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8.
Ernste Bedenken

Die nächsten Tage verliefen ruhig unter eifrigen Vermessungsarbeiten, während die Kolonne langsam weiterzog. Der Doktor unternahm wieder einen Aufstieg im Ballon, ohne bemerkenswerte Hindernisse auf der Marschrichtung entdecken zu können. Fortdauernd wechselten waldige Flecken mit ebenem Weideland, nur daß beide, Wälder und Wiesen, langsam das grüne Kleid der Regenzeit anzulegen begannen.

Auch von Indianern war nichts zu bemerken und der Doktor wunderte sich im stillen, daß diese Eingeborenen, die sonst wochenlange Märsche nicht scheuen und hundertemal ihr Leben aufs Spiel setzen, um die Überreste eines in der Fremde gefallenen Stammesgenossen in die Heimat zurückzuführen, keinen Versuch machten, den gefangenen Späher aus der Gewalt der Weißen zu befreien, zumal er, nach seiner reichen Tätowierung zu schließen, ein hervorragender Krieger, wenn nicht gar ein Kazike war. Doch da auch die fleißig auf Kundschaft reitenden Peones nichts Verdächtiges entdecken konnten, hegte niemand besondere Befürchtungen für die gemeinsame Sicherheit. Aber die Reisenden sollten sich getäuscht haben.

Am Tage nach dem Ballonaufstieg lagerten sie am Rande einer größeren Buschinsel, weil das junge Gras hier in der Nähe des Waldes bereits viel üppiger gediehen war als draußen in der offenen Pampa und deshalb den Pferden ein besseres Futter bot. Auch konnten jene Männer, die nicht an den Vermessungsarbeiten beteiligt waren, unter dem dichten Laubdach Schutz finden gegen den Sonnenbrand, der an diesem Tage sengender war denn je.

In der folgenden Nacht nun – es mochte wohl schon gegen drei Uhr Morgens sein – wurden die ahnungslosen Schläfer plötzlich durch einen Alarmschuß des einen Peons aufgeschreckt, dem auf der Stelle das schrille, markerschütternde Kampfgeschrei der Indianer folgte.

Während die anderen die Waffen ergriffen und an den Rand der Wagenburg zur Verteidigung des Lagers eilten, entzündete der Doktor das bengalische Feuer, das für einen solchen Zweck schon seit dem Auszug aus Yuquirenda jeden Abend bereit gestellt wurde. Die Flammen warfen eine blendende Helle über die nächste Umgebung und nun konnten die Weißen endlich erkennen, aus welcher Richtung der Angriff der Feinde erfolgt war.

Augenscheinlich hatten diese, wohlvertraut mit Weg und Steg, sich während der Nacht bis in den Wald herangeschlichen und versuchten nun einen kecken Handstreich auf das Lager, wobei sie ziemlich stark auf die Überraschung rechneten, die sich der Weißen bei einem so unerwarteten Überfalle bemächtigen mußte.

In der Tat hatten sie auf der Seite gegen das Gebüsch zu bereits die Wagen erklommen; nur der Umstand, daß die Peones trotz des Dunkels instinktiv hierher zusammengelaufen waren, bewirkte, daß ihnen noch rechtzeitig ein kräftiger Widerstand entgegengestellt werden konnte. Eine umso schlimmere Wendung aber mußte das Gefecht nehmen, falls nun ein zweiter, stärkerer Trupp von Indianern auch vom Rücken her anstürmte.

Darum kroch der Doktor ohne Verzug in den Wagen, der das Maschinengewehr trug. Ein Druck auf einen Hebel, und das Panzertürmchen stieg rasch um zwei Meter in die Höhe, so daß der darin sitzende Doktor nun auch einen Überblick über die Außenseite des Lagers gewann.

Was er vermutet hatte, traf zu. Eine dichtgedrängte Gruppe von etwa zwanzig Indianern zerschnitt soeben auf der Südseite, für die außer dem Doktor niemand ein Auge hatte, die Riemen und Seile, womit die Wagen aneinandergebunden waren, stießen zwei von den letzteren zur Seite und drangen dann mit gellendem Geschrei in den inneren Lagerkreis.

