene anzustreichen, die auf einer hohen Stange vor dem Rauchfang befestigt ist, oder die Brillen der Mannschaftsaborte zu lackieren. Das tue ich mit sichtlichem Vergnügen. Ich schimpfe nur über den nächtlichen Wachdienst am Vordeck, damit Dave mich auf diesem Posten belasse.

Offen darf er mir seinen Haß ja nicht zeigen, denn er hat meinen Lohn noch nicht in der Tasche. Mit schlechtgespielter Freundlichkeit unterhält er sich mit mir. Ich überlege, ob ich ihm das Geld nicht erst nach der Landung auf dem Ufer auszahlen soll, wo sicherer Boden ist. An Bord würde ich bei einer Rauferei den kürzeren ziehen. Er kann mir auch die Strickleiter wegziehen, wenn ich aussteige . . .

Ohne viel raffinierte Gesprächsübergänge zeige ich eines Abends in der Messe meinen Browning. »Muß ihn immer bei mir haben, wohne in Berlin in gefährlicher Gegend, und wenn man so viele Reisen macht . . .« – »Hast du ihn denn schon gebraucht?« – »Leider«, brumme ich. »War das Unglück meines Lebens.« – »Weißt du, daß du furchtbar eingehst«, sagt mir einer, »wenn man erfährt, du hast eine Schußwaffe an Bord genommen?« Nein, das wußte ich nicht, hab ich doch die Schiffsartikel unterschreiben müssen, ohne sie gelesen zu haben. Aber ich erwidere: »Hab dem Capt'n den Revolver gezeigt, er hat sich ihn erklären lassen und mir wiedergegeben.«

Seit dieser öffentlichen Vorführung meiner Waffe trage ich sie wirklich in meiner Hosentasche. Nachts lege ich sie unter das Kissen der Hängematte. Sonst würde sie bald verschwinden.

Ich bin wieder Kellner in der Offiziersmesse. Die Gespräche kenne ich schon auswendig. Jeder der Offiziere hat einen anderen Bildungsgang, der eine die Ingenieurhochschule absolviert, der andere war noch beim vorigen Trip ein Öler; der eine hat Will Dunant gelesen, einen der zehn eben modernen Vulgärphilosophen Amerikas; der andere ist informiert über Sigmund Freud (sprich: Professor Fruhd), da seine Frau ganz »crazy« mit Psychoanalyse ist; der eine ist Quäker und hat Smith gewählt, der Captain – nach eigener vertraulicher Angabe – sogar Mitglied des Ku-Klux-Klan, der nationalistisch-amerikanisch-protestantischen Femeorganisation, und gleichzeitig – siehe sein Abzeichen – Mitglied der Freimaurer, die Menschenliebe und Weltverbrüderung zu propagieren glauben.

Sie sind über alles einig. »Der Kellogg-Pakt macht jeden Angriffskrieg in den nächsten dreißig Jahren unmöglich.« – »Sure, die amerikanische Kriegsflotte (Nachrichten über die eben im Senat verhandelte Cruiser-Bill bringt der Funker) muß die stärkste der Welt sein, aber nur deshalb, weil wir die größte Küste der Welt zu schützen haben.« Die militärische Besetzung von Nikaragua? »Die war notwendig, um dort endlich Ordnung zu schaffen, und man sollte es mit allen mittel- und südamerikanischen Staaten so machen. Und die Weiber und die Pazifisten sollte man einfach einsperren.« Über Sozialisten und »radicals« wird überhaupt nicht mehr gesprochen; woran die aufgehängt gehören, darüber besteht keine Meinungsverschiedenheit. »Die Kerle wollen ja nur Geld machen.« – Lenin? »Aber seien Sie nicht so naiv, der Mann wird schon sein fettes Bankkonto gehabt haben wie alle anderen.«

