Egon Erwin Kisch
Paradies Amerika
Egon Erwin Kisch

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Mit den Schwarzfahrern der Ozeane

Ihr habt drei cheers auf mich ausgebracht, als ich euch verließ, und ich bin sehr, sehr stolz auf diese Ovation!

Ja, ja, ich weiß, diese Ehrung ist etwas Obligates, sie ist der Spaß der Abwechslung, den ihr euch leistet, sie ist die willkommene Gelegenheit zum Massengebrüll, eure Hochrufe sind an sich ironisch gemeint. Ihr wißt nicht einmal, daß ich Doktor Becker heiße und woher ich komme, ihr bringt selbst dem alten Malaien, der die Aborte reinigt, manchmal ein so plötzliches und so tosendes Hurra dar, daß der Alte erschreckt die Kübel fallen läßt und zu zittern beginnt, obwohl es schon achtundzwanzig Jahre her ist, seit er als einer von euch hierherkam, und eure Massenscherze gewöhnt sein könnte. Ich weiß, es besteht ein strenges Verbot, den Deputationen der in USA wie Giftschwämme emporschießenden Frauenligen, die mit dem unbarmherzigen Kneifer der Wohltätigkeit alle Kerker und ähnliche öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen besehen – ich weiß, es besteht ein strenges Verbot, diesen Damen bei ihren Besuchen von Ellis Island eure Abteilung zu zeigen.

Denn ihr pflegt auch ihnen Huldigungen darzubringen, sogar heftigere, ihr begleitet euer Hurra, indem ihr mit den Füßen in das Blech der Heizung kickt, ihr werft die Arme hoch, flattert mit den Händen, rollt die Augen, fletscht die Zähne, verzieht den Rest des Gesichts, schlottert mit den Knien, quietscht, rasselt, kobolzt, kräht, popelt, miaut und klettert die Möbel hinauf, bis die spitznäsigen Jungfrauen und die breitbäuchigen Gemahlinnen der Babbits von Schreikrämpfen befallen werden.

Hurra für euch Jungens! Ihr, die Abteilung der »stowaways, boardjumpers and steamship-deserters«, ihr seid die feinsten Kerle des Landes, in das man euch nicht hineinläßt. Ihr seid die, die sich ohne Geld, ohne Schiffskarte, ohne Paß und ohne Papiere nach Amerika aufmachen, auf den Dampfer einschleichen, im Schiffsrumpf verstecken, in einem Frachtraum luftdicht einschließen lassen, dort einsam und hungernd wochenlang hocken, bis man die Schotten öffnet, die Ladung zu löschen. Dann springt ihr, wenn ihr ertappt seid, die Treppe hinauf und über die Reling, schwimmt durch die Meeresflut, um den Kai zu erreichen beziehungsweise nahe dem Ziel zu ertrinken . . . Oder ihr stehlt euch zu nachtschlafender Zeit an der Bordwache vorbei zur Landungsbrücke.

Ihr seid blinde Passagiere, aber eure passive Blindheit ist keine simulierte wie die des Zeppelinfahrgastes, der nicht gesehen werden wollte, um hernach von allen gesehen zu werden, euch treibt nicht Ruhmsucht, obwohl ihr mehr Ruhm verdienen würdet als alle Trencks und Schinderhannese der Welt, ihr seid die wahren Abenteurer, die Brüder des jungen Austernräubers Jack London und anderer Hobos, ihr habt die Folgerung ziehen wollen aus der Lektüre Karl Mays und wolltet Tramps oder Trapper werden wie Old Wabble und der Blaurote Methusalem, ihr seid . . .

Ach Gott, ich weiß! Hab ich doch mit fast allen gesprochen. Gut, gut, es sind ganz gewöhnliche Fälle von Grenzüberschreitungen darunter, Leute, die keinen Heimatschein besaßen oder denen aus sonst einem Grunde die Einreisebewilligung verweigert wurde oder die nicht jahrelang warten wollten, bis die Immigrationsquote auch ihre Anmeldung erfassen würde. Die fuhren also einfach nach Kanada, das noch immer eine britische Kolonie ist, und wurden beim Überschreiten der Grenze nach den USA erwischt.

Aber steckt nicht auch darin schon Unternehmungsgeist und Wagemut?

Die hundert Dollar für die Reise aus Europa, die definitive Loslösung von der Heimat zu riskieren, nahezu ohne Chance, daß der Einlaß glücken werde! Bedenkt die Stimmung einer solchen Überfahrt!

Und die Chinesen? Sie kamen gewiß nicht um des Abenteuers willen. Man sieht es ihnen an: da sitzen sie an ihrem Tisch, achtzehnjährige Menschen mit großen Augen und mädchenhaften Gesten (auch die Neger haben ihren eigenen Tisch) und stricken bunte Jacken. Sie kamen aus Not, sie kamen, um dem Henkerbeil zu entgehen, das die Anhänger Sun Yat-sens zu Tausenden in den Nacken trifft, sie kamen vielleicht, um ihre Freunde und Verwandten in den Chinatowns von New York und San Francisco zu besuchen. Wie anders hätten sie hereinkönnen, denn indem sie als Heizer heuerten und auf dem ersten Anlegeplatz zu desertieren versuchten oder sich von einem Landsmann in der Bemannung irgendwo hinter der Kohle und hinter den Ballen verstecken ließen!

