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5.
Der Simarrone

Während am anderen Tage die drei Ingenieure die notwendigen Vermessungen vornahmen, verließ Sir Allan wie gewöhnlich den Lagerkreis, um die nächste Umgebung nach Käfern zu durchforschen. Ein schönes Exemplar tuccho (Leuchtkäfer), das noch rechtzeitig Reißaus nehmen konnte, lockte ihn jedoch immer weiter fort, und erst als der Verfolgte nach ungefähr einer Stunde hartnäckiger Jagd schließlich auf Nimmerwiedersehen verschwand, bemerkte Sir Allan, da der Ärger über den entgangenen Fang endlich seinem blinden Eifer ein Ende bereitete, daß er sich mutterseelenallein auf einer großen Prärie befand und von seinen Gefährten weit und breit nichts zu sehen war.

»Hm,« brummte er bei dieser Entdeckung mißmutig vor sich hin, »wenn ich mich jetzt regelrecht verirre, so ist das noch das kleinere Unglück. Die Indianer haben uns zwar in der letzten Nacht in Ruhe gelassen; ohne Zweifel aber spionieren sie unablässig in der Nähe des Lagers herum. Wenn sie mich jetzt gefangen nehmen, muß ich damit zufrieden sein. Ich hätte wenigstens meinen John oder doch ein Gewehr mitnehmen sollen!«

Er kehrte mit raschen Schritten auf seiner Spur zurück, war aber noch nicht sehr weit gekommen, als sich seine Befürchtung bewahrheitete. Aus dem Gebüsch vor ihm lösten sich eine Anzahl brauner Gestalten, die in lang ausgezogener Linie auf ihn zugelaufen kamen; als er sich umwandte, um auf der anderen Seite der Lichtung ein Versteck zu suchen, sah er auch von dieser Seite her einen Trupp Indianer heranstürmen. Dieser Anblick war recht gefährlich, aber Sir Allan verlor trotzdem seine Kaltblütigkeit nicht. Da er das Nutzlose der Flucht erkannte, blieb er ruhig stehen, zog den Revolver, den er zum Glück eingesteckt hatte, aus der Tasche und dachte: »Also ein regelrechtes Hasentreiben wollen sie mit mir veranstalten! Aber diesmal kann sich das Häslein noch ein wenig wehren. Mich ärgert nur, daß ich, falls sie mich gleich hier auslöschen, mich mit dreiundsiebzig neuentdeckten Käferarten begnügen muß, statt das erhoffte Hundert voll zu machen. Ich bin wirklich ein richtiger Pechvogel!«

Die Indianer waren indessen beiderseits auf ungefähr hundert Schritte näher gekommen. Da stieß einer von denen, die von Osten herankamen, einen schrillen Schrei aus und deutete mit allen Zeichen des Schreckens nach Westen. Nun hielten auch die übrigen ein und wandten ihre Augen in derselben Richtung. Dann lief ein Wort von Mund zu Mund, das der Engländer nicht genau verstehen konnte; die Indianer machten schleunigst kehrt und sausten davon, so rasch ihre Beine sie zu tragen vermochten, dem schützenden Walde zu.

Sir Allan blickte überrascht gleichfalls nach Westen und erkannte sogleich die neue Gefahr, die ihm von dorther drohte: es war ein alter, von irgend einer Estancia entlaufener Bulle.

Solche Tiere, von der spanischen Bevölkerung simarrones genannt, verwildern in der ungebundenen Freiheit sehr rasch und sind dann von Mensch und Tier gleich gefürchtet. Selbst der Jaguar nimmt vor ihnen Reißaus und sucht sich auf einen Baum zu retten. Die geringste Ursache kann einen solchen simarrone zur äußersten Wut reizen; dann stürmt er mit steif aufgerichtetem Schweife geradeaus durch dick und dünn alles unter seine Hufe stampfend, was sich ihm in den Weg stellt, bis ihm schließlich der Atem ausgeht oder ein madrechon seiner tollen Jagd und seinem Leben zu gleicher Zeit ein Ende bereitet. Denn aus dem zähen Schlamme auf dem Grunde solcher Tümpel kann sich das schwere Tier nur in den seltensten Fällen wieder aufrichten.

Der Stier, den Sir Allan auf sich zukommen sah, mochte wohl durch das Geschrei der Indianer aus seiner Beschaulichkeit gestört worden sein. Noch erschien seine Gestalt kaum größer als die eines mittleren Hundes; aber bei der rasenden Schnelligkeit, womit er durch die Gräser stürmte, mußte er den kurzen Zwischenraum bis zu dem Engländer in wenigen Minuten zurückgelegt haben.

