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22.
Abgeschnitten!

Leider sollten sich die zum Schutz des Lagers getroffenen Vorkehrungen nicht als ausreichend erweisen, obwohl die erste Nacht noch ungestört verlief. Chiatzutak mußte sich nämlich erst einen Plan zurechtlegen, wie er die Geständnisse seines Gefangenen sich zu nutze machen konnte. Er begab sich daher mit Einbruch der Dunkelheit in eigener Person hinauf an den Rand der Schlucht und lag dort mehrere Stunden lang auf der Lauer, bis er den Wachdienst und die verschiedenen Ablösungszeiten der Feinde genau kannte.

Am nächsten Tage ließ er dann einige seiner besten Krieger rufen und fragte sie, ob sie für die heiligsten Interessen ihres Volkes das Leben aufs Spiel setzen wollten. Sie erklärten sich ohne Zögern dazu bereit. Doch als Chiatzutak den Auftrag auseinandersetzte, den er ihnen geben wollte, verließ die Mehrzahl von ihnen der Mut; nur zwei von ihnen blieben standhaft bei ihrem Versprechen. Diesen beiden wiederholte der Kazike noch einmal ausführlich seine Anweisungen und ließ sie dann ziehen mit der Aussicht auf eine besonders ehrenvolle Auszeichnung, falls ihnen ihr Vorhaben gelang.

Die beiden Roten machten sich, von einem Dutzend engerer Stammesgenossen begleitet, gegen Sonnenuntergang auf den Weg, stiegen den Abhang des Cerro Cristian hinauf und legten sich am Rande der Schlucht an einer Stelle nieder, von wo sie deren Ausgang bequem übersehen konnten.

Nun wandten die Indianer ihre Aufmerksamkeit zunächst Miguel Rodillas Hund zu. Solange nämlich dieser bei den Wagen sich aufhielt, war es jedem Feinde vollkommen unmöglich, sich anzuschleichen, denn das außerordentlich scharf witternde Tier hätte ihn rasch genug entdeckt. Darum hatten die beiden Indianer mit Chiatzutak verabredet, daß sie keinesfalls den Abstieg in die Schlucht versuchen wollten, solange sich der Hund darin befand. Lieber sollten sie einige Tage warten, bis der erhoffte günstige Augenblick eintrat; denn sie hatten wohl bemerkt, daß Miguel Rodilla sich des öfteren an den Wachen beteiligte und der Hund dann seinen Herrn bis hinaus vor die Mündung begleitete.

Ihre Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt. Der Spanier fühlte sich gerade an diesem Tage von einer unerklärlichen Unruhe befallen, und in der Voraussicht, keinen Schlaf zu finden, löste er aus freien Stücken den einen Peon der zweiten Nachtwache ab. Deutlich sahen die in der Höhe lauernden Indianer, wie er in seinen Poncho gehüllt vom Lagerfeuer aufbrach und, gefolgt von Picaro, dem Hunde, bald darauf in der Schluchtmündung verschwand.

Da erhoben sich die Rothäute und zogen am Rande der Schlucht entlang, bis sie das hinterste Ende derselben erreichten. Nun galt es, rasch zu handeln. Die Ablösungen bei den Weißen erfolgten durchschnittlich alle zwei Stunden; in dieser kurzen Frist mußten die beiden kühnen Männer ihren Anschlag ausgeführt haben.

So weit der feste Boden unten in der Schlucht reichte, durften sie nicht daran denken, sich hinabzulassen. Trotz des nur schwachen Scheines der Feuer wären sie dort von den Posten sicher entdeckt worden. Der Hintergrund der Schlucht aber mit dem See war in tiefes Dunkel gehüllt, und trotz aller Umsicht hatten sowohl der Doktor wie der Oberst darauf vergessen, auch auf dem Wasser ein Floß mit einer Feuerstelle einzurichten.

