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11.
Am Rio Salado

Abgesehen von den erwähnten kleinen Zwischenfällen war die Expedition in ihrem bisherigen Verlauf vom Schicksal ausnehmend begünstigt worden. Sie hatte bereits die Hälfte ihres Weges hinter sich; wenn nun auch der übrig bleibende Teil ihnen voraussichtlich zehnmal größere Schwierigkeiten entgegenstellte, war das bisher Errungene doch eine gewisse Bürgschaft für den weiteren günstigen Verlauf und brachte vor allem das Gute mit sich, daß in Doktor Bergmanns kleiner Schar die Begeisterung für das Unternehmen von Tag zu Tag wuchs und die Kleinmütigkeit, diese schlimmste Feindin aller Expeditionen, erfolgreich ferngehalten wurde.

Entgegen den Befürchtungen hatte sich auch die Regenzeit noch nicht eingestellt; das Wetter war vielmehr andauernd heiter geblieben, so daß die Vermessungen nicht die geringste Verzögerung erlitten. Ferner waren die Reit- und Zugtiere noch alle gesund, ein nicht zu unterschätzender Vorteil; denn häufig genug war es im Gran Chaco vorgekommen, daß große Handelskarawanen ein schmähliches Ende fanden, weil die Pferde unterwegs von der Trembladera oder gar von der Deslomdura befallen wurden. Um sich selbst vor dem Verschmachten oder der Niedermetzelung durch die Indianer zu bewahren, mußten dann die Reisenden ihre Güter mitten in der Wildnis zurücklassen und zu Fuß die bewohnten Ränder des Gran Chaco zu erreichen suchen – wochenlange Märsche, deren unbeschreibliche Entbehrungen und Qualen nur die stärksten Männer überstehen konnten.

Die Trembladera äußert sich in einem starken, von Fieber begleiteten Zittern; sie tritt besonders in Gegenden auf, die lange Zeit sehr trocken liegen und dann von großen Überschwemmungen heimgesucht werden, also besonders auf dem bordo firme (Ufergegend) der großen Flüsse. Sie befällt jedoch nur frisch aus Europa eingeführte Pferde.

An der Deslomadura hingegen erkranken vor allem einheimische Pferde, eingeführte erst nach einjährigem Aufenthalt im Lande. Die von dieser pestähnlichen Krankheit befallenen Tiere magern entweder in kürzester Zeit zu Gerippen ab, um dann an Entkräftung zu verenden, oder es zeigt sich eine Lähmung, die in der Lendengegend beginnt und sich rasch über den ganzen hinteren Teil ausbreitet, so daß die erkrankten Pferde die Beine nachschleppen, als ob sie das Rückgrat gebrochen hätten.

Die Deslomadura vernichtet in wenig Wochen große Herden; die Provinz Chiquitos z. B. verlor durch sie einmal in einem einzigen Sommer ihren gesamten Pferdebestand. Es gibt kein Heilmittel gegen sie, denn das Reiben mit dem sogenannten Tigergras, das von mehreren Seiten empfohlen wurde, hat sich nur in einzelnen Fällen als erfolgreich erwiesen. Die Krankheit ist so ansteckend, daß Waldtiere, wie Jaguare, Füchse und Schakale, die das Fleisch solcher gefallener Pferde fressen, an einer Art Blutvergiftung erkranken, die einen unerträglichen Geruch verursacht, und schließlich aufplatzen.

Eine dritte, nicht seltene Pferdekrankheit dieser Landstriche ist die Achuqchiatura. Sie entsteht durch den Genuß eines gewissen Krautes namens Chuqcha und äußert sich in Symptomen, welche der bei uns bekannten Dämpfigkeit der Pferde ähneln. Doch dient hier als erprobtes Gegenmittel die erba poglio mit breitrandigen Blättern und dornigen Stengeln, die sich überall in den Pampas findet. Immerhin ist auch diese Krankheit eine rechte Plage für die Reisenden und verursacht allerlei unliebsame Verzögerungen, die später von Mensch und Tier mit großen Entbehrungen bezahlt werden müssen.

Die einzigen Unannehmlichkeiten, denen sich aber niemand im Gran Chaco entziehen kann, sind die Marigni, winzig kleine Fliegen, die sich bei Tage und in mondhellen Nächten zeigen und sehr empfindliche Stiche verursachen, aber mit dem Anbruch der Dunkelheit sofort verschwinden; ferner die Garapata, eine Art Zecken, die sich in großer Zahl auf Bäumen und Sträuchern aufhalten. Sobald irgend ein lebendes Wesen in solche Gebüsche eindringt, lassen sich die Garapata herabfallen, suchen sich mit bewunderungswürdigem Geschick einen Weg durch die Kleider der Menschen und saugen sich dann in der Haut fest, in der sie beim Abreißen den Kopf zurücklassen und dadurch hartnäckige Entzündungen verursachen. Es herrschte daher bei unserer Expedition stets eine große Nachfrage nach Öl, dem einzigen Mittel, um die unangenehmen Parasiten ohne Nachteil wieder los zu werden.

