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23.
Aiñac cabuyu, der Pferdeteufel

Chiatzutak, der alte Fuchs, ließ sich nicht so leicht in die Irre führen, wie die Eingeschlossenen anfänglich vermuteten. Zwar hatte er mit fieberhafter Erregung auf den Augenblick gewartet, da die glückliche Kugel dem Drachen die Freiheit gab, doch als dies nach langem, bangem Harren eingetreten war, gewann er rasch seine kühle Überlegung zurück und suchte zu ergründen, ob das Vorhaben der Weißen in letzter Stunde noch gelungen war.

Er ließ zuerst den armen Mr. Bopkins herbeiholen, und dieser verbrachte bei dem Kaziken eine höchst unangenehme Viertelstunde, während welcher ihn eine Gänsehaut nach der anderen überlief; denn Chiatzutak sparte nicht mit ausgesuchten Drohungen, um von seinem Gefangenen die gewünschte Auskunft zu erhalten. Schließlich aber sah er ein, daß dieser beim besten Willen nichts weiter verraten konnte. Nunmehr berief er diejenigen von seinen Kriegern, die am Abschießen des Drachens teilgenommen hatten.

Anfänglich konnte er auch bei diesen nicht zu einem Ziel gelangen, hatten sie doch ihre ganze Aufmerksamkeit dem gefährlichen Ungeheuer in den Lüften zugewandt, auf die Weißen unten in der Schlucht dagegen kaum einen Blick geworfen. Durch geschicktes Hin- und Herfragen konnte der Alte aber schließlich doch zwei Punkte feststellen, die mit hinreichender Deutlichkeit für seine Befürchtungen zu sprechen schienen: die Weißen hatten nämlich gar keinen Versuch gemacht, die Angriffe gegen ihren Drachen zu verhindern, noch hatten sie sich irgendwie beunruhigt gezeigt, als er schließlich davonflog.

Aus alledem glaubte der Häuptling mit ziemlicher Sicherheit schließen zu können, daß die Hilfstruppen seiner Gegner im Süden benachrichtigt worden waren. Nun ging er ohne Zögern daran, auch seinerseits Vorbereitungen zu ihrem Empfang zu treffen. Vor allem sandte er ihnen ein starkes Streifkorps entgegen, das den Auftrag hatte, den heranrückenden Gegner nach Möglichkeit unterwegs aufzuhalten, damit die Verstärkungen, nach denen er zu gleicher Zeit aussandte, noch rechtzeitig eintreffen konnten.

Diese Boten, welche die Hauptkriegsmacht der Indianer herbeirufen sollten, sah Oberst Iquite nach Nordwesten davonreiten, als er etwa eine halbe Stunde, nachdem sich die Roten vom oberen Rande der Böschung zurückgezogen hatten, am Ausgange der Schlucht stand und mit seinem Feldstecher das feindliche Lager beobachtete. Er kehrte sogleich zum Doktor zurück, um ihm diese unliebsame Neuigkeit zu verkünden, und dieser teilte aus voller Überzeugung seine Besorgnisse. Der Drache war nun dennoch zu früh davongeflogen; denn es war von höchster Wichtigkeit, daß die nahenden Helfer von dem beabsichtigten Aufmarsch aller roten Streitkräfte unterrichtet wurden, sollten jene nicht mit einer aller Tapferkeit spottenden Übermacht zusammenstoßen oder gar in einen Hinterhalt geraten.

Die erstere Möglichkeit erschien zwar wenigstens dem Oberst von nebensächlicher Bedeutung, denn Kapitän Artigas war im ganzen Gran Chaco gefürchtet wie der Gott des Krieges, und sein Name allein wog ein kleines Heer auf. Umso bedenklicher aber war der zweite Fall, der eines Hinterhaltes; er konnte sich mit der größten Leichtigkeit ereignen, wenn die Entsatztruppen geradeaus vorrückten in der festen Überzeugung, den Gegner vollkommen unvorbereitet zu treffen.

