Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Eine Bank in Wall Street

Auf dem Wege, seinen Reisescheck abzuheben, kam der Doktor Becker durch Wall Street.

Er glaubte: die Insassen eines Pavillons von Tobsüchtigen, allesamt davon überzeugt, völlig normal zu sein, hätten sich zu einem Fest vereinigt unter der Devise »Bei den wirklich Tobsüchtigen«.

Oder war er in eine blutige Revolution geraten? Oder auf den Schauplatz eines Massenmordes?

Was ist denn geschehen? fragte der Doktor Becker.

Oh, die Börse zeige sich heute flau, und nur deshalb sei es hier so ruhig. Kopfschüttelnd setzte der Doktor Becker seinen Weg zur Chase Bank fort, von der er in Europa noch nie etwas gehört hatte.

Er suchte sich einen von den neunzehn Personenaufzügen aus, auf dem »Expreß« stand. Denn, dachte er, mein Konto ist in einer wichtigen Abteilung, bei der auch ein Expreß-Elevator halten muß. Er wurde in das 35. Stockwerk gehoben, was ihn einerseits beleidigte (er hätte sein Guthaben in einer vornehmeren Etage vermutet), anderseits aber über die Solidität des Unternehmens beruhigte – eine Winkelbank kann sich kein Gebäude leisten, das die Wolken kratzt.

Übrigens war sein Guthaben nicht oben, worauf er einen anderen Expreß nahm, um wieder hinabzufahren und sich beim Portier genauer zu erkundigen. Zu seiner Überraschung wurde er nicht 35 Etagen gesenkt, sondern 39. Das Rätsel löste sich erst, als er ausstieg und erfuhr, daß es auch Stockwerke unter der Erde gebe.

Er war vor jenen Räumen, die man in nichtenglischsprechenden Ländern mit dem englischen Wort »Safes« bezeichnet, während sie hier »Vaults« heißen. Der Doktor Becker betrachtete sie neugierig, ihn betrachtete man mißtrauisch. Und fragte ihn sogar, ob er hier ein Fach habe. Solches verneinte er, ihn hatte ein Privatgeschäft und nicht sein Fach hergeführt. Aber Kommittent der Bank sei er. Daraufhin setzte der Beamte das für den Verkehr mit Kommittenten strengstens angeordnete freundliche Lächeln auf und erläuterte dem Doktor Becker die Einrichtungen, vor allem das Tor zu den Kassengewölben, dessen moderner Mechanismus den Doktor Becker dummerweise an das Werk einer mittelalterlichen Turmuhr mit Wandelfiguren erinnerte.

Das Tor, vernahm er, sei aus nichtrostendem Stahl, einen Meter dick, wiege fünfundvierzig Tonnen, werde abends von drei Beamten verschlossen und könne nur von diesen zu einer vom Oberkontrolleur im Uhrwerk genau fixierten Stunde geöffnet werden.

Daß die betonten Vorsichtsmaßregeln bloß zur Beruhigung der Depotinhaber getroffen sind, nicht aber gegen die Einbrecher, und daß auch ein Panzerraum älteren Systems ebenso viele, das heißt ebensowenig Sicherheiten gegen Überfall und Einbruch biete, das war dem Doktor Becker, der einiges von Verbrechertechnik weiß, sehr klar.

Er ließ sich dies jedoch nicht anmerken. Ja, über einen optischen Trick (die Einstellung der Buchstabenchiffre selbst für eine neben dem Inhaber stehende Person oder für einen neugierig herüber lugenden Depotnachbar unsichtbar zu machen) heuchelte der Doktor Becker sogar Bewunderung, obwohl ihm in der Kriminalgeschichte kein Fall von unbefugter Chiffreverwendung bei der Öffnung eines Bankfaches bekannt war.