Sofort eilten Sir Allan mit seinem John herbei und ließen ihre Gewehre krachen. Inzwischen hatten aber die Indianer Zeit gefunden, zu ihrem gefangenen Genossen zu springen und ihn von seinen Fesseln zu befreien. Dann mußten sie freilich auf dieser Seite wieder Fersengeld geben; denn aus dem Panzerturme brach jetzt ein Feuerregen hervor, dem auch eine zehnfache Anzahl wohlgeschulter europäischer Infanteristen nicht standgehalten hätte.

Ihre wenigen Verwundeten mit sich reißend, verschwanden nun diese Indianer wie Schatten blitzschnell hinter den Wagen und vereinigten sich mit ihren tapfer kämpfenden Kameraden auf der anderen Seite. Doch auch diese wandten sich zum Rückzug, sobald sich das Maschinengewehr auf sie richtete. Doktor Bergmann gab sich damit zufrieden, da er jedes unnötige Blutvergießen verabscheute und zu vermeiden suchte.

Die Peones dachten weniger menschlich und nahmen die Verfolgung der flüchtigen Feinde auf. Doch die Entfernung bis zum Walde betrug höchstens hundert Schritte; sobald die Indianer zwischen den Zweigen verschwunden waren, sahen auch die erbosten Peones ein, daß sie sich durch eine Fortsetzung des Kampfes nur unnötig in Gefahr brachten. So kehrten sie langsam wieder zurück und machten sich dann mit allerlei kräftigen Verwünschungen an die Arbeit, den durchbrochenen Lagerwall wiederherzustellen.

Als sie dabei die Flucht des Gefangenen bemerkten, entfachte sich ihr Ingrimm von neuem, und der Doktor hatte seine redliche Mühe, zu verhüten, daß sie nicht nachträglich noch eine Unbesonnenheit begingen. Selbst Don Rocca und der Oberst waren sehr aufgebracht.

»Ich bin im Gegenteil recht erfreut, Señores,« erwiderte ihnen der Doktor, »daß wir den Mann auf so glückliche Art losgeworden sind, ohne daß jemand von den Unseren eine ernstliche Verletzung erlitten hat. Seine Bewachung verursachte uns nur Schererei, und ich selbst hatte schon mehrmals daran gedacht, ihn aus freien Stücken laufen zu lassen. Denn da er sich taub und stumm stellte, war er für uns völlig wertlos.«

»Wir hätten ihn vielleicht doch noch als Geisel brauchen können,« sagte der Oberst. »Denn daß er zu den Angesehensten seines Stammes gehörte, beweist aufs neue der Umstand, daß sich die anderen mit solcher Todesverachtung für seine Befreiung einsetzten.«

»Ich will das nicht ableugnen,« versetzte der Doktor, »aber da wir eben seine Bedeutung nicht kannten, hätten wir wohl kaum einen Nutzen daraus ziehen können.«

Die drei Herren trennten sich nun, und da auch die Peones inzwischen mit ihrer Arbeit fertig geworden waren, fiel das Lager bald wieder in die gewöhnliche Ruhe zurück, die bis zum Morgen nicht mehr gestört wurde.

Gleich nach Sonnenaufgang schickte der Doktor die Hälfte seiner Peones ab, um Erkundigungen nach den verschwundenen Indianern einzuziehen. Als die Kundschafter am Abend zurückkehrten, konnten sie nur melden, daß die Indianer auch diesmal, wie nach dem Anschlage auf Sir Allan, ohne Aufenthalt nach Norden geflohen waren.

Da die Ingenieure bei den topographischen Aufnahmen stets von zwei Peones begleitet sein mußten, die ihnen zugleich als Gehilfen, Wächter und manchmal sogar als Visierpfahl dienten, mußten die Vermessungsarbeiten an diesem Tage ruhen, weil das Lager durch die Entsendung der Kundschafter ohnehin schon stark entblößt war.

Der Doktor benutzte diese unfreiwillige Pause, um die bisher gemachten Aufnahmen und Berechnungen durch die geographische Lage ihres augenblicklichen Standpunktes zu kontrollieren. Dabei fiel ihm ein Umstand ein, der, sobald er bekannt wurde, unter den Mitgliedern der Expedition selbst einen argen Zwiespalt hervorrufen konnte.