Daher dachten der Doktor und der Oberst zunächst daran, einen neuen Drachen zu bauen. Aber der Plan wurde sogleich wieder verworfen, denn es stand fest, daß die Indianer diesmal mit allen Mitteln den Aufstieg verhindern würden. Nun war guter Rat teuer.

»Wenn wir wenigstens einige Brieftauben mitgenommen hätten,« rief schließlich der Doktor in hellem Unmut aus. »Aber wer konnte auch ahnen, daß sich unsere friedliche Expedition in einen regelrechten Kriegszug verwandeln würde!«

»Eine kleine Schuld trifft uns allerdings,« erwiderte der Oberst. »Wir hätten uns für alle erdenklichen Fälle vorsehen sollen.«

»Aber ich bitte Sie,« gab der Doktor zurück, »schon seit Jahren hatten sich die Chacoindianer, von vereinzelten Räubereien kleinerer Indiadas abgesehen, nicht mehr aus ihren Wäldern hervorgetraut; der letzte Aufstand größeren Umfanges reicht schon Jahrzehnte zurück. Selbst die Gestalt dieses Joaosigno glich nach Berichten der Grenzbewohner eher einem mythischen Gebilde als einer wirklichen Persönlichkeit.«

»Gerade das hätte unseren Verdacht erregen sollen,« fiel der Oberst ein. »Je ruhiger und friedlicher diese Rothäute sich verhielten, desto gefährlicher war es stets noch, sich in ihr unbestrittenes Gebiet vorzuwagen. Das lehrt die Geschichte aller Chacoexpeditionen und vor allem das Schicksal des unvergeßlichen Forschers Crevaux, den sie mit heuchlerischer Freundlichkeit aus seinem Schiffe lockten und erschlugen, sobald er den Fuß ans Land setzte. Daran hätten wir denken sollen, wenigstens ich, der ich beinahe mein ganzes Leben zwischen Pampa und Cordillere zugebracht habe. Aber wie gewöhnlich hatten wir alle nur die leidige Politik und ihre Spitzfindigkeiten im Kopfe, für die immer noch Zeit genug blieb, wenn das Hauptsächlichste ins reine gebracht war, die Eisenbahn!«

»Wir tun wohl am besten, diese Selbstvorwürfe zu lassen,« entgegnete hier der Doktor, »sie können das Geschehene nicht wieder gut machen, sondern verwirren uns höchstens die Überlegung, die wir notwendig brauchen. Das klügste wird vielleicht sein, wir fragen den Señor Rodilla um seine Meinung; vielleicht weiß er einen Ausweg.«

Der Oberst hatte nichts dagegen einzuwenden. Der Spanier wurde gerufen, und die beiden Herren setzten ihm ihre Befürchtungen auseinander. Er sann eine kleine Weile nach, dann erwiderte er mit der ihm eigentümlichen Bescheidenheit und Einfachheit: »Ich wüßte wohl noch ein Mittel, dem Kapitän die gewünschte Nachricht zukommen zu lassen. Freilich kann ich nicht dafür bürgen, daß es mit Sicherheit zum Ziele führt. Es ist aber jedenfalls noch das beste und auch das einzige, das wir versuchen können.«

»Sprechen Sie, sprechen Sie,« forderten ihn die anderen beiden auf.

