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4.
An der Indianergrenze

Bis zum dreiundzwanzigsten Grad südlicher Breite war der Gran Chaco schon so weit durchforscht, daß Doktor Bergmann an den vorhandenen Karten nur wenige unbedeutende Verbesserungen vorzunehmen brauchte, um die zukünftige Lage der Bahn einzuzeichnen. Am fünften Tag aber kamen sie an die Stelle, wo auf der Landkarte jener große weiße Fleck beginnt, der sich bis zum achtzehnten Grad hin ausdehnt. Zwar war auch im Innern dieses undurchforschten Gebietes eine Anzahl von Hügeln und Wasserbecken angedeutet; aber ihre Lage war nur aus den Berichten der Indianer, die allein jene Gegenden durchstreift hatten, auf gut Glück bestimmt worden. Wie wenig Vertrauen solche Nachrichten verdienten, hatten die Geographen leider schon oftmals erfahren müssen. Denn meist, wenn ein Reisender an solche Punkte gekommen war, hatte er an Stelle der erwarteten Gebirgskette:: Sümpfe und tropische Niederungen gefunden, während die Gebirge hundert und mehr Kilometer ost- oder westwärts von der in den Atlanten verzeichneten Stelle sich befanden.

Von hier ab begann also die eigentliche Aufgabe der Expedition, die alle geringfügigen Erhebungen, Wasserläufe und größeren Wälder genau bestimmen und vor allem auch den Erdboden auf seine Tauglichkeit zum Bahnbau untersuchen mußte. Hier begann aber auch zugleich das bisher unbestrittene Streifgebiet jener wilden und ungezähmten Indianerhorden, die in früheren Jahrhunderten den Gran Chaco bis in die Gegend von Santa Fé bevölkert und sich erst nach hartnäckigen Kämpfen, und mit dem tödlichsten Haß gegen die weißen Eroberer erfüllt, so weit nach Norden zurückgezogen hatten. Von Ost und West, von Nord und Süd durch die unaufhaltsam vorwärtsdringende Zivilisation bedrängt und eingeschlossen, stand es außer Zweifel, daß sie diesen letzten ihnen verbliebenen Rest ihrer unabhängigen Muttererde mit Aufbietung aller Kräfte und mit dem Mute der Verzweiflung verteidigen würden.

Doktor Bergmann mußte also die peinlichste Vorsicht und Wachsamkeit walten lassen, wenn er nicht sich und sein Unternehmen in die größte Gefahr bringen wollte. Er hatte deshalb schon in Yuquirenda mit seinen Peones eifrig Manöver abgehalten, damit sie im Falle eines unvermuteten Überfalles durch die Indianer sofort wußten, was sie mit ihren schwerfälligen Wagen zu beginnen hatten; denn die allergeringste Verzögerung oder Verwirrung konnte dann das Verderben unabwendbar machen. Darum waren die Leute darauf eingeübt worden, beim ersten Befehl die Karren zu einem Kreis aufzufahren, so daß sich die Tiere in seinem Innern befanden. Hierdurch waren diese letzteren geschützt, die Männer aber konnten hinter den Wagen hervor aus guter Deckung ihre Gewehre abfeuern, während das Schnellfeuergeschütz, das in einem aufrichtbaren Panzertürmchen untergebracht war, vom Mittelpunkte der so hergestellten Wagenburg aus das Gelände nach allen Seiten hin leicht und ungehindert zu bestreichen vermochte.

In dieser Aufstellung wurde auch alle Abende das Lager eingerichtet; es genügten dann vier Wachen an der Außenseite des Ringes, um die schlafenden Gefährten vor einer Überraschung zu bewahren.

Und dennoch, trotz aller dieser Vorsichtsmaßregeln, wurde schon am sechsten Morgen der Expedition die unliebsame Überraschung zu teil, daß in der verflossenen Nacht eine feindliche Hand an sämtlichen Wagen die Zugseile und Geschirre zerschnitten hatte!

Ohne Zweifel war der kühne Eindringling ein einzelner Mann gewesen; darauf deuteten die kaum erkennbaren Spuren hin, die sich bis in ein nahes dichtes Gebüsch verfolgen ließen. Auch waren die Wächter zuverlässige Leute; mehrere Personen hätten ihrer Aufmerksamkeit unmöglich entgehen können.

