Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Kapitol und Kapitale

Gewohnt, seine Vorstellung von etwas Bevorstehendem zu fixieren, um sie hernach mit der Wirklichkeit konfrontieren zu können, hatte sich der Doktor Becker die Stadt Washington als eine Art Haag ausgemalt, einen Balkon Amerikas. Ein Balkon ist etwas, was mit dem übrigen Haus nichts zu tun hat. Man wohnt nicht dort, aber man sitzt dort und genießt.

Wie dachte sich also der Doktor Becker die Stadt Washington?

So: Regierungspaläste, stille Plätze umsäumend, pensionierte Ministerialräte in den Anlagen spazierend, aktive Staatssekretäre in großen Autos umherfahrend, Gesandtschaftshotels, Kaffeehäuser auf dem Bürgersteig mit Senatoren, Deputierten, Parlamentsjournalisten, politisierenden Damen und käuflichen Dingen.

Bei der Konfrontation erwies sich das Phantasieprodukt als falsch. All das wäre zu europäisch gewesen. Aber auch amerikanisch ist Washington nicht – außer in einer Hinsicht, und in dieser ist es sogar die Hauptstadt Amerikas. Nämlich als Sammelsurium aller nichtamerikanischen Stilarten, die an falscher Stelle angewendet sind. Das Finanzamt erhebt sich, ein mächtiger attischer Tempel, daß man glauben könnte, es sei für Gläubige bestimmt und nicht für die Gläubiger Wall Streets in der ganzen Welt. Im Schatten des Finanztempels birgt sich, von Bäumen und Rankenwerk umhüllt, ein Tuskulum, das Weiße Haus, wie geschaffen für die Liebesspiele eines lockigen Römerjünglings mit seiner Lavinia. (Hoover, mach mir keine Zicken!)

Der Reichstag heißt nicht Reichstag und nicht Parlament, sondern er heißt »Capitol« und ist deshalb auf dem Umwege über die Londoner Pauls-Kathedrale der Peterskirche nachgebildet, die auch nicht auf dem kapitolinischen Hügel steht.

Als Modell für den Hauptbahnhof, die Union Station, haben die Thermen des Diocletian gedient, und dem Andenken George Washingtons hat man einen täuschend ähnlichen ägyptischen Obelisk am Ufer des Potomac aufgerichtet.

Ob Wilson als Grabmal eine Sphinx bekommt, steht noch dahin. Das Mausoleum Lincolns ist ein Tempel, und demgemäß der Tempel der Freimaurer ein Mausoleum – genau nach dem von Halikarnaß in Kleinasien kopiert.

Und noch etwas ist echt amerikanisch: daß es auch in Washington »Burlesk Shows« gibt. Es gibt sie überall, vom Times Square in New York über die Main Streets der kleinen Städte bis tief hinein in den Westen. Aber in Washington, wo sich immerhin der Amerikanismus nicht in so mörderischer Gier austobt, überraschen sie, diese tiefsten Erniedrigungen der Frau, die Kehrseite der Frauenverhimmelung und der Girlherrschaft und vor allem jener Grandezza, mit der zehn Männer im Fahrstuhl ihre Hüte abnehmen, da ein rotznäsiger Backfisch einsteigt – ausgenommen natürlich im Bürohaus oder in der Fabrik, wo die Dame vielleicht gar keine Dame ist, sondern eine arbeitende Frau.

In den Burlesks also, um ein Charakteristikum des amerikanischen Lebens bei dieser Gelegenheit abzutun, besteht der Hauptwitz darin, daß jede der halbnackt auf der Bühne »tanzenden« oder »singenden« Frauen nach beendetem Auftritt auf Beifallsäußerungen hin immer wieder aus der Kulisse zurückkehrt, gewöhnlich auf einem über den Zuschauerraum gelegten Steg, und sich jedesmal weiter entblößt, bis nichts mehr da ist als ein dünner Schamgürtel, den sie dann unter keuchender Stille des Auditoriums abknöpft. Es ist ein zweiter darunter. Hört die klatschende Nötigung noch immer nicht auf – die nach ihr auftretenden Kollegen haben ihren Vortrag unterbrochen und stehen auf der Bühne herum –, so muß sie einige Wackelbewegungen mit dem Bauch oder dem Gegenteil vollführen.

Kein Wort gegen eine ehrliche Schweinerei! Aber tausend Worte Englisch gegen den Puritanismus, der den indianischen Holzschnitzereien in den Museen die Organe abschneidet und Kunstwerke verhüllt, gegen die Prüderie, die sich überall äußert, gegen die Galanterie, mit der man die Damen überschüttet, um im Zuschauerraum der Burlesks seine wahre Natur zu enthüllen, die Frau tierisch herabzuwürdigen, sie öffentlich – im Ursinn des Wortes – bloßzustellen.