»Vertrauen Sie mir Ihre Botschaft an, ich werde sie hinbringen; ich oder mein Hund.«

»Das gestatte ich auf keinen Fall,« entgegnete der Doktor bestimmt. »Es ist vollständig unmöglich, die Einschließungslinie unserer Feinde zu durchbrechen, selbst für Sie, obwohl Sie jahrelang unter ihnen gelebt und alle ihre Schliche kennen gelernt haben. Das hieße Sie in den sicheren Tod schicken. Eine solche Verantwortung will ich aber nicht zeitlebens auf meinem Gewissen herumtragen.«

Auch Oberst Iquite sprach sich entschieden gegen die Absicht des Spaniers aus. Doch dieser ließ sich nicht abschrecken, sondern begann seinen Plan eifrig zu verteidigen und wußte seine Vorstellungen so eindringlich zu gestalten, daß die beiden Herren nach längerem Weigern endlich doch nachgaben. Miguel Rodilla nahm es beinahe wie eine Gnade auf, daß ihm erlaubt wurde, sein Leben für die anderen aufs Spiel zu setzen, und ging nun ohne Zögern daran, seine Vorbereitungen zum Aufbruch zu treffen.

Er holte sich Schani herbei, der sich schon bei der Herstellung des Drachens sehr geschickt erwiesen hatte, und dann begannen die beiden eine höchst eifrige, geheimnisvolle Tätigkeit, der die übrigen Mitglieder der Expedition mit stillem Staunen zusahen. Nur der Oberst und der Doktor waren in ihren Endzweck eingeweiht, da der Spanier ihnen seinen Plan bis ins einzelne hatte beschreiben müssen, ehe sie ihre Zustimmung erteilten.

Miguel Rodilla war gleich den anderen überzeugt, daß es unter gewöhnlichen Umständen vollständig ausgeschlossen war, sich durch den Kreis der nun doppelt wachsamen Indianer zu schleichen. Aber er kannte anderseits sehr genau den grassen Aberglauben, in welchem alle diese Naturvölker noch befangen sind, und an diesen knüpfte er seine Hoffnungen an.

Zur Regenzeit treten nämlich des öfteren in allen tiefer gelegenen Landstrichen zwischen den Anden und dem Rio Parana sehr starke Nebel auf, so dicht wie die berüchtigten Nebel von London. Wehe dem einsamen Wanderer, wenn er von ihnen überrascht wird, während er weitab von seiner Hütte auf der freien Pampa oder gar mitten im Walde weilt! Er kann nicht drei Schritte vor sich sehen und tut dann am besten, auf dem Platze zu bleiben, wo er sich gerade befindet, bis ein günstiger Wind nach Stunden oder Tagen die undurchdringlichen Dunstschwaden wieder verscheucht. Denn umsonst bleiben alle Orientierungsversuche und alles Ausspähen nach bekannten Merkmalen in der Umgebung; wie in einem Sacke tappt man hilflos nach rechts und links, bis man ermüdet zusammensinkt und sich zu guter Letzt an einem völlig fremden Ort verirrt wiederfindet.

Diese Nebel bilden den größten Schrecken für alle Eingeborenen jener Landstriche und werden von ihnen nach der üblichen naiven Anschauung der Naturvölker als verderbenbringende Sendboten des bösen Geistes gehalten. So findet sich bei den Guaraniindianern, welche diese Nebel roe choveg (Blaufrost) nennen, folgende aus heidnischen und einzelnen christlichen Elementen zusammengewobene Sage: »Roe choveg ist der Atem des Zwillingsbruders des Teufels. Er ist weiß wie Schaum und mit dem ersten Lichtstrahl aus den Tiefen der Sümpfe aufgestiegen. Diese Nebel lassen uns das Feld nicht sehen, ehe nicht aiñac cabuyu (der Pferdeteufel) zurückgekehrt ist, der in einer dichten Wolke umherzieht, schrecklich schnaubt und aus den Nasenlöchern feurigen Dampf ausstößt. Sein Pferd ist hoch, lang behaart, der Schweif vollständig schwarz, und die Augen scheinen wie Sterne mit einem unwiderstehlich anziehenden Licht. Sein Wiehern betäubt alle, die es hören, und man vernimmt es bis auf zehn Meilen in der Runde. Der aiñac cabuyu kämpft im Auftrage seines Herrn und Bruders, der im Innern der großen Flußseen wohnt. Der Landmann, der an einem solchen Nebeltage auf das Pferd steigt, kann in einen der großen Wirbel hineingezogen und gegen seinen Willen in eine verzauberte Gegend geführt werden, aus der er sich niemals zurückfindet.«

Diese Sage kennen mit veränderten Namen, aber nur geringen Abweichungen in der Sache alle Eingeborenen des Gran Chaco und hüten sich mit ängstlicher Scheu, in die treibenden, wogenden Nebel zu geraten.