Dieser Zwischenfall brachte der Truppe zwar keinen nennenswerten Schaden. Trotzdem war er dem Doktor im höchsten Grade unwillkommen; ja, er hätte es lieber gesehen, wenn die Indianer ihm in einem offenen Angriff entgegengetreten wären. Auf den Mut und die Tapferkeit seiner Leute konnte er sich verlassen, weniger jedoch auf ihre Geduld; wenn diese erst, durch solche kleine Nadelstiche beständig gereizt, in Brüche ging, konnten sich die heißblütigen Peones leicht zu Unvorsichtigkeiten hinreißen lassen, die kaum wieder gutzumachen waren.

Trotz dieser Besorgnisse aber trug der Doktor eine gleichgültige Miene zur Schau, redete den Männern, die sich scheltend an die Ausbesserung der Geschirre machten, gütlich zu und ließ dann den Ballon zu einem Aufstieg bereit stellen, weil er nach den unsichtbaren Feinden Ausschau halten wollte.

Als er dann hoch oben in der Gondel saß und mit einem scharfen Glase das Gelände bis an den fernen Horizont durchmusterte, konnte er nirgends etwas Verdächtiges bemerken. Entweder war also der Spion, der in der vergangenen Nacht ins Lager gedrungen war, seinen Gefährten weit vorausgeeilt, oder diese letzteren hielten sich vorsichtig im Gebüsch verborgen, weil sie die Bedeutung eines Luftballons kannten und dem Insassen der Gondel ihre Anwesenheit nicht verraten wollten. Dann aber mußte auch jenes Gerücht der Wahrheit entsprechen, das von geflüchteten Missionären in die Grenzstädte des Gran Chaco gebracht worden war, daß nämlich an die Spitze der verbündeten Indianerstämme ein Mann getreten sei, der in seiner Jugend längere Zeit in Buenos Aires zugebracht, dort die Errungenschaften der Europäer kennen gelernt habe und nunmehr sich anschicke, die Erbfeinde seiner Nation mit ihren eigenen Waffen zu bekämpfen.

Was sich sonst noch genaueres über diesen bemerkenswerten Feind in Erfahrung bringen ließ, bestand in folgendem: Er hieß Juan oder mit der landesüblichen Verkleinerung Joaosigno und gehörte zum Tribus der Caduveer, die einst am linken Ufer des Paraguay zwischen den Flüssen Miranda und Apa ihre Jagdgebiete hatten und zu den gefürchtetsten Stämmen zählten, aber zur Zeit unserer Erzählung beinahe völlig ausgestorben waren. Ein junger italienischer Künstler, namens Boggiani, hatte den Mann im Jahre 1892 bei einem Ausfluge nach Nalicche, dem damaligen Hauptsitz der Caduveer, kennen und schätzen gelernt. Damals war Juan gerade aus Buenos Aires zurückgekehrt, und der weiße Gast glaubte bemerken zu können, daß zwischen ihm und seinem capitaosigno (Häuptling) Mbaya ein geheimer Haß bestand, weil er sich dem letzteren an Kenntnissen und geistigen Anlagen bedeutend überlegen fühlte.

In der Tat war dieser Haß wenige Jahre später zum offenen Ausbruch gekommen, und Juan hatte die heimatlichen Gefilde für immer verlassen müssen. Er war dann nach Buenos Aires zurückgekehrt und hatte der argentinischen Regierung in verschiedenen Aufständen der Eingeborenen als tüchtiger Kenner des Landes sehr wichtige Dienste geleistet. Aber auch hier fand sein Ehrgeiz nicht die gewünschte Befriedigung, denn die Weißen sahen in ihm trotz aller Vorteile, die sie aus ihm zogen, immer nur die tief unter ihnen stehende Rothaut. Da verschwand er eines Tages, aufs tiefste gekränkt und einen unauslöschlichen Haß gegen alle Nichtindianer mit sich tragend, von neuem aus Buenos Aires, ohne daß man je wieder eine Spur von ihm entdecken konnte. Und nun sollte er gar an der Spitze aller Indianerstämme des Gran Chaco stehen? Wenn sich diese Nachricht bewahrheitete, mußte er wahrhaftig Großartiges geleistet haben, wenn die Indianer den einst Verstoßenen und Verfemten nicht nur in ihre Reihen wieder aufgenommen, sondern gar zu ihrem obersten Häuptling gewählt hatten, vor dessen Entscheidungen sie sich widerspruchslos beugten.