Nach dem Essen, den letzten Bissen noch im Mund, hasten alle davon – ich brauche nicht einmal die Aschenbecher hinzustellen. Meine Gäste gehören zum Volk derer, die allmorgendlich und allabendlich den gleichen Fraß im Automatenrestaurant herunterschlingen, die sich vor der Arbeit und nach der Arbeit von den Fußtritten des Schaffners in die kompakte Masse der Untergrundbahnfahrer hineinfetzen lassen, sie gehören zum Volk derer, die ihren Sporttrieb vor den telegrafisch bewegten Diagrammen der Baseballwettspiele, ihren gesellschaftlichen Ehrgeiz beim Lesen der Society news, ihren wirtschaftlichen Ehrgeiz bei Betrachtung der Wolkenkratzer und ihren sexuellen Ehrgeiz beim Besuch der Burlesks und anderer leg shows ausleben, ihre literarische Bildung aus ephemeren Kitschgeschichten der Magazine und der Filme beziehen, zur wissenschaftlichen Aufklärung im Gänsemarsch in den High Schools und Colleges antreten und politisch von der Schule und hernach von den klischierten Tageszeitungen ausgebildet werden.

Wohin kann man während der Mittagspause auf einem Schiff rennen? Zwei wollen gemeinsam mit dem diensthabenden Öler im Maschinenraum das Kreuzworträtsel der Zeitschrift »Individuality« lösen. Ein anderer die Biographie Henry Fords im Magazin »Personality« zu Ende lesen. Einige spielen Dame oder Halma in der Kajüte mittschiffs. Die meisten haben sich aus der Bücherkiste, die von der »American Merchant Marine Library Ass.« zur Verfügung gestellt ist, einen der hanebüchenen, mit bunten Illustrationen versehenen Liebesromane ausgeborgt. Kapitän und Chefingenieur lassen kein Radioprogramm aus, obwohl manchmal alle 35 amerikanischen Broadcastingstationen nacheinander die gleichen, von Reklamen für die Zigarettensorte »Lucky Strike« unterbrochenen Musikstücke senden.

Eine Bäuerin auf dem Balkan hat selbständigere Gedanken, ein Eskimo interessiert sich mehr für Lebensfragen als der Americano. Es ist, als ob ein riesenhaftes Megaphon das in Reih und Glied angetretene Hundertzwanzigmillionenvolk zu streng einheitlichen Übungen in »individueller Betätigung« kommandierte. Jedes Wort, das sie sagen werden, weiß man schon im voraus, es sind ja nicht so viele Worte. »All right« zum Beispiel. Das bedeutet: »Ganz richtig« – »ja, sehr gerne« – »nein, das macht nichts« – »schon recht« – »aber, bitte« – »das stimmt«. Und wenn zwischen ihrem »sure« und »all right« etwas eingefügt werden muß, so kommt ein »damned« davor, damit sie Zeit gewinnen, dieses Wort aus ihrem Gehirnmagazin hervorzuholen.

Sie hasten vom Essen weg und stehen bei der Arbeit herum, sie sind das Volk, das in der Pause eilt und sich bei der Arbeit Zeit läßt. (Sklaven und Emigranten werden's schon erledigen.) Mit Vorliebe sprechen sie über den Krieg. Wieso ich denn bestreiten könne, daß die Deutschen die Gefangenen im Schützengraben gekreuzigt, ihnen den John Henry abgeschnitten und in den Mund gesteckt haben? »Well, Sie haben es nicht gesehen, die Front war viele tausend Meilen lang, aber bei uns stand es in den Zeitungen und wurde von der Kanzel herab verkündigt.« Ich brülle, sie sollten sich schämen, zehn Jahre nach dem Krieg solchen Mist zu glauben, der 1914 bei uns auch zu lancieren versucht wurde gegen Belgier und Serben. Nun denken sie, mein Nationalgefühl sei empört, und das tut ihnen leid, sie haben ja nichts gegen die Deutschen, im Gegenteil, sie sind jetzt gegen England: »Wir wollen ja nicht sagen, daß es das deutsche Volk war – unter Millionen Soldaten finden sich auch ein paar sadistische, kriminelle Naturen, das ist doch selbstverständlich. Und die anderen machen es eben nach . . .«