Miguel Rodilla gedachte nun, diesen Aberglauben sich zu nutze zu machen. Er fertigte zunächst mit seinem Gehilfen aus Zweigen und biegsamen Ruten ein Gestell von Menschenform, aber doppelter Naturgröße an, das er sich später über den Oberkörper ziehen wollte. Von außen wurde es mit grauer Leinwand überkleidet, die sich möglichst wenig von dem nächtlichen Nebel unterschied, und mit allerlei phantastischem Aufputz versehen, der das Schreckenerregende des Anblicks noch erhöhen sollte. Eine gleichermaßen greuliche Maske wurde für den Kopf des Pferdes angefertigt.

Damit auch die Lichtwirkung der Sage nicht fehle, stellte der Doktor dem Spanier einen kleinen, tragbaren Akkumulator und vier Glühlämpchen zur Verfügung, welch letztere in den Augenhöhlen der beiden Masken angebracht wurden. Schließlich flocht Rodilla noch aus zähen Gräsern vier dicke Schuhe, die dem Pferde unter die Hufe gebunden werden sollten.

Die Grasschuhe verfertigte Miguel Rodilla nur mit Rücksicht auf den alten Kaziken, der sicherlich viel freier vom Aberglauben war als seine Krieger. Chiatzutak nahm die Meldung von dem Erscheinen des gefürchteten aiñac cabuyu wahrscheinlich mit berechtigtem Zweifel auf, stellte Nachforschungen an, und bloß wenn sich keine Spuren von einem nächtlichen Reiter entdecken ließen, war es möglich, auch ihn zum Glauben an das Gespenst zu bringen.

Natürlich wurden alle diese Vorbereitungen im Schutze des Galpons getroffen, damit sie von den roten Spähern oben am Rande der Schlucht nicht bemerkt werden konnten. Als alles fertig war, stieg der Spanier zu Pferde und ließ sich seinen neuen seltsamen Schmuck anlegen, um auch die Lichtleitung zu erproben. Es ging alles nach Wunsch, und neue Hoffnung erfüllte die Herzen seiner Gefährten.

Für den Fall übrigens, daß der kühne Spanier trotz aller Vorsicht in die Hände der Indianer fiel, schrieb der Doktor noch einen Brief an den Kapitän Artigas, worin er alle mündlichen Aufträge Rodillas wiederholte. Dieser wurde dem Hund an den Hals gebunden, und da das Tier abgerichtet war, auf ein Zeichen seines Herrn allein nach der Tolderia zurückzukehren, wo letzterer vor zwei Monaten aus seiner Knechtschaft befreit worden war, ließ sich hoffen, daß ihn die anrückenden Ersatztruppen dort finden würden. Denn diese folgten jedenfalls den Spuren, welche die Expedition zurückgelassen hatte, und mußten dabei auch an jene Tolderia kommen.

Tagsüber hatte der Regen beinahe gänzlich ausgesetzt. Die Luft war ungewöhnlich warm gewesen, und daher brachte der Abend, genau wie Miguel Rodilla vorausgesehen hatte, den erwarteten Rückschlag: dichte Nebel stiegen überall von der dampfenden Erde auf und hüllten Berg und Tal in einen undurchdringlichen Schleier. Dazu machte sich eine empfindliche Kälte bemerkbar, daß sich alle, die nicht gerade draußen auf Wache waren, fröstelnd in den Galpon drängten, um sich, den Poncho fest um die Schultern gewickelt, an dem mächtigen Feuer zu erwärmen, das dort brannte. Sicherlich mußten die Indianer bei ihrer mangelhaften Bekleidung unter diesen Unbilden der Witterung noch mehr leiden; es war daher vorauszusetzen, daß sich auch bei ihnen nur die allernotwendigsten Wachen außerhalb der Ranchos im Freien befanden.