An alle diese Berichte dachte Doktor Bergmann, während er von seiner Gondel aus über die mit niederem Buschwerk, hohen Wäldern und lieblichen Lichtungen überdeckte Ebene spähte, auf der sich, abgesehen von den Seinen, auch nicht ein menschliches Wesen entdecken ließ. Nachdem er also ungefähr zwei Stunden seine Beobachtungen fortgesetzt hatte, machte er einige photographische Aufnahmen von der Gegend, die nach Norden zu vor ihm lag, und gab dann das Zeichen, den Ballon wieder hinunterzuziehen.

Das Drahtseil war noch nicht ganz zur Hälfte eingeholt, als der Doktor einen beunruhigenden Lärm unter sich hörte und neugierig hinabblickte. Er sah zwei der Männer, anscheinend Mr. Bopkins und Sir Allan, in heftigem Ringen sich auf dem Boden wälzen, während die anderen, die nicht gerade an der Winde beschäftigt waren, im Kreise herumstanden und aus vollem Halse lachten.

Als der Doktor endlich aus der Gondel auf den Boden springen konnte, kam er gerade noch zur rechten Zeit, um zu sehen, wie Mr. Bopkins mit empörter Miene seinen nun schon zum vierten Male verunglückten Zylinder mit dem Ärmel wieder aufzubürsten suchte, während Sir Allan mit fest zusammengepreßten Händen, die wahrscheinlich irgend einen kostbaren Gegenstand umschlossen, unter dem Dach seines Wagens verschwand.

Voll heiterer Laune erzählten die beiden jüngeren Ingenieure ihrem Chef den Vorgang.

Sir Allan hatte die nächste Umgebung des Lagers nach Käfern durchstreift und war dabei auf ein ihm völlig unbekanntes Exemplar gestoßen, das bei seinem Herannahen erschreckt davonsurrte. Mit hoch erhobenem Netze lief der Engländer hinter ihm her und bemerkte alsbald mit seinen scharfen Augen, daß es sich nach kurzem Fluge schon auf Mr. Bopkins' grauem Zylinder niederließ, den es wahrscheinlich für einen von der Sonne durchwärmten Felsblock ansah.

Vorsichtig schlich Sir Allan herzu und stülpte mit einem raschen Schlage sein grünes Netz dem ahnungslosen Yankee übers Haupt, wobei dessen spitze Nase als wesentliches Hindernis von dem Drahtringe nicht gerade sanft berührt wurde. Aufs höchste erzürnt über diesen Angriff auf seine Repräsentantenehre fuhr Mr. Bopkins in die Höhe. Doch als er in dem Angreifer gar den verhaßten Engländer erblickte, der ihn vor kurzem erst vor der versammelten Bürgerschaft von Yuquirenda gedemütigt hatte, verlor er alle Überlegung und fuhr ihm kurzer Hand an den Hals. Er hatte aber vergessen, seinen Kopf vorher aus dem Netz zu ziehen; so fand Sir Allan Zeit zur Abwehr, und Mr. Bopkins zog auch diesmal wieder den kürzeren. Den Peones fiel es natürlich nicht ein, zu seinen Gunsten einzugreifen; er mußte sich vielmehr ruhig abkneten lassen, bis Sir Allan den verhängnisvollen Käfer aus dem semmelblonden Barte, wo er sich kräftig eingekrallt hatte, vorziehen und zu seinem Giftglase tragen konnte.

Der Doktor gab sich alle Mühe, bei dieser Beschreibung ein lustiges Lachen zu verbeißen und eine Miene zur Schau zu tragen, als ob er durch das Vorgefallene sehr unliebsam berührt werde. Nichtsdestoweniger trat der Yankee jetzt auf ihn zu und rief: »Mr. Bergmann, schämen Sie sich, auch in dieser Angelegenheit auf der Seite jenes Unverschämten zu stehen, obwohl in meiner Person unsere ganze Gesellschaft und somit auch Sie selber beleidigt worden sind! Ich protestiere dagegen und sage Ihnen heute schon, daß ich bei unserer Rückkehr nach Neuyork eine empfindliche Strafe gegen Sie beantragen werde. Denn Sie handeln offenkundig zum Schaden der Gesellschaft und des von ihr beglaubigten Vertreters!«

Sir Allan, der seinen kostbaren Fang in Sicherheit gebracht hatte und nun wieder herankam, hörte diese letzten Worte; er war sogleich bereit, die Verteidigung des Doktors zu übernehmen.