Sir Allan verlor auch keinen Augenblick, sondern rannte aus Leibeskräften nach dem Walde in der Richtung, wo er das Lager vermutete. Nicht lange, so hörte er das schreckliche Donnern der Hufe hinter sich, und kaum war er hinter den ersten größeren Baum gesprungen, da rannte das schnaubende Untier bereits gegen den fußdicken Stamm, daß dieser bis tief in die Wurzeln hinein erschüttert wurde.

siehe Bildunterschrift

Nun begann eine wilde Hetzjagd rings um den Baum.

Während sich der Stier nun einen Augenblick besinnen mußte, glitt Sir Allan mit einer flinken Wendung hinter eine in der Nähe stehende mächtige Eiche, die seine Gestalt vollständig verdeckte. Aber der Stier hatte ihn dennoch bemerkt, folgte ihm auf der Stelle nach, und nun begann eine wilde Hetzjagd rings um den Baum, wie Sir Allan sie im Leben noch nicht mitgemacht hatte.

Zwar konnte er jedesmal noch rechtzeitig zur Seite biegen, so oft der simarrone mit tief gesenkten Hörnern zum tödlichen Stoße ausholte; aber er sah bald ein, daß ihm auf diese Art rasch die Kräfte ausgehen müßten. Es galt also, einen besseren Schutz zu finden, als ihn die Eiche zu bieten vermochte. Das sicherste wäre freilich gewesen, auf diese hinaufzuklettern, aber dazu ließ ihm das wütende Tier keine Zeit.

Da bemerkte er in geringer Entfernung einen jener palmenähnlichen Bäume, die von den Spaniern palo briaco, von den Chirionoindianern yuchan genannt werden; ihr botanischer Name ist Chorisia insignis. Der Stamm sieht wie eine bauchige Flasche von zwei Ellen Durchmesser und vier bis fünf Ellen Höhe aus und ist voller Knoten. Die Blätter ähneln denen unseres Nußbaumes, die Rinde dient den Eingeborenen zu Geflechten. Aus dem Stamme machen sie ihre Kanus, cuo-kiak (Enten) genannt; das Holz ist frisch gefällt sehr weich und ungemein leicht und wird später hart, ohne an Gewicht zuzunehmen. Die Frucht gleicht an Form einer Zitrone, reift in den Monaten November bis Januar und öffnet sich dann in fünf Teile, so daß die schneeweiße Baumwolle herausdringen kann, welche die Indianer teilweise zum Spinnen verwenden. Dieser Baum wächst zahllos im Gran Chaco; für die Chiriono hat er außerdem noch eine besondere Bedeutung, indem diese die Stämme aushöhlen, ohne sie zu fällen, und in den so erhaltenen Raum die Asche ihrer Toten versenken. Der yuchan, auf den Sir Allans Auge fiel, hatte ohne Zweifel diesem letzterwähnten Zwecke gedient, denn er war abgestorben und sein oberer Rand, wo früher die Blätter saßen, wagrecht abgeschnitten; wenn der Verfolgte bis auf diesen Baum gelangen konnte, war er gerettet.

Er faßte einen raschen Entschluß. Als der simarrone das nächste Mal auf ihn zurannte, schoß er ihm hinter der Eiche hervor die ganze Ladung seines Revolvers in die Nase. Das war freilich für den Bullen eine ziemlich unbedeutende Wunde; aber sie mußte ihm einen empfindlichen Schmerz verursachen, denn er hielt mitten im Laufe inne und ließ ein dumpfes Brüllen hören, das einem weniger beherzten Manne das Mark in den Knochen erstarren lassen konnte. Doch Sir Allan hatte auf diese Wirkung seiner Kugeln gerechnet; nun schnellte er sich mit drei Sprüngen zu dem yuchan hin, kletterte behend wie ein Eichhörnchen hinauf und verschwand dann in seinem Innern, aus dem infolge des Sprunges eine dicke Staubwolke aufwirbelte.

Dem Stier war dieser Rückzug nicht entgangen. Mit blutunterlaufenen Augen setzte er dem Flüchtling nach. Kaum war dieser in der Höhlung verschwunden, da trafen die Hörner mit aller Wucht gegen den yuchan. Dessen Wurzeln waren schon seit langer Zeit verfault; er gab daher dem Anprall nach und rollte samt seinem lebendigen und toten Inhalt lustig davon.