Dann sind die Europäer hier – Burschen, aus der deutschen Schule durchgebrannt, aus der französischen Kaserne, aus der englischen Fabrik oder aus dem italienischen Kerker, und die nun unwiderruflich zurückgebracht werden. Vergeblich alle Schlauheit, alle Verwegenheit und alles Leid der Fahrt.

Da erzählen mir drei Gesellen, daß sie nur erwischt worden seien, weil sie den norwegischen Dampfer, mit dem sie herübergekommen waren, vor Verbrennung geschützt hatten. Er hatte Teppiche geladen, und zwischen den Ballen steckten die drei, gemeinsam sparend mit der Ration von sechs Laiben Brot insgesamt. Eines Nachts, schon hinter Neufundland, schmolz eine durch den Frachtraum führende Röhre durch, und die Teppichballen fingen Feuer. Die Freunde rannten auf Deck. »Feurio! Feurio!« Alarm wurde geblasen, der Brand gelöscht und – die drei Retter im Hafen der Immigrationspolizei übergeben. »Das nächste Mal«, sagen sie optimistisch und bitter, »da lassen wir lieber alles verbrennen, bevor wir uns verraten.«

Wie aber, wenn ihr alles verbrennen lassen müßt, wenn ihr nicht hinauslaufen könnt, wenn ihr in einer Kammer mit teuren Waren seid, die abgeschlossen ist? Wenn dort eine Feuersbrunst ausbricht, dann könnt ihr lärmen und um Hilfe schreien, und niemand hört euch in dem Riesendampfer mit den stampfenden Maschinen! Es ist kaum ein halbes Jahr her, da lief in New York ein britischer Dampfer aus Südamerika ein, der »Steel King«, und man fand bei der Landung fünfzehn Leichen mit verzerrten Gesichtern, in denen ein furchtbarer Todeskampf erkennbar war: blinde Passagiere, sie hatten ein entstandenes Feuer erstickt, aber die Rache des getöteten Elementes ereilte sie, indem es mit seinem Rauch und Qualm nun sie erstickte, einen nach dem andern, jeder sah den Würger kommen, und keiner konnte fliehen . . .

»Ach was«, sorglos äußern das die drei, »wir suchen uns schon ein gescheites Plätzchen aus.«

Vorläufig seid ihr dort, wo ihr am wenigsten gern seid: in Sicherheit.

Vorläufig seid ihr das, was ihr am wenigsten gern seid: beobachtet.

Vorläufig fehlen euch die beiden Dinge, um derentwillen ihr ein verteufelt langes Stück auf dem Gefahren- und Entbehrungsseil vorwärtsbalanciertet, die beiden Dinge: Freiheit und Amerika.

Das ist schlimm, und deshalb geht's euch schlimm. Ihr pflegt wohl nicht zu weinen, und »Insel der Tränen« heißt also Ellis Island nur für die anderen, für die, die daheim Haus und Habe veräußerten, sich schon eine Existenz in Amerika gesichert hatten, mühselig herüberkamen und nun in den Baracken gehalten sind, tage- und wochenlang auf die Entscheidung wartend, ob sich ihnen die Türe zum Fährboot öffnet oder ob sie zurückgeschubst werden auf den ratzekahl ausgerupften Fleck der Heimaterde.

An der Bangigkeit, mit der dieses Urteil erwartet wird, ändert die Tatsache nichts, daß die Auswandererbaracken keineswegs so überfüllt sind wie vor dem Kriege, insbesondere 1907 und 1914, da das kleine Ellis Island je eine Million Seelen bei sich sah. Jetzt sind in den hauptsächlichen Ländern des Menschenexports amerikanische Konsularärzte und Auswanderungsinspektoren tätig, welche die Untersuchung des physischen und moralischen Gesundheitszustandes besorgen.

Immerhin sehen wir im Hafenbecken der Insel unausgesetzt Motorboote landen, von den großen Dampfern kommend, aufgeregte oder still verzweifelte Familien mit plump gezimmerten Kisten und riesigen Reisekörben bringen.

»Was ist mit denen los?« frage ich die Übernahmebeamten.

»Ach, alleinreisende Frauenzimmer, sie wurden von ihren amerikanischen Angehörigen nicht abgeholt, oder Familien, sie haben halt ihre Papiere nicht in Ordnung oder sind unterwegs erkrankt.«

»Aber durchweg Fahrgäste dritter Klasse.« Mit diesen Worten kontrapunktiert wiederholt einer der Beamten die Aufklärungen seiner Kollegen.

»Nur Passagiere dritter Klasse«, bestätigen die anderen.

»Wirklich niemals andere?« forsche ich eindringlich, denn ich will darüber ganz beruhigt sein, daß reiche Leute niemals behelligt werden.