»Was krähen Sie da schon wieder, Sie Mr. Gockelhahn?« sagte er, dem Yankee fest ins Gesicht blickend. »Ihr Gedächtnis reicht wohl nur vom Aufstehen bis zum Niederlegen? Denn Sie scheinen wirklich nicht mehr zu wissen, daß Sie bei unserem Aufbruch von Yuquirenda gegen diese Expedition protestierten und sie unmöglich gemacht hätten, wenn ich nicht dem Doktor mit meinem Vermögen beigesprungen wäre. Folglich steht unser wackerer Doktor jetzt in meinen Diensten, und es geschieht aus reinem Mitleid, daß wir Sie mitlaufen lassen!«

»Ich protestiere gegen diese Auffassung,« fiel der Yankee ein, während er einen großen Kontrakt aus der Tasche zog. »Mr. Bergmann kann den Dienst der Gesellschaft keineswegs von heut auf morgen verlassen. Nach dem genauen Wortlaut dieses Vertrages hier muß er ein halbes Jahr vor seinem Austritt kündigen ...«

»Wenn er freiwillig gehen will!« erwiderte Sir Allan. »Aber nun haben Sie ihn im Namen der Gesellschaft vor die Türe gesetzt, und der Doktor ist nicht so ungeschickt, sich in diesem Falle auf die ausbedingte Kündigungsfrist zu steifen; denn er hat einen Mann gefunden, der seine Verdienste zehnmal besser zu schätzen weiß. Glauben Sie nicht, lieber Doktor?«

Mit diesen Worten faßte Sir Allan den Deutschen unter dem Arm und zog ihn fort, was dieser gern geschehen ließ, um den langweiligen Nergeleien des Yankee zu entgehen.

»Sie denken doch nicht im Ernste daran,« fragte der Doktor, während sie fortschritten und noch ein lautes »Ich protestiere« des Yankee hinter sich herschallen hörten, »die Gesellschaft aus dem Gran Chaco hinauszuwerfen und die Bahn selbst zu bauen?«

»Nicht im entferntesten,« entgegnete Sir Bendix lachend. »Ich habe klügeres zu tun, als mich mit Eisenbahnaktien herumzuärgern. Ich kann nur diesen Dollarhelden nicht ausstehen, der Sie wie den ersten besten Negersklaven behandeln will, und möchte Sie davor bewahren, daß er Sie mit seinen hundertsiebenundsechzig täglichen Protesten vorzeitig zu Tode quält.«

»Dennoch möchte ich bitten,« erwiderte der Doktor mit einer dankbaren Verbeugung, »daß Sie mit dem Manne etwas glimpflicher verfahren. Er bleibt trotz allem der Vertreter meiner Gesellschaft; und sich ein Schmetterlingsnetz über den Kopf stülpen zu lassen, das würde nicht einmal ein kleiner Schulknabe stillschweigend hinnehmen.«

»Pah!« entgegnete Sir Allan achselzuckend. »Ein seltenes Exemplar von Cryptocephalus oder Tritoma ist jedenfalls mehr wert, als so ein Ritter vom grauen Biberhut, und muß sich dennoch das Einfangen gefallen lassen. Die Hauptsache bleibt, daß unsere wissenschaftlichen Arbeiten einen guten Fortschritt nehmen.«

Er rief seinen John und ließ sich ein neues Netz reichen, während der Doktor seine Photographien entwickeln ging, um aus ihnen die Marschrichtung für die kommenden Tage festzusetzen.

Diese schien zunächst noch keine Schwierigkeiten zu bieten, denn das Gelände war fortwährend eben und ohne störende Wasseradern. Sie konnten daher fast schnurgerade nach Norden weiterziehen und brauchten nur einmal um eine kleine Waldzunge zu biegen und gleich nachher durch eine zweite eine kurze rastrillada (Fahrweg) zu schlagen; im übrigen stellten sich ihrem Vordringen keine Hindernisse entgegen.


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