Von Rußland wissen sie auch nur solches Zeug, das scheinbar politisch ist, aber den gewünschten sexuellen Einschlag hat, von der Sozialisierung der Frau (Benützungsdauer: eine halbe Stunde) und von Millionen räubernder, schändender und geschlechtskranker Knaben. »In Moskau betteln doch nachts Menschen auf der Straße, auch Kinder.« Ich halte ihnen entgegen, daß es im reichen Amerika ebensoviel Bettler gibt, unbefugte und »licensed«, daß Kinderarbeit noch schlimmer als Kinderbettel ist und daß am Halloween und am Thanksgiving Day die Straßen New Yorks voll armer Kleiner sind, von ihren Eltern oder von fremden Bosses kostümiert und zum Tanzen, Singen und Betteln angehalten. Und die Buben, die in den nächtlichen Waggons der Untergrundbahn ausrufend mit unbeschreiblich schweren Zeitungspaketen herumlaufen? Und in Wall Street die zerlumpten Zehnjährigen, den Börsenbesuchern die Stiefel putzend, statt zur Schule zu gehen? Und . . . meine Diskussionsgegner lachen mich aus. »Das ist business, mein Lieber. Unsere größten Millionäre haben so angefangen!«

 

Es ist Februar geworden. Noch 1200 Meilen haben wir zu machen, und die Tagesration beträgt 240 Meilen. Jeder wäscht seine Taschentücher, Socken, Hemden und Unterhosen. Auch ich. Nicht sehr gut. Aber ein solch großartiges Kunststück, wie uns das die Frauen weismachen wollen, ist es nicht, das weiß zu machen.

Der Koch, ein schöner irländischer Bursche, gab mir gestern Adressen in Los Angeles an, Lokale, wo man tanzt und Whisky kriegt, wo auch Mädchen hinkommen, die in Filmen mitspielen, natürlich nur in kleinen Rollen, ein Hotel, wo man billig und ungestört wohnen kann, ein gutes Restaurant. Auf meine Frage, wieso er sich so gut auskenne: seine Braut sei in einem Modengeschäft von Los Angeles angestellt. Er zeigte mir auch ihr Bild, das über einem Paket Briefe liegt, sie schreibt ihm nach jedem Hafen und er ihr auch. »Da bist du ja glücklich, daß du übermorgen wieder in Los Angeles bist!« – »Ach was, hol's der Teufel!« Dann brummte er etwas von der verdammten Navy, und als ich fragte, was denn die Kriegsmarine mit seiner Freundin zu tun habe, erklärte er mir die tragikomische Situation einer Seemannsliebe:

»Jedes Schiff unserer Kompanie macht im Jahr viereinhalbmal den gleichen Trip, von Portland (Oregon) nach New York und wieder zurück. Es läuft also die Häfen neunmal an. Bei einem dieser neun Hafenurlaube in Los Angeles habe ich meine Braut vor drei Jahren kennengelernt und seither jedes Jahr neunmal gesehen. Ich war auf der ›Hiawatha‹. Wies die verfluchte Hölle will, die ›Hiawatha‹ macht immer am Zehnten eines Monats in Pedro (dem Hafen von Los Angeles) fest, manchmal auch einen Tag früher, manchmal einen Tag später, aber immer so um den Zehnten herum, und das ist gerade eine schlechte Zeit für mein Mädel, du verstehst. Zwei Jahre schon geht das so, da ist mir jetzt die Geduld gerissen, und in New York hab ich mit dem Koch von der ›Hannawah‹ getauscht. Der war natürlich froh, zwei Wochen früher in Portland bei seiner Familie zu sein. Die ›Hiawatha‹ segelte also am 3. Dezember von New York, und wir sollten vierzehn Tage später los. Aber wie's die verfluchte Hölle will, kommt die Geschichte mit dem Untergang der ›Vestris‹ dazwischen, die Schifffahrtsgesellschaft schickt eine Kommission zur Untersuchung der Rettungseinrichtungen, dann erscheint eine Kommission vom Hafenamt, und wir müssen Weihnachten in New York feiern. Ich dachte mir nichts dabei, daß wir acht Tage verlieren, denn ob ich am 24. Januar oder am 1. Februar bei meiner Freundin Anker werfe, kann mir egal sein. Da laden wir in Baltimore Kargo auf Kargo und bleiben vier Tage länger. Hol's der Teufel, denke ich, wenn's nur nicht noch ein Tag mehr wird! Das wäre verdammt! Nun, wir segeln am Elften von Baltimore, und ich freu mich, doch zurechtzukommen. Bums, da ist die ganze Kriegsmarine wegen ihrer verdammt blödsinnigen Manöver, und wir müssen zwei Tage in Lemon Bay sitzen, bevor wir durch den Panamakanal dürfen. Und übermorgen sind wir in Los Angeles – am Zehnten.«

Er sah noch einmal den Kalender an, so wie Polikuschka voll hoffnungsloser Hoffnung noch einmal das Futter seiner Pelzkappe durchsucht, ehe er sich erhängt. Nein, das verlorene Geld ist nicht in Polikuschkas Mütze, und auf des Kochs Kalender steht der Zehner blutigrot.