Die Grenze zwischen den Staaten Bolivia und Paraguay war nämlich immer noch nicht endgültig festgesetzt, obwohl der Streit darüber nun beinahe fünfzig Jahre dauerte. Die Geographen pflegten auf ihren Karten entweder den Breitenkreis des Rio Apa (22 Grad 5 Minuten südlicher Breite) als Grenze einzuzeichnen, oder die Linie, die Fuerte Olimpo am Rio Paraguay mit einer Insel des Rio Pilcomayo, zwanzig Kilometer unterhalb Fuerte Campero, verbindet.

Auch diese schneidet den sechzigsten Längengrad unter 22 Grad 5 Minuten. Nun aber erhob Paraguay Anspruch auf den gesamten Gran Chaco boreal bis an die Berge zwischen Sta. Cruz della Sierra und Santiago in der Nähe des achtzehnten Breitegrades und es war vorauszusehen, daß Oberst Iquite beim Überschreiten des 22. Grades 5 Minuten gegen ein weiteres Vordringen des paraguayensischen Regierungsvertreters Einsprache erheben werde. Wenn dann Don Rocca, wie zu erwarten stand, darauf beharrte, den Gran Chaco als zu Paraguay gehörig anzusehen, konnte es zwischen den beiden heißblütigen Spaniern leicht zu höchst unliebsamen Auseinandersetzungen kommen, umsomehr, als beide Männer gerade zu dem Zwecke abgesandt waren, die Rechte ihrer Regierungen wahrzunehmen.

Aus diesem Grunde sann der Doktor auf ein Mittel, den bevorstehenden Ausbruch des Nationalgefühles hintanzuhalten, und fand auch gleich einen Ausweg. Er nahm Don Rocca beiseite und sagte zu ihm: »Señor, die Vorgänge der letzten Nacht haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß wir die Vorbereitungen zu unserer Expedition doch zu rasch getroffen und namentlich die Feindschaft der Indianer viel zu sehr auf die leichte Achsel genommen haben. Ohne Zweifel bestehen jene Gerüchte zu Recht, die von einem jüngsthin erfolgten Zusammenschluß der letzten Indianerstämme des Gran Chaco und der Wahl eines gemeinsamen Oberhauptes sprechen. Die bisherigen Anzeichen beweisen das nur allzu deutlich, und wenn wir bis jetzt von einem systematisch geführten Krieg befreit geblieben sind, so ist das noch eine weitere Stütze für meine Ansicht. Denn statt nach ihrer bisherigen Gewohnheit über uns weiße Eindringlinge in kleinen Banden herzufallen und uns zur Umkehr zu bewegen, sparen sie diesmal ihre Kräfte zu einem Hauptschlage auf und wollen uns wahrscheinlich erst bis in das Herz ihres Gebietes vordringen lassen, um uns dann desto erfolgreicher anzugreifen und zu vernichten.«

»Ich kann Ihnen nicht unrecht geben,« erwiderte Don Rocca. »Auch in mir erregte das von allen bisherigen Gewohnheiten abweichende Betragen der Indianer bereits mancherlei Bedenken, zumal mir kurz vor meiner Abreise von Asuncion noch berichtet wurde, daß die verschiedenen indiadas (kleinere Indianertruppe, bis zu hundert Köpfe zählend), die sonst nomadisierend die beiden Ufer des Rio Paraguay bewohnten, wie auf einen Schlag aus der Gegend dieses Flusses verschwunden und nicht wieder zum Vorschein gekommen sind. Es mag daher wohl richtig sein, daß jener vielgenannte Joaosigno es verstanden hat, sie unter seinem Oberbefehl zur Verteidigung des Gran Chaco zu vereinigen.«

»Ich bin erfreut, daß unsere Ansichten so übereinstimmen,« versetzte der Doktor, »und brauche also nicht zu befürchten, daß Sie es mir als Mangel an Mut auslegen, wenn ich für unsere Zukunft einige Besorgnisse hege und zu dem Wunsche gelangt bin, wir möchten in unserem Rücken einen kräftigen Rückhalt besitzen.«

»Ich finde diesen Ihren Wunsch sehr begreiflich,« sagte Don Rocca mit einem zustimmenden Nicken. »Es wäre jedenfalls äußerst bedauerlich, wenn Ihr kühnes Unternehmen scheitern sollte, denn die South-American-Railway-Company würde sich wohl kaum bereit finden lassen, die nötigen Gelder für eine zweite Expedition zu bewilligen. Wie ich Sie jedoch kenne, haben Sie den in unseren Vorbereitungen gemachten Fehler nicht zur Sprache gebracht, ohne zugleich ein Mittel zu wissen, wie ihm abzuhelfen wäre.«

»Sie haben das Richtige erraten,« gab der Doktor zurück, »und ich will Ihnen nur gleich gestehen, daß ich dabei sehr stark auf Ihre Unterstützung rechnete.«

»Verfügen Sie nach Belieben über meine schwachen Kräfte,« sagte Don Rocca einfach.