Hier ließen nun die Indianer ein entsprechend langes Seil hinunter, an dem die beiden Unerschrockenen behutsam in die Tiefe kletterten. Sie erreichten glücklich den See, durchschwammen ihn mit möglichst wenig Geräusch und stiegen dann ans Ufer. Ihre einzige Bewaffnung bestand aus einem Dolchmesser.

Nun war es für die beiden Söhne der Wildnis kein großes Kunststück mehr, sich durch die Sträucher und das ziemlich hohe Gras bis zu den Wagen hinzuschleichen. Dort erst erwartete sie der letzte und schwierigste Teil ihrer Aufgabe.

Vorsichtig schauten sie sich um, ob noch einer der Weißen hier wach war. Sie vernahmen aber nur die tiefen Atemzüge der Schlafenden unter dem Galpon und in einiger Entfernung den einförmigen Schritt der auf und ab gehenden Wachen. Rasch entschlossen huschten sie nun bis zu dem Karren vor, der die Hydrolvorräte enthielt.

siehe Bildunterschrift

Die Söhne der Wildnis ließen sich an einem Seil in die Tiefe.

Die Tür desselben ließ sich geräuschlos öffnen. Behutsam zogen sie die noch übrigen, hermetisch verschlossenen Zinkflaschen heraus, die den für die Expedition hochwichtigen Stoff enthielten. Rasch waren auch die Verschlußknöpfe heruntergeschraubt, und dann ließen die beiden Roten den kostbaren Inhalt auf die feuchte Erde laufen, wodurch er unwiederbringlich verdorben wurde. Mr. Bopkins hatte ihnen in seiner Angst alle diese Dinge mit der größten Zuvorkommenheit auseinandergesetzt und beschrieben; daher gelang ihnen der Anschlag nur allzugut.

Als der Wagen leer war, krochen sie wieder davon, erreichten glücklich den See und konnten ungefährdet an dem Seile in die Höhe turnen.

Kurze Zeit nachher kehrte Miguel Rodilla ins Lager zurück. Als er gerade in den Galpon eintreten wollte, ließ Picaro plötzlich ein drohendes Knurren hören, dem alsbald ein lautes Gebell folgte. Von dem Lärm erwachten die Schlafenden, stürzten ins Freie, von den Feuern kamen die Wachen mit Fackeln herbei und nun bemerkte man das geschehene Unglück.

Zwar folgten die ergrimmten Peones sogleich dem Hunde, der bereits hinten beim See stand und auf das dunkle Wasser hinausbellte. Aber die kühnen Eindringlinge befanden sich schon wieder in Sicherheit, als die Suchenden unten anlangten. Ein höhnisches Lachen hoch vom Rande der Schlucht herunter war die einzige Auskunft, die diesen zu teil wurde.

Der Doktor und seine Assistenten standen indessen in höchster Bestürzung um die geleerten Flaschen, während sich der Oberst in kräftigen Verwünschungen gegen den verschwundenen Vertreter der South-American-Railway-Company erging. Denn daß nur durch diesen den Indianern der Hinweis zu teil geworden war, wie sie ihre Feinde am empfindlichsten und erfolgreichsten treffen konnten, das war allen auf der Stelle klar. Ebenso einstimmig war auch die Verurteilung, welche Mr. Bopkins' unentschuldbares Betragen fand.

»Es ist eine bodenlose Gehässigkeit,« rief der Oberst ein über das andere Mal, »uns, denen er schon mehrfach das Leben verdankt, in dieser Weise zu verraten!«

Der gutmütige Doktor suchte auch hier wieder den Yankee zu verteidigen. »Ich glaube, nur sein Groll gegen uns hat ihn zu jenem unvorsichtigen Schritte verleitet. Chiatzutak hat bei der letzten Unterredung deutlich genug seine Ansichten kennen gelernt und ihm wahrscheinlich allerlei goldene Versprechen gemacht; da ließ er sich denn aus Ärger über uns und wohl noch mehr aus Sorge für sein kostbares Ich bereden und lief zu den Indianern über. Die haben nachher natürlich über seine Leichtgläubigkeit gelacht und mit allerlei Drohungen aus ihm herausgepreßt, so viel sich herauspressen ließ. Ich irre wohl kaum in dem Glauben, daß er seine Dummheit bereits aufs tiefste selber bereut.«