Gegen neun Uhr, nach einem wärmenden Mahle und nachdem er noch einen stärkenden Schluck in seine Feldflasche getan hatte, holte Miguel Rodilla sein Pferd herbei, setzte ihm die Maske auf und legte ihm die Grasschuhe an. Dann stieg er in den Sattel, ließ sich den Puppenbau über den Oberkörper stülpen, noch eine letzte Probe mit den Glühlämpchen, und er ritt langsam zum Lager, hinaus, gefolgt von seinem treuen Hunde. Mit warmen Wünschen für das Gelingen seines verwegenen Unternehmens schauten ihm die zurückbleibenden Gefährten nach; manch einem von ihnen wurden die Augen feucht bei dem Gedanken an den Opfermut dieses bescheidenen Mannes.

Solange er sich noch in der Schlucht befand, brauchte er keine besondere Vorsicht anzuwenden, denn durch den Nebel war es unmöglich, von oben seine Gestalt zu erkennen. Als er jedoch ins Freie gekommen war, bog er nach Westen ab, um womöglich das Ufer des Paat de Piapuk zu erreichen. Wenn er dann von dorther zwischen den Reihen der Indianer hindurchfegte, mußten diese nur umso fester glauben, den gefürchteten Dämon der Sümpfe gesehen zu haben.

Doch er konnte dies Ziel nicht erreichen. Schon nach einer halben Stunde, die er in langsamem Schritt zurücklegte, hörte er Stimmen vor sich und trotz der weichen Grasschuhe mochte das Geräusch der Hufe wohl doch an die scharfen Ohren der Indianer gedrungen sein. Aus dem Nebeldunst fragte plötzlich eine drohende Stimme, wer da komme.

Sogleich hielt Miguel Rodilla sein Pferd an und lauschte. Als die Fragenden keine Antwort erhielten, wurde ihr Verdacht erst recht rege, und sie kamen näher. Wie nun der Spanier sie nahe genug glaubte, brüllte er mit seinem tiefsten Baß, und so laut er konnte, in der Sprache der Eingeborenen: »Nu-a-ilon-la – ich will dich töten!«

siehe Bildunterschrift

»Nu-a-ilon-la!«

Dumpf dröhnte seine Stimme aus dem Gerüst hervor. Als zu gleicher Zeit die vier Glühlampen aufleuchteten und die nebligen Umrisse des nächtlichen Reiters erkennen ließen, stießen die Indianer einen entsetzten Schrei aus und sprangen davon, so rasch ihre Beine sie tragen wollten. Mit einem schauerlichen Geheul ritt Miguel einige Schritte hinter ihnen drein, dann blieb er wieder stehen und öffnete den Stromkreis, nachdem er noch rasch einen Blick auf seinen Kompaß geworfen hatte.

Er bog nun nach Süden ab und trieb sein Pferd zu größerer Eile an. Noch zweimal stieß er auf indianische Wachen, bei denen sein Weg vorbeiführte, und jedesmal übte seine Vermummung und sein drohendes Geschrei die erhoffte Wirkung aus.

Dann hatte er freie Bahn vor sich und konnte seinem Pferde die Zügel schießen lassen. Aber die Grasschuhe nahm er ihm noch nicht ab, obgleich sie seine Schnelligkeit einigermaßen behinderten und das Tier schneller ermüden mußten. Es war eben eine unerläßliche Bedingung für das Gelingen seines Planes, daß die Indianer womöglich keine Spur von ihm entdeckten. So galoppierte er mehrere Stunden lang durch Nacht und Nebel geradeaus nach Süden, seinem Pferde nur einmal eine kurze Ruhe gönnend; hinter ihm folgte Picaro drein, sein treuer Gefährte in Not und Leid.