»Nun,« erklärte Doktor Bergmann, während er die Hand des Spaniers erfaßte, »dann möchte ich Sie bitten, nach Yuquirenda zurückzureiten – versteht sich, mit der nötigen Begleitung – und dort mit Hilfe des wackeren Kapitän Artigas eine Ersatztruppe zusammenzustellen, die uns im Notfalle heraushauen kann. Hundertfünfzig bis zweihundert erprobte Grenzreiter werden sicher genügen. Während dann der Kapitän mit der Anwerbung dieser Leute beschäftigt ist, können Sie von Asuncion die nötigen Apparate für eine funkentelegraphische Station verschreiben, die schon Señor Artigas bei Yuquirenda zu errichten wünschte. Es wird mir dann jederzeit möglich sein, mich vom Ballon mit Ihnen in Verbindung zu setzen und Ihre Hilfe anzurufen.«

»Ich würde auf der Stelle ja sagen,« erwiderte Don Rocca, »aber es erhebt sich gegen meine Rückkehr ein Bedenken, das ich Ihnen nicht verschweigen kann. Wie Sie wissen, bin ich von meiner Regierung abgesandt, um die Rechte Paraguays wahrzunehmen. Es wäre nun immerhin möglich, daß mein Rückzug, wenn nicht von Oberst Iquite, so doch von seinen Auftraggebern dahin gedeutet würde, daß ich dadurch auf die Ansprüche meines Landes an den Gran Chaco Verzicht leiste.«

»Oberst Iquite ist ein Caballero,« entgegnete der Doktor. »Ich bin überzeugt, wenn wir ihm Ihre Bedenken freimütig auseinandersetzen, wird sich trotz allem ein Ausweg finden lassen, ohne daß Sie dabei Ihre Pflicht verletzen.«

Don Rocca war damit einverstanden. So begaben sich die beiden Herren zu Oberst Iquite, der ihren Worten aufmerksam zuhörte und dann erwiderte: »Ich stimme zu, daß Sie, Don Rocca, hier umkehren dürfen, ohne daß der gegenwärtige Stand der Verhandlungen, die über die Gran Chaco-Frage zwischen unseren Regierungen schweben, irgendwie berührt oder festgelegt wird.«

»Darf ich Sie bitten, mir dies zu Protokoll zu geben?« fragte Don Rocca.

»Gewiß; nur müssen Sie mir dagegen Ihrerseits die schriftliche Erklärung geben, daß auch für Paraguay keine neuen Rechte erwachsen sollen, falls Sie später mit einer bewaffneten Schar uns zu Hilfe kommen. Denn ich muß darauf bestehen, daß der Gran Chaco boreal als bolivianisches Gebiet angesehen wird.«

»Ich zweifle sehr, daß meine Regierung einen solchen Schritt von mir billigen wird. Doch im Interesse der Expedition will ich es wagen, die Verantwortung dafür auf mich zu nehmen.«

So wurden die beiden Protokolle abgefaßt und von Doktor Bergmann, Sir Allan und Mr. Bopkins als Zeugen unterschrieben. Dann suchte sich Don Rocca einen Peon aus, der ihn auf seinem nicht ungefährlichen Weg begleiten sollte, und ritt mit ihm am nächsten Morgen wieder nach Süden davon.

Doktor Bergmann blieb an diesem Tage bis zum Abend im Ballon, um den Abzug seines Verbündeten so lange als möglich zu beobachten. Außerdem rechnete er auf den Eindruck, den der Ballon auf die Indianer zu machen schien. Ohne Zweifel hielten sie ihn für ein geheimnisvolles Ungetüm, da sie sich ängstlich in den Wäldern verborgen hielten, solange er drohend über dem Lager in den Lüften schwebte.


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