Etwa drei Milliarden Dollar in Bargeld, Wertobjekten und -papieren, erzählte der Beamte, seien hier untergebracht. Interessant sei ihre Übersiedlung in diese Räume gewesen: durch ein Spalier von Detektiven rasten zwischen dem alten und dem neuen Bankgebäude achtzehn Panzerautos hin und her, jedes innen bemannt mit fünf Polizisten samt Tränengasbomben und einem Maschinengewehr. Nur einer von den achtzehn jagenden Wagen barg die süße Last, die anderen siebzehn waren Convoy. Jede Fahrt dauerte fünf Minuten, und hundertundzehnmal mußte der Weg gemacht werden, bevor der ganze Reichtum, imstande, die Not einer Welt zu lindern, aus der einen Gruft in die andere gebettet war.

Das von der Not und von der Gruft sagte übrigens der Beamte nicht, im Gegenteil, er fügte empfehlend hinzu, hier herrsche keineswegs Grabesluft; so tief die Vaults auch in den Felsgrund von Manhattan gehackt sind, die Luft sei vorzüglich, da sie aus der Höhe des zweiten Stockwerks durch eine Röhre geleitet werde, an deren Ölschicht aller Ruß und Staub hängenbleibe.

Unter solchen Umständen konnte der Doktor Becker nichts anderes tun als versprechen, bei nächster Gelegenheit eine von den fünftausend Depositboxes zu mieten, und zwar nicht etwa eine von den kleinen, die für 7 Dollar 50 Cent zu haben sind, sondern eine für fünfzehntausend Dollar Jahresmiete.

Unbefriedigt von diesem Geschäft, das dergestalt der Bank in sicherer Aussicht stand, wollte der Beamte jedenfalls auch etwas für sich verdienen, sei es ein Lob, sei es eine Provision, und der Doktor Becker versprach ihm, bei der Miete des großen Kassenschrankes sich seiner Vermittlung zu bedienen.

Vorläufig aber kam es dem Doktor Becker darauf an, den Kreditbrief zu beheben. In seinem Selbstgefühl gegenüber der Bank bedeutend herabgemindert, glaubte er nicht mehr, daß die Expreßaufzüge vor seinem Konto Station machen, und nahm daher einen schlichten Local Elevator.

Im ersten, aber noch immer unterirdischen Stockwerk über den Safes geriet er in den Kreis von zweihundert bis dreihundert meist jugendlichen Gestalten, die er schon beim ersten Hinsehen für Straßenräuber hielt und beim ersten Hinhören als Börsianer erkannte. Sie waren wenig exklusiv, wenig zurückhaltend, sie umringten den neuen Gast und teilten ihm, der nicht wußte, ob er da mit Pierpont Morgan oder mit John D. Rockefeller spreche, zutraulich Geschäftsgeheimnisse mit. Das wichtigste schien zu sein, daß die Scheibe vor dem Schalterbeamten aus kugelsicherem Glas und die dünne Marmorplatte zwischen dem Beamten- und dem Parteienraum innen mit einbruchsicherem Panzerstahl wattiert sei.

Weshalb sich die Börsenmakler hier versammelten, hatte der Doktor Becker bereits aus der Aufschrift »Overnight Loans« erraten. Nun hörte er zu seiner Warnung, die gegen Bargeld verpfändeten oder über Nacht deponierten Wertpapiere seien nicht nur gegen Revolverkugeln und Einbruchswerkzeuge geschützt, sondern auch gegen Entwertung; ein Nachrichtendienst ermögliche es der Bank, binnen zwanzig Minuten nach Bekanntwerden einer Defraudation, eines Bankrotts oder eines Selbstmords das Pfand so günstig wie möglich loszuschlagen.

Befriedigt fuhr der Doktor Becker aufwärts. Zu seinem Erstaunen fand er alle Räume zugänglich; die Schiebetüren, die fast überall die Wände ersetzen, waren zumeist offen; an Mädchen vor lautlosen Schreibmaschinen und Mädchen vor lautlosen Additionsmaschinen, an konferierenden, diktierenden, spekulierenden oder Kredite ablehnenden Direktoren in prächtigen Sälen schritt er vorbei auf schwellenden Teppichen – völlig unbeobachtet, was ihn hinsichtlich der Direktoren und Prokuristen kaum verdroß. Außer an den Geldschaltern in den dem Parteienverkehr dienenden Räumen erblickte er nirgends eine Scheidewand zwischen Besucher und Beamten.