 

Übermorgen werden wir in Los Angeles sein, und ich werde von Bord gehen. Seit drei Tagen schwimmen wir entlang der kalifornischen Halbinsel, die mexikanisch und feucht ist, morgen überschreiten wir die Alkoholgrenze. Tiajuana, einst nur berühmt durch Pferderennen, ist jetzt das Ziel allabendlicher Autorennen: die Herrschaften aus Hollywood fahren hinüber, um gut zu trinken.

Einen Wunsch an mich hat der Erste Maat, ein leidenschaftlicher Amateurphotograph: ich möge ihm einen Katalog von Zeiß-Jena schicken. Gern, und ich habe auch einen von Goerz zu Hause, den ich nicht brauche. »Ach, Sie werden sicherlich vergessen?!« Da fällt mir etwas ein: »Mate, machen wir einen Tausch: knipsen Sie mich, wenn ich im Hafen von Bord klettere, und schicken Sie mir das Bild. Bekomme ich's, kriegen Sie beide Firmenkataloge.« Er ist einverstanden, ich soll ihn holen, bevor ich aussteige.

Kaum mehr in Erinnerung haben wir die Tage, da wir mit heraushängender Zunge in der Sonnenglut lagen. Kalt ist es, niemand schläft mehr auf Deck. Heute zeigt das Thermometer 50 Grad Fahrenheit, und ein steifer Westwind stößt und rollt unser Boot. Rollt unser Boot dem Hafen zu.

Ich werde ausbezahlt und bringe Dave Dunge meine 42 Dollar 50 Cent aufs Vorderdeck, das von der Kommandobrücke aus einzusehen ist. Droben steht der Captain. Dave sagt kein Wort, während er meinen Lohn in die Blusentasche schiebt.

Nur noch dreißig Meilen nach San Pedro, dem Hafen von Los Angeles! Ein lokaler Wind, »Santa Ana« genannt, von Osten wehend, versucht noch im letzten Moment, uns abzudrängen. Wir schaukeln und dampfen vorwärts. Es ist die Zeit der Flut.

Zweiundzwanzig Meilen lang haben wir das Ufer von Santa Catalina an unserer Backbordseite, die Kaugummi-Insel. Ein vielgepriesenes Eiland, Theater und Kasino sind dort, ein Vogelhaus mit goldenen Pfauen, silbernen Schwänen und orangeroten Flamingos. Unterseegärten, über denen Schiffe mit gläsernem Boden schwimmen, so daß man Meeresgetier und Meeresgewächs beobachten kann. All diese Lustbarkeiten waren noch nicht da, als die spanischen Seefahrer hier landeten und die Insel der heiligen Katharina widmeten.

Der gehört sie nicht mehr, sie gehört dem Mr. Wrigley, dem Kaugummifabrikanten, der das Eiland für eine oder zwei Millionen kaufte, um einen Staat zu besitzen und Herrscher zu sein. Ein neuer Trieb war erfunden und der Menschheit aufgepfropft worden. Zähne und Kiefer der Amerikaner und solcher, die es scheinen wollen, wurden in unaufhaltsame Bewegung gesetzt, auf daß der Kaugummikönig ein wirkliches Königreich erwerben könne, eine große Insel nur für sich allein. – Mr. Wrigley meditierte wie der träumerische russische Hasenfellhändler: Wenn ich der Zar wäre, so wäre ich noch mehr als der Zar, denn ich würde ja außerdem mit Hasenfellen hausieren! Und so hat Mr. Wrigley sein stilles, privates und einsames Reich als öffentliche Vergnügungsstätte jedem zahlenden Gast zugänglich gemacht. Santa Catalina di Chewing Gum!