Schon war der Morgen nahe, da tauchte aus dem Dunkel plötzlich ein fahler Schein auf, der rasch an Helligkeit zunahm. Verwundert, zügelte Rodilla sein Roß. Sollte es so weit im Süden noch indianische Wachen geben oder hatte er im Dunkel die Richtung verfehlt und war wieder auf das Lager der Hauptmacht gestoßen? Doch da gab es kein langes Besinnen; auch die Leute am Feuer hatten ihn bemerkt und riefen ihn an.

Es war eine Schar von dreißig Kriegern, eine Abteilung jener Späherhaufen, die Chiatzutak am Morgen vorher dem Kapitän Artigas und seinen Leuten entgegengesandt hatte. Sie sollten zwar die größte Eile entwickeln, um möglichst weit nach Süden vorzudringen; aber als der Nebel hereinbrach, schlugen sie nach alter Gewohnheit Lager und wagten sich nicht weiter.

Miguel Rodilla schloß rasch den Stromkreis, daß die Lampen wieder ihr geheimnisvolles Licht ausstrahlten, stieß ein nervenerschütterndes Gebrüll aus, in welches Picaro mit wildem Geheul einstimmte, dann drückte er dem Pferde die Sporen in die Flanken und sauste mitten durch den Knäuel der Indianer, die in tödlichem Schrecken und mit lautem Geschrei zur Seite sprangen, als sie des rätselhaften Ungeheuers ansichtig wurden. Noch ehe sie sich besinnen konnten, war die Erscheinung ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war. Niemand wagte einen Schritt zu tun, um ihr weiter nachzuspüren.

Nach einigen hundert Schritten ließ Miguel Rodilla sein Pferd wieder in Trab fallen und lachte leise vor sich hin. Es war das erste Mal seit seiner Befreiung, daß er vollständig auf sein langjähriges trauriges Schicksal vergaß und sich aus vollem Herzen über den Streich freute, den er soeben seinen Todfeinden gespielt hatte.

Als der Morgen bald nachher anbrach und die Nebel sich langsam verzogen, lenkte er sein Roß in ein dichtes Gebüsch, um dort den Tag zu verbringen. Eine Überraschung während des Schlafes brauchte er nicht zu fürchten; dafür sorgte Picaro, sein treuer Begleiter.

Während er unter dem grünen Laubdach friedlich ruhte, zogen draußen die Indianer vorüber, die er einige Stunden vorher in Schrecken versetzt hatte. Sie waren immer noch über die Erscheinung des schrecklichen Dämons aufs tiefste erregt und besprachen das Geschehnis in eifriger Weise, ohne viel des Weges zu achten. Noch weniger ahnten sie, daß der Urheber ihres Entsetzens nur wenige hundert Schritte seitab von ihnen in tiefem Schlafe lag.

Als Miguel Rodilla nach dem Einbruch der Finsternis seinen Weg wieder fortsetzte, stieß er von neuem auf diese Gruppe. Aber diesmal gab es keinen Nebel, sondern er sah schon von weitem ihr Lagerfeuer durch die Nacht glänzen und mußte sie in einem weiten Bogen umreiten, wenn er nicht entdeckt werden wollte.

Am anderen Morgen hatte er sie ein beträchtliches Stück überholt. Aber diesmal dachte er nicht ans Schlafen, sondern bog ein wenig nach links ab, wo er in kurzem den Wald erreichte. Hier nahm er einen kleinen Imbiß ein; dann befreite er sein Pferd von den hinderlichen Grasschuhen und galoppierte weiter. Er durfte sich den Vorsprung, den er vor den Indianern besaß, auf keinen Fall wieder abjagen lassen.