Doch sollten unsere Freunde von allen diesen Quälgeistern bald befreit werden. Als sie sich am Morgen nach Mr. Bopkins' Rückkehr erhoben, hatte sich der Himmel grau umzogen; bald darauf ergoß sich eine solche Wasserflut auf die Erde nieder, daß in kürzester Zeit jede Bodensenkung zu einem kleinen See wurde und kaum die ledernen Wagenblahen den Regenschauer abzuhalten vermochten. Die lange erwartete Regenzeit war endlich eingetreten.

Doktor Bergmann versuchte dennoch, so gut es ging, seinen Weg fortzusetzen. Die bisher ziemlich weitläufig betriebenen Vermessungsarbeiten wurden auf das äußerste Maß beschränkt und die tägliche Marschroute auf die Hälfte verkürzt, um die Pferde nicht allzusehr anzustrengen, denn diese sind in den Übergangstagen von der trockenen zur nassen Periode gegen Krankheiten besonders empfindlich.

Trotzdem waren die Mühen des Marsches nicht gering. Die vom neunmonatlichen Sonnenbrand ausgetrocknete Erde hatte gierig das Wasser in sich gesogen. Der Weg schien grundlos geworden: fast beständig sanken die Räder der Karren bis an die Naben in den Schlamm ein. Zudem schossen nun rasch und in üppiger Fülle die zähen Pampagräser in die Höhe, die sich um die Füße der Pferde und in die Speichen der Räder wickelten und jeden Schritt zu einer besonderen Arbeitsleistung machten. Wenn die Karawane gar einen Buschstreifen durchqueren mußte, fand sie jetzt junges, saftstrotzendes Holz vor, das den Äxten hartnäckigen Widerstand leistete.

Dies und der fast nie aufhörende Regen, verbunden mit den kühlen Nächten auf nassem Boden, verwandelte die bisher heitere Laune der Gesellschaft bald in einen gewissen Mißmut, der sich zuerst bei den Peones äußerte und rasch genug auch auf die Europäer überging. Besonders Schani ärgerte sich über diese feuchte Stimmung in der Natur, weil er bei jeder Mahlzeit seinen ganzen Scharfsinn aufwenden mußte, um aus dem nassen Reisig ein brauchbares Feuer anzufachen. Alle aber übertraf Mr. Bopkins, der nunmehr einen Tag wie den anderen wie ein galliger Uhu in seinem Wagen kauzte und auf die wenigen Fragen, die an ihn gerichtet wurden, höchstens mit einem dumpfen Knurren antwortete.

Einen Vorteil bot diese ungemütliche Jahreszeit aber doch, denn sie hielt die Indianer in ihren Dörfern zurück, so daß man ihretwegen weniger auf der Hut zu sein brauchte.

In dieser Weise verstrichen weitere sechzehn Tage. Die Expedition näherte sich dem Rio Salado, der im Paat de Kilma entspringt und sich durch niederes, sumpfiges Land bis zum Rio Paraguay hinwindet, mit dem er sich in der Nähe von Puerto Formosa vereinigt. Hier mußte Doktor Bergmann den sechzigsten Grad verlassen und sich nach Nordwesten wenden, um zwischen dem Paat de Kilma und Paat de Piapuk die Hügellandschaft zu erreichen, auf die er seinen kühnen Plan hauptsächlich gebaut hatte.

siehe Bildunterschrift

Große Scharen Wasservögel tummelten sich auf der Sumpflandschaft.

Der Neujahrstag des Jahres 1933 brachte den Reisenden eine kleine Genugtuung. Als sie um die Mittagszeit eine niedere Bodenanschwellung erreicht und mit großer Mühe ihren Rücken gewonnen hatten, lag nach Norden zu die weite Talsenke des Rio Salado vor ihnen.

In einer Entfernung von ungefähr zehn Kilometern sahen sie das breite Band des lange gesuchten Flusses herüberleuchten, der zur trockenen Jahreszeit höchstens ein mittlerer Bach genannt werden kann, ja stellenweise völlig im Busch verschwindet. Jetzt maß er mindestens eine halbe Legua (spanische Meile) in der Breite, da er seine Ufer weithin überschwemmt hatte und aus seinen gelben Fluten nur die Wipfel der Bäume wie zahlreiche Inseln herausragten.