An einem ähnlichen Unternehmen kommen wir vorbei, bevor wir den Leuchtturm von Fermin Point erreichen, die Südspitze von Los Angeles. Ein alter, zitronengelb angestrichener Schoner ankert seit Jahr und Tag mitten im Meer. Vor zehn Jahren hätte kein Mensch für den Kasten fünfhundert Dollar bezahlt, und jetzt bringt er seinen Besitzern mehr ein als der stattlichste Passagierdampfer. Er ist eine Spielhölle geworden mit Roulette und Bakkarat und Poker, ein Nachtlokal mit Damen und Jazzband und Tanz, eine Trinkstube mit schottischem Whisky und deutschem Bier und französischem Kognak. Regelmäßiger Bootsverkehr bringt allabendlich Gäste aus Los Angeles. Kein Puritanismus und keine Prohibition können dem Lasterschiff etwas anhaben, denn es ankert ja – wenn auch nur fünf Schritte – außerhalb der Küstengrenze. Geschäftsadresse: 35,35 Grad nördl. Breite, 118,15 Grad westl. Länge.

Der Lotse kommt an Bord und geleitet uns in den Hafen. Grün und golden leuchten die Hügel, grün und golden. Pinien hinter Long Beach, am Horizont sind die Bohrtürme von Signal Hill, berühmt durch den großen Petroleumskandal. Fast alles im Hafen dient dem Öl: Zisternenschiffe und Zisternenwaggons, die Ladeschläuche der Pumpstationen, die Schläuche, wie Därme aus den Tankdampfern hängend, die Raffinerien und die über alle Hügel verstreuten Reservoire, die Speicher, auf deren flachen Dächern hunderttausend Möwen sitzen – all das trägt rot und gelb die Aufschriften »Shell« oder »Standard Oil Company« oder »General Petroleum Corporation« oder »Pan-American Oil Co.«.

Was nicht Öllager ist, ist Holzlager – ungeheure Waldungen Kaliforniens liegen, gefällt und zu Brettern zersägt, rechts und links unserer Fahrt. Die Kreosotstationen vereinigen beide Substanzen des Hafens von San Pedro, hier wird das Holz mit einem Ölprodukt konserviert.

Wir werfen die Leinen aus und vertäuen auf Berth 158. Die Schauerleute, die ausladen, sind nicht mehr Deutsche und Italiener wie in New York, nicht mehr Polen wie in Maryland, nicht mehr Neger wie in South Virginia und Florida, nicht mehr Westindier wie im Panamakanal, sondern bronzefarbene, glatthaarige Mexikaner. (Amerikaner sind es nirgends.)

Drei Beamte der Hafenbehörde erscheinen an Bord und stellen den hier losheuernden Matrosen die Zeugnisse aus. Auch ich bekomme ein mit dem amerikanischen Adler rundgestempeltes »Certificate of Discharge« eingehändigt, worin der U.S. Shipping Commissioner und der Captain unterschriftlich bestätigen, daß der Matrose E. E. K. ordnungsgemäß abgefertigt wurde und daß sein Charakter very good und seine Fähigkeiten gleichfalls very good sind. Nicht ohne Stolz steckt der Seemann ein solches Zeugnis in die Tasche.

Ich bin fertig. Ziehe meinen Zivilanzug an, Kragen, Krawatte und Hut, packe meine Siebensachen. (Mehr als sieben sind es wirklich nicht.) Der Landungssteg ist ausgeworfen – Dave Dunge steht dort, er hat eine Trosse in der Hand.

Ich gehe in die Kabine zum Ersten Maat. »Wollen Sie mich jetzt photographieren?« – »All right.« Dave Dunge erschrickt, als er mich mit dem Vorgesetzten ankommen sieht. »Ich bin abergläubisch, Mate«, sage ich zu meinem Begleiter, »ich spucke immer in die Hände, bevor ich aufnehme, dann wird das Photo gut.« Lachend spuckt der Maat in die Hände. Dave Dunge wird es wohl als Drohung auffassen.

Das Gesicht rückwärts gewendet, die Hand an der Revolvertasche, steige ich von S.S. »Hannawah« hinab auf Berth 158. Nichts geschieht.

Erst als ich unten bin, schreit mir Dave Dunge den übelsten amerikanischen Fluch zu, den, mich selbst zu schänden: ». . . yourself, ye son of a bitch.«

Die Matrosen neben ihm lachen. Ich rufe hinauf: »I don't need to do it, I have your girl for that. – Brauch ich nicht, dazu hab ich dein Mädel.«

Er spuckt nach mir.

Aus harter Wirklichkeit gehe ich nun nach Hollywood.

 


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