Sogar in den Sitzungssaal des Verwaltungsrats, wo Schreibeblocks und gutgespitzte Bleistifte für den Doktor Becker bereitlagen, trat er ungehindert ein, in den schönen, halbelliptischen Saal, dem des Obersten Gerichtshofs in Washington sichtlich nachgebildet. Auf jedem Klubsessel war eine goldglänzende Plakette befestigt, und der Doktor Becker las, wie die Kardinäle dieses Finanzkonzils heißen.

Im Telefonzimmer zählte er die Hinterteile von fünfundzwanzig Mädchen; die Vorderteile konnte er nicht sehen, weil sie einer durchlöcherten Wand zugekehrt waren, aber der Doktor Becker hätte auch umgekehrten Falles kein Vergnügen genossen, denn alle hatten vor den Mund ein Sprechrohr geschnallt und über die Ohren je eine Hörmuschel.

»Wieviel Anschlüsse?« fragte der Doktor Becker, streng wie ein Kontrolleur, die Aufsichtsdame. Sie schaltete das freundliche Lächeln ein. »150 Staatsanschlüsse, 900 Nebenanschlüsse und 100 direkte Leitungen zur Börse und zu den Filialen.« Unbestochen von dem Lächeln, inquirierte er weiter: »Wieviel Verbindungen stellen Sie täglich her?« – »In der vorigen Woche betrug der Durchschnitt täglich 27 500 Anrufe, das Maximum war 31 200.« – »Thank you.«

Hart schritt der Doktor in den Nebenraum. Ein unverständlicher Apparat verblüffte ihn nicht. Daß das, was daneben arbeitete, eine Schnellpresse oder eine Vervielfältigungsmaschine war, erriet er ungefähr. »Wie ist Ihre Arbeit?« fragte er unbestimmt, und die Presse stoppte. »Wir brauchen einundeinviertel Minute zur Reproduktion samt Entwicklung und Abzug.« Das Antlitz des Doktor Becker blieb kritisch, und er deutete auf den ihm rätselhaften Riesenapparat. »Und was reproduzieren Sie?« – »Der Photostat stellt die Kopien von Wechseln und einlaufenden Dokumenten her.« – »Thank you.«

Der Inspekteur Doktor Becker begab sich in einen mit Röhren gefüllten Saal. »Erklären!« – »Hier ist die Zentrale für den elektrischen Rohrpostverkehr zwischen den Abteilungen. Unser Tagesdurchschnitt beträgt 8000 Sendungen.« – »All right.«

Auch im »Krematorium«, wo die eingelösten Coupons einbruchsicher und feuersicher verbrannt werden, fand er nichts auszusetzen. Er ließ sich über die Handhabung der Schotten Vortrag halten, die im Falle eines Brandes alle Abteilungen verschließen und nur der brennenden den Zugang zum Feuerschacht öffnen – »Thank you.«

Er begutachtete die Garderobenschränke als sinnreich, besonders die Vorrichtung, vermöge welcher der Schirm außen aufgehängt, jedoch nur nach Aufsperren der Schranktür abgenommen werden kann. Im Einzahlungs- und Auszahlungssaal meldete ihm der Abteilungsvorstand, daß stündlich 3000 Parteien an den Schaltern zu erledigen sind. »All right«, sagte der Doktor Becker . . .

. . . da sah er die Tafel »Letters of Credit« über einem Schreibtisch. Er hatte keine Gelegenheit zu zögern, sich's zu überlegen, ob er der ihm durchaus vertrauenswürdig scheinenden Bank seinen Kreditbrief noch lassen sollte. Er benötigte den Betrag zufällig.

Kurzerhand behob der Doktor Becker den ganzen auf hundert Dollar lautenden Kreditbrief, solcherart auf die goldglänzende Plakette mit seinem Namen verzichtend, die andernfalls vielleicht einmal auf einem Klubsessel im halbelliptischen Sitzungssaal des Verwaltungsrats geprangt hätte.

 


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