Aber wir wollten doch von Washington reden, der Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Es ist außer in besagten architektonischen und sexuellen Kleinigkeiten vollkommen unamerikanisch. So zwar, daß es hier überaus viele Geschäfte mit Reiseandenken gibt, genau wie in Mariazell. (Vornehme Reiseschriftsteller würden die Wendung »wie in San Jago di Compostella« verwenden.) Man kann also emaillierte Löffel mit dem Capitol kaufen, Medaillen mit dem Konterfei Benjamin Franklins, Teller, auf denen das Weiße Haus und der Obelisk und die Treasury und die dem Andenken Abraham Lincolns errichtete Akropolis zu einem Stilleben vereinigt sind. Auch Alben und Ansichtskartenserien selbstverständlich; aber merkwürdigerweise gibt es in Washington, wo die Staatsdruckerei und die Dollarlithographie wohnen, ebensowenig eine gute Ansichtskarte wie sonstwo in Amerika.

Ein Kreuzungspunkt der Korridore im Capitol heißt »Hall of Fame«, und jeder der achtundvierzig Bundesstaaten hat das Recht, die überlebensgroßen Statuen seiner beiden berühmtesten Söhne hier zu deponieren, weshalb es aussieht, als ob jemand die Berliner Siegesallee gekauft und in der Diele seiner Villa untergebracht hätte; wenn wir noch registrieren, daß der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Dawes, während beider vom Doktor Becker besuchten Sitzungen des Senates den Vorsitz führte, so ist alles erledigt, was sich gegen Washington vorbringen läßt.

Im übrigen ist es eine schöne Stadt, vor allem, weil man beinahe gar keine Polizisten zu Gesicht bekommt. Philadelphia, mit dem es einen gewissen Sinn für Geschichte und Tradition gemeinsam hat, ist Washington durch eine größere Reinlichkeit voraus, den Wolkenkratzerstädten durch Gelassenheit. Nach Theaterschluß vermag man eine Stunde lang durch die Straßen zu gehen, ohne Menschen zu begegnen.

Die Library of Congress, mit Recht weltberühmt, spielt alle Stückeln, die man von einer Bibliothek verlangen kann. Das Haus ist seine 6 032 000 Dollar unter Brüdern wert, und zweitausend Fenster ermöglichen in Lese-, Bücher- und Ausstellungssälen fast die ganze Tagesarbeit bei natürlichem Licht. In der Manuskriptesammlung sieht man in einem offenen Altarschrein aus schierem Gold die Unabhängigkeitserklärung Amerikas; unter den ausgestellten Handschriften der Präsidenten fehlen keineswegs die von Andrew Johnson, der wegen Korruption und Finanzschwindeleien in Anklagezustand erhoben wurde, oder von Harding, dessen Selbstmord wegen seiner Teilnahme am Ölschwindel ein öffentliches Geheimnis ist.

Obwohl in der Library of Congress ungefähr zehn Bücher mehr von Doktor Beckers Lieblingsautor vorhanden sind als in der New Yorker Public Library (dort haben sie nur den »Fall des Generalstabschefs Redl«, den »Soldat im Prager Korps« und den »Klassischen Journalismus«), muß der Doktor Becker dennoch der New Yorker den Preis zuerkennen. Denn sie dient wirklich dem Volk. Jeder Passant der Fifth Avenue, der eine Viertelstunde Zeit hat, jedes Kind, das ein Abenteuerbuch (es gibt einen Kinderlesesaal), und jeder Fremde, der eine Zeitung seiner Heimat lesen, jeder Kaufmann, der eine Handelsvorschrift nachschlagen will, kann im Winterrock hinaufgehen, einen (unentgeltlichen!) Zettel (einmal!) ausfüllen; nach fünf Minuten leuchtet seine Nummer am Schalter rot auf, und er bekommt sein Buch; hat er sich einen Stuhl genommen und dessen Nummer auf das Formular geschrieben, so werden ihm die Bände direkt auf seinen Platz zugestellt.

Es bedarf keiner Eintrittskarte, keiner Legitimation, keiner Gebühr und keiner Bürgschaft, und die doppelte »eigenhändige Unterschrift« auf den deutschen Scheinen, die bewirkt, daß der Ausgabebeamte den Namen niemals lesen kann, wird hier nicht verlangt; im Gegenteil, wer in dieser Präsenzbibliothek ständig arbeitet, stempelt eine Anzahl von Zetteln mit seinem Namen und braucht nur die Buchnummer daraufzuschreiben. (Wie, fragt der Deutsche, keine Auflage, kein Erscheinungsjahr? Nein.) Die Arbeitsräume für die verschiedenen Fächer haben eigene Handkataloge, feuersichere Schränke für die Notizen jedes Benutzers und Schreibmaschinentische und Waschbecken mit Heißlufttrockner.

Das Herrlichste aber ist der Zettelkatalog, in dem jedes der drei Millionen Bücher drei- oder viermal vorzufinden ist, einmal unter dem Namen des Autors, einmal unter dem Hauptwort des Titels, ein- oder zweimal in den Wissensgebieten, zu denen es gehört. Und die zu einer prinzipiellen Frage gehörenden Zeitschriften- und sogar Zeitungsartikel sind gleichfalls eingereiht.