»Niemals. Wirklich niemals. Allerdings . . .« (Aha, da haben wir's, das »allerdings«!) ». . . allerdings, wenn eine besondere Anzeige gegen jemanden vorliegt, zum Beispiel wegen eines Verbrechens, da müssen wir den Betreffenden herbringen. Einmal hatten wir sogar eine Gräfin hier, die wollte mit ihrem Liebhaber nach Amerika!«

»Aber das sind ganz seltene Ausnahmen«, tönte der Kontrapunkt.

»Ganz seltene Ausnahmen«, echoten die anderen.

Die armen Leute werden hinaufgeführt in ihre Schlafsäle und mit allerhand Weisungen und Überprüfungen gemartert: zum Beispiel wird ihnen ein mit Bibelzitaten in allen Sprachen angefülltes Buch vorgelegt, das Steerage Alphabetical Call Book, an Hand dessen sie beweisen sollen, daß sie des Lesens mächtig sind. Die Zitate, meist den Psalmen und der Apokalypse entnommen, sind in der veralteten Schreibweise der ersten Bibelübersetzer abgefaßt, zum Teil kirchenslawisch statt serbisch und russisch – kein einfacher Landarbeiter, kein Handlanger, kein Dorfmädchen vermag das zu lesen, am allerwenigsten im aufgeregten Zustand einer solch entscheidenden Prüfung.

Aber es ist die Bibel! Die spielt auf Ellis Island, wie überall in Amerika, eine große Rolle.

Die New Yorker Bibel-Gesellschaft hat eine Vertriebsstelle hier, auf daß kein Europäer das gottesfürchtige, allem Irdischen abgekehrte Amerika ohne den Kodex der Frömmigkeit betrete!

Und der riesige Aufenthaltssaal wahrt seinen Charakter als Kirche. Bänkereihen, Steinfliesen, Orgel und Kanzel. Daß in einer Ecke Tagesbetten für Säuglinge sind, stört diesen Eindruck keineswegs, denn in USA gibt es Kirchen mit Sportsälen, Bühnen, Fechtböden, und sogar Tanzunterhaltungen finden in manchen statt.

Eine Wechselstube hat sich nahebei etabliert, und sicherlich irren sich die Schalterbeamten beim Einwechseln von europäischen und asiatischen Valuten niemals zu ihren Ungunsten und schädigen sich auch nicht etwa dadurch, daß sie den Auswanderern allzu günstige Kurse berechnen.

Wenn Dollar und Bibel so sinnfällig in Erscheinung treten, wie dürfte da das Sternenbanner fehlen! Weht es doch stolz vom Gipfel jeder Milchbude, bläht es sich doch vom zerfallenen Dach jedes Schuppens. Hier ist es doppelt vertreten, zwei Riesenfahnen hängen von den Galerien bis zum Boden der Einwandererhalle herab, diese der Breite nach in zwei Hälften teilend. Soll das Banner die verdächtigen Ausländer verhöhnen: immer werdet ihr unter meiner Blähung leben?! Soll es ihnen Hoffnung einflößen: bald wird dies eure Nationalflagge sein?!

Abseits von den Auswanderern und abseits von den blinden Passagieren, noch mehr abgesperrt als diese, sind die, die keine Hoffnung mehr haben: die zur Deportation Bestimmten. Zumeist strafrechtlich verurteilte Leute, sie werden nun, nach verbüßter Haft, in das Land zurückgeschickt, aus dem sie kamen (nicht immer also in die Heimat). Sie haben sich mit ihrem Schicksal längst abgefunden, sie waren sich über die Unvermeidlichkeit dieser Konsequenz wohl schon damals klar, als sie ihr Delikt begingen, sicherlich aber, als sie verurteilt wurden, und sie haben die Nase voll von dem Kontinent, den sie bereits zur Genüge von seinen besten Seiten kennengelernt haben, seine Gerichte, seine Anwälte, seine Kerker . . .

Ihr aber seid am übelsten dran von allen Zwangsbewohnern, ihr, die ihr die Vereinigten Staaten noch nicht kennt und eure Hoffnungen darauf gesetzt habt. Diesmal müßt ihr zurück, so nah auch die Bedloe-Insel mit der Freiheitsstatue ist und Staten Island; die Milchglasfenster eures Kerkers sind von einem Gitternetz umgeben; gelingt es auch hie und da einem Waghalsigen, hinüberzuschwimmen, man fängt ihn fast immer wieder.

Schade. Ich sähe lieber euch in Manhattan als alle alten und neuen Yankees, die dort die Gegend um Wall Street und Fünfte Avenue bevölkern, ihr seid feine Kerle, ihr Passagiere, die man die blinden nennt, weil sie die Welt sehen wollen, ihr Schwarzfahrer der sieben Meere, ihr Nassauer der fünf Erdteile, ihr Zechpreller der zwölf Weltstaaten, ihr Verächter der Paßbehörden, ihr Überlister der Grenzkontrolle, ihr Landstreicher zu Wasser, ihr Freien im Kerker.

Ich erwidere herzlich euer dreifaches »Hurra« und wünsche euch eine baldige, glücklichere Wiederkehr.

 


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