Zu beiden Seiten reihten sich an dieses eigentliche Flußbett zahllose Tümpel, Teiche und Lagunen von allen Formen und Ausdehnungen; besonders nach Norden zu glich das Flachland einer riesigen Seeplatte, die sich bis an den Horizont verlor. Unermeßliche Scharen von Wasservögeln aller Art tummelten sich auf dieser riesenhaften Sumpflandschaft, bald an den Rändern hin eifrig fischend, bald in Schwärmen zu fröhlichem Spiel in die Höhe schwebend, bald auf den zahlreichen raigones (treibende Baumstümpfe) ausruhend, um sich das naß gewordene Gefieder zu putzen und gerade zu streichen, oder endlich mit lautem Geschrei davonsausend, sobald sich ein Adler oder Falke in den Lüften zeigte und in blitzschnellem Fluge nach der Beute herabschoß.

An diesem Tage erwies sich auch das Wetter zum ersten Male wieder etwas freundlicher. An die Stelle der strömenden Regengüsse trat ein feiner, kaum fühlbarer Sprühregen, und vereinzelt wurde sogar ein kleiner Fleck des blauen Himmels sichtbar.

Darum ließ der Doktor um die Mittagsstunde Lager schlagen und zur Feier der Jahreswende einen warmen Punsch kochen. Er verschlang allerdings beinahe die Hälfte des mitgenommenen Rumvorrates; dafür sah der Doktor zum ersten Male seit vierzehn Tagen wieder fröhliche, vergnügte Gesichter um sich, und sogar Mr. Bopkins führte seinen grauen Zylinder einmal in der frischen Luft spazieren. Doch sollte ihn dieses Wagnis ziemlich teuer zu stehen kommen.

Da die Expedition trotz der Regenzeit stets einen neuerlichen Überfall durch die Indianer gewärtigen mußte, hatte der Doktor dafür gesorgt, daß ohne Unterlaß die notwendige Wachsamkeit obwaltete. Weil aber noch nie ein verdächtiges Anzeichen bemerkt worden war, ging diese Wachsamkeit, die sich fortgesetzt als verschwendete Mühe erwies, naturgemäß bald in eine Art nervöser Ungeduld über, die, einmal ernstlich auf die Probe gestellt, die tollste Verwirrung anrichten mußte. Gerade das Punschfest sollte den ersten Anlaß dazu geben.

Zum Schutz gegen den Regen hatte der Doktor zwei Wagen nebeneinander aufstellen und eine Blahe zwischen ihnen aufspannen lassen. So fand die Gesellschaft, wenn sie sich recht zusammendrängte, unter ihr Platz und konnte sich an dem Labetrunke erquicken, ohne befürchten zu müssen, daß ihn der Regen allzusehr verwässerte. Es wurden allerlei lustige Reden gehalten; ja, schließlich schickte sich sogar Mr. Bopkins an, seine Proteststimmung für eine Weile zu vergessen und einen Toast auf das Gelingen der Expedition auszubringen.

Er hatte jedoch kaum damit begonnen, kam von Westen her eine der dort aufgestellten Wachen gerannt und schrie schon von weitem aus vollem Halse: »Die Indianer kommen! Die Indianer kommen!«

Mit der größten Hast sprangen die Festgenossen auf, liefen nach ihren Waffen und eilten dann der Richtung zu, von woher die Gefahr drohen sollte. Mr. Bopkins aber hatte mit den Indianern bereits eine so unangenehme Bekanntschaft gemacht, daß er jede Gelegenheit, sie erneuern zu müssen, aus tiefster Seele verwünschte.

Er rannte also zu seinem Wagen, um sich dort zu verkriechen. Aber wie er gerade hineinklettern wollte, fiel sein Blick auf eine leere Tonne, die in einiger Entfernung abseits vom Lager stand. Sie hatte verschiedene Vorräte enthalten und sollte hier als überflüssige Last zurückbleiben, weil sie leer geworden war. Kaum bemerkte Mr. Bopkins diesen Gegenstand, da erwachte in ihm die Meinung, es sei dies die beste Vorrichtung, sich zu verbergen, weil es auch dem schlauesten Indianer nicht einfallen würde, ihn dort zu suchen. Er lief also ohne langes Besinnen auf das Faß zu, stieg hinein und wollte sich nach Möglichkeit auf dessen Boden zusammenkauern.

Er hatte dabei übersehen, daß die Tonne an einer etwas abschüssigen Stelle stand; als nun ihr Schwerpunkt diese unvermutete heftige Veränderung erfuhr, geriet sie auf ihrer glitschigen Unterlage ins Wanken, kippte um und rollte dann mit zunehmender Geschwindigkeit den Abhang hinunter in den kleinen See, den die Überschwemmung des Rio Salado unten am Fuße des Hügels geschaffen hatte.


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