In Washington ist freilich der Lesesaal kein Teil der Straße, hier arbeiten unter der farbenfroh-himmelnahen Kuppel die finsteren Männer, die ein noch so leises Schneuzen aus der Erkenntnis der ewigen Wahrheit reißt. Es sollen eine Million Bände mehr hier sein als in New York, der Rekord des British Museum fast erreicht. (Jedes Werk, irgendwo in der Welt erscheinend und aufs Copyright reflektierend, muß in einem Pflichtexemplar an die Kongreßbücherei gesandt werden.)

Wer sich langweilt in Washington, wer keinen Bekannten hier hat oder wer aus sonst einem Grunde die Sache mitmachen will, geht um ein Viertel eins zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und schüttelt ihm die Hand. Man braucht sich nur im Vorzimmer des Executive Office einzuschreiben, wird von dem Beamten mit dem bewußten fragenden Blick gestreift, »sieht so ein Mörder aus?«, und darf sich einreihen in den Zug, der sich langsam gegen den Cabinet Room vorwärts bewegt. Nahe der Tür sind außen zwei handfeste Männer und innen der Mister Coolidge postiert. Der dürre Alte mit dem Vogelgesicht streckt jedem die Hand entgegen und stellt abwechselnd eine Frage und eine Behauptung auf. Die Frage lautet: »Wie geht's Ihnen?«, die Behauptung: »Ich bin froh, Sie zu sehen.« Hierauf macht man fünf Schritte. Dort ist die Tür!

Ist es eine Abordnung, die da hereinkommt (der Doktor Becker hatte sich in eine solche eingeschlichen), fragt er: »Wollen wir ein Bild haben?«, dann gruppiert man sich draußen auf dem Rasen, die zwanzig Pressephotographen stellen die Kamera ein, man ruft den Präsidenten der Vereinigten Staaten, sofort kommt Mr. Coolidge heraus, knips, knips, wir haben ein Bild, und er geht wieder hinein.

Das Ganze heißt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, und jeder Amerikaner, einschließlich der ärmsten Einwanderer vom Balkan, ist stolz darauf und glücklich darüber, daß er das Recht hat, zum Präsidenten ins Weiße Haus zu gehen und mit ihm shakezuhanden. »Ist das in England möglich? Na also!«

Der Doktor Becker sah in Washington sehr viele Dinge, die er auch anderswo in den Staaten sehen konnte, zum Beispiel die Gemäldegalerien. Einige enthielten nur amerikanische Meister und bedeuteten wenig; eine Ausnahme machte die Whistler-Sammlung in der Freer Gallery. Interessant sind die Sammlungen der »Smithsonian Institution for the increase and diffusion of knowledge among men«, die einen internationalen wissenschaftlichen Auskunftsverkehr mit sechzigtausend Korrespondenten unterhält.

In der technologischen Abteilung werden alle amerikanischen Erfindungen von ihren primitiven Anfängen bis zu ihrer heutigen Form gezeigt, Edisons erste Versuche, Orville Wrights erstes Flugzeug und »The Spirit of St. Louis«, auf dem Lindbergh, Columbus der Lüfte, den Ozean überflog. Amüsant die Glasschränke mit den Wachsfiguren der »Ersten Ladies«, der Gattinnen aller Präsidenten, in ihren Originalkleidern. Mrs. Washington eröffnet den Reigen, und im letzten Schrank stehen Mrs. Wilson, Mrs. Taft und Mrs. Coolidge herum, die alle drei noch am Leben sind; Mrs. Hoover wird erst im März panoptikumsreif.

Das wichtigste Museum freilich ist keines. Es heißt Bureau of Standards, ist in neun fabrikartigen Gebäuden außerhalb der Stadt untergebracht, zählt viele hundert Ingenieure zu seinem Personal und dient der Rationalisierung, der Materialprüfung und vor allem jener Standardisierung der Produkte, der neben dem Weltkrieg die Prosperity Amerikas zu danken ist.

Der Doktor Becker ging durch die Laboratorien und Werkstätten und Kanzleien, wo errechnet wird, welche Buchformate und welche Brillengläser und welche Koffergröße und welche Radioapparate und welche Autofarbe und welche Tischgläser einheitlich zu erzeugen sind, das Material für künftige Vorschriften zum Tragen von Hüten und Verwendung von Polstern ad majorem dei prosperitatem. (Wobei der Deus natürlich der Fabrikant oder der Kaufmann ist.)

Vergeblich durchforschte der Doktor Becker die neun Gebäude, die zehn Hauptabteilungen, die Hunderte von Sälen. Nicht fand er, was er suchte.

Nicht fand der Doktor Becker die Werkstätte, wo der Standard hergestellt wird des kreuzworträtsellösenden und baseballzusehenden und dollarverdienenden Amerikaners und der nach einer Gibsonschen Zeichnung modellierten Amerikanerin mit dem ewig gleichen Kirschenmündchen und den ewig gleichen Phrasen.

 


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