Erst als sein braves Reittier beinahe unter ihm zusammenzubrechen drohte, machte er endlich halt und gönnte sich und den Tieren die allernotwendigste Ruhe. Aber die untergehende Sonne sah ihn schon wieder im Sattel, und wirklich gelang es ihm nach einem solchen dreitägigen Gewaltritt die gesuchten Retter zu erreichen. Es war für Reiter, Roß und Hund die höchste Zeit, daß sie ans Ziel gelangten, denn alle drei waren der vollständigen Erschöpfung nahe.

Als Miguel Rodilla vor den Kapitän Artigas gebracht wurde, hielt ihn dieser wegen seiner halbindianischen Kleidung anfänglich für einen Spion. Es war gut, daß er eine Legitimation in dem Brief besaß, den Picaro am Halse trug; sonst hätten die Grenzreiter wahrscheinlich sehr kurzen Prozeß mit ihm gemacht. Umso größer war aber dann die Freude aller, als sie vernahmen, mit welcher Sehnsucht sie am Cerro Cristian erwartet wurden.

Kapitän Artigas ließ sich alle Erlebnisse der Expedition, soweit Miguel Rodilla zugegen gewesen war, bis ins einzelne schildern. Namentlich die verschiedenen Abenteuer Mr. Bopkins' riefen jedesmal ein stürmisches Lachen bei ihm wie bei seinen aufmerksam zuhörenden Leuten hervor. Als sie aber erfuhren, daß der Yankee zu den Roten übergelaufen war, und durch sein Ausschwätzen die Expedition in ernstliche Gefahr gebracht hatte, bemächtigte sich ihrer eine tiefgehende Empörung, und sie schwuren dem Wankelmütigen einstimmig Rache.

Nachdem Miguel Rodilla seinen Bericht beendet hatte, zog der Kapitän die Karten zu Rate. Es war nunmehr klar, daß er die Spur der vorausgezogenen Expedition nicht länger verfolgen durfte.

Am natürlichsten hätte es nun geschienen, wenn sie nach Nordwesten ausgebogen wären, um in einem großen Bogen den Paat de Piapuk von Westen her zu erreichen. In dieser Richtung führte der Weg ohne Unterbrechung durch die ebene Pampa, und die vereinzelten Gebüsche, auf die sie etwa stießen, konnten ihnen kein ernstliches Hindernis bereiten. Selbst den sonstigen Mangel an Trinkwasser brauchten sie jetzt in der Regenzeit nicht zu befürchten.

Dennoch konnte sich der erfahrene Grenzhauptmann nicht für diese Richtung entscheiden. Es war nur allzu wahrscheinlich, daß sie in der Nähe des Paat de Piapuk auf die Verstärkungen stoßen mußten, die Chiatzutak herbeigerufen hatte; dann kam es zum entscheidenden Kampfe, bevor sie sich mit ihren Freunden vereinigt hatten, und trotz allen Vertrauens, das Kapitän Artigas in die Tapferkeit seiner Leute setzte, hielt er es doch für weit vorteilhafter, den Angriff auf die Roten so einzurichten, daß die Seinen in ihren Bewegungen durch das Maschinengewehr tatkräftig unterstützt werden konnten.

Er beschloß also, lieber einen Kampf mit der Ungunst der Natur aufzunehmen, und durch die Sümpfe am Rio Salado vorzudringen. Das kostete vielleicht einen oder zwei Tage mehr, aber zum Ersatz dafür konnte es als ausgeschlossen gelten, daß die Rothäute ihn von dieser Seite erwarteten; folglich blieb ihm hier der Vorteil des unerwarteten, überraschenden Angriffs gesichert, auf den er am meisten rechnete.

Sobald sich Miguel Rodilla mit seinen Tieren hinreichend ausgeruht hatte, befahl der Kapitän den Aufbruch und zog mit seiner Truppe in beschleunigtem Tempo nach Nordosten weiter.


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