Was nun Sir Allan in der nächsten Viertelstunde erleben mußte, hat er in späteren Lebenstagen noch oft, aber jedesmal vergeblich zu schildern versucht. Die Wut des Bullen hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Er sah überhaupt nur mehr die riesige natürliche Flasche vor sich, die alle seine Anstrengungen verspottete und nicht in Trümmer gehen wollte. Nach mehreren krachenden Zusammenstößen mit andern Bäumen geriet sie durch Zufall auf die offene Prärie hinaus, die ihren Bewegungen kein Hindernis mehr entgegensetzte. Je nachdem sie nun von den Hörnern getroffen wurde, kollerte sie bald in kleinen Sprüngen geradeaus, dann drehte sie sich kreisend um ihre eigene Achse, dann wieder wälzte sie sich, nach rechts und links taumelnd, im Kreise herum, kurz betrug sich wie ein riesiger Fußball, der von ungeschickten Spielerfüßen getroffen wird.

Sir Allan stemmte sich im Innern, so fest er konnte, gegen die Wand des Baumes, um nicht aus der Öffnung geschleudert zu werden. Zum Glück war diese ziemlich eng; dafür fand aber auch der Staub keinen rechten Ausgang, und Sir Allan fühlte alsbald in Nase und Schlund ein Kitzeln und Beißen, das ihn unter anderen Umständen zu einem vierundzwanzigstündigen ununterbrochenen Niesen hätte veranlassen können. Hier jedoch wurde er durch die Stöße des simarrone fortwährend daran behindert. Er konnte nur würgen und prusten und um sich spucken; durch die regellosen heftigen Bewegungen geriet sein Magen in die allerbedenklichste Aufregung, und zu allem Überfluß zerriß er sich an der aufgerauhten Fläche des Holzes Haut und Kleider in gleicher Weise. Dennoch hielt er, solange er irgend vermochte, stand; aber schließlich versagten Lunge und Muskeln den Dienst. Er hörte nur noch einen dumpfen Knall, als ob eine Flinte abgefeuert würde, und dann schwand ihm das Bewußtsein.

Als er wieder erwachte, sah er den Doktor vor sich knieen, der ihm ein Fläschchen mit scharfriechendem Inhalt unter die Nase hielt, und neben ihm das Gesicht seines John, der ihn voll Besorgnis betrachtete. Ein halbes Dutzend Peones, die ringsherum standen und sich auf die Läufe ihrer Gewehre stützten, machten, so gut es gehen wollte, ernste Gesichter; aber man konnte es ihnen anmerken, daß ihnen das Lachen viel näher stand als das Weinen.

»Doktor, um Himmels willen, Wasser,« stöhnte Sir Allan mit schwacher Stimme; »meine Kehle brennt, als wäre ein ganzer Lastzug mit rotem Pfeffer darin umgefallen.«

Sein Wunsch konnte rasch erfüllt werden. Wie er sich dann wieder aufrichtete, sah er zu seiner rechten Seite die hohle Baumflasche, die ihm das Leben gerettet hatte, und wenige Schritte weiter den simarrone tot.

Er war dem Lager näher gewesen, als er geglaubt hatte, so daß der Schall von seinen Revolverschüssen, wenn auch nur schwach, bis dahin drang. Sogleich war der Doktor mit einigen Männern aufgebrochen, um ihm Hilfe zu bringen, und der Spur folgend, die er im Grase zurückgelassen hatte, kamen sie gerade noch zu rechter Zeit, um dem Bullen mit einigen wohlgezielten Schüssen den Garaus zu machen.

Sir Allan reichte seinen Rettern dankbar die Hand und kehrte dann mit ihnen nach dem Lager zurück. Aber noch zwei Tage lang mußte er im Wagen auf einigen weichen Fellen zubringen, denn das Abenteuer mit seinen Schrecken und der übermenschlichen Anstrengung hatte ihn beinahe aufgerieben.

Alle im Lager bedauerten den liebenswürdigen und stets zuvorkommenden Mann aufs herzlichste. Nur einer zeigte, wenn er sich unbeobachtet glaubte, mit einem schadenfrohen Grinsen seine gelben Zähne, nämlich Mr. Bopkins; er sah den Vorfall als eine ihm von der Vorsehung gesandte wohlverdiente Genugtuung für die erlittene Kränkung an.


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