Dem war in der Tat so. Zwischen den beiden Polen gab es in diesem Augenblick vielleicht niemanden, der sich unglücklicher fühlte als der brave Mr. Bopkins aus Neuyork. Ohne Schutz gegen den endlos niederströmenden Regen und den reichlich fließenden Hohnreden der vorbeigehenden Indianer ausgesetzt, saß er festgebunden an seinem Baum und dachte voll Wehmut an das schöne Lager unter der wasserdichten Decke seines Wagens zurück, das er sich leichtsinnig verscherzt hatte. Statt die verschiedenen Leckerbissen aus Schanis kunstgewandten Händen zu genießen, mußte er sich mit dem Speisezettel der Indianer begnügen, der jetzt in der Regenzeit ausschließlich aus Fischen bestand, die ohne Salz und ohne Schmalz in der heißen Asche geröstet wurden. Das schlimmste aber war der Branntwein, den man ihm als Getränk reichte, mußte er doch mit eigenen Augen zusehen, wie dieses kostbare Naß bereitet wurde.

Die Indianer des Chaco verwenden nämlich dazu die Früchte von Algaroben oder chañar (Nüsse einer eukalyptusähnlichen Pflanze), am häufigsten jedoch mistol ( Rhamnus zizyphus). Soll Branntwein bereitet werden, so setzen sie sich in Gruppen nieder, kauen eine entsprechende Menge der genannten Früchte und spucken sie dann in ein Holzgefäß, das zwischen ihnen auf dem Boden steht. Sobald es voll ist, wird der Inhalt in eine Art Mörser aus Yuchanholz geleert und dieser in einen großen Trog aus dem gleichen Stoffe gestellt, den man bis zum Rande mit Wasser füllt und sich selbst überläßt. Nach zwölf bis achtzehn Stunden ist die Gärung beendet, und aus dem wässerigen Fruchtgemisch ein Branntwein von schöner gelblicher Farbe entstanden, den die Verfertiger über jedes andere Labsal schätzen und in unglaublichen Mengen verbrauchen.

Einige mutige Weiße haben ihn, jeder Einsprache ihres Magens trotzend, gekostet und von sehr gutem Geschmack gefunden. Aber die Mehrzahl aller von der Kultur beleckten Europäer empfindet natürlich einen unwiderstehlichen Ekel vor diesem Gebräu und kann sich nur in den äußersten Fällen entschließen, einen Tropfen davon über die Lippen zu bringen. Nun sah sich Mr. Bopkins, der von Neuyork so viele schöne Flaschen mit noch schönerem Inhalt mitgebracht hatte, gezwungen, alltäglich eine beträchtliche Menge von diesem garantiert natürlichen Whisky zu verschlingen! Die Indianer waren nämlich gerade in diesem Punkte sehr edelsinnig, teilten mit ihrem Gefangenen brüderlich alle Vorräte, und Mr. Bopkins' Furcht, sie könnten eine Weigerung übelnehmen, war noch größer als sein Abscheu vor diesem Sorgenbrecher.

Doch kehren wir zum Lager in die Schlucht zurück. Dort dachte nach der folgenschweren Entdeckung natürlich niemand mehr ans Schlafen, sondern in einer langen und ernsten Unterredung wurde die Frage erwogen, wie man nunmehr die Hilfe von Yuquirenda herbeirufen sollte; denn dies mußte bald geschehen, wenn die Eingeschlossenen nicht in eine ernste Notlage geraten wollten.

Ihre Lebensmittelvorräte reichten höchstens noch auf vierzehn Tage, dann mußten sie daran denken, ihre Zugtiere zu töten und von deren Fleisch ihr Leben zu fristen. Am schwersten aber wog der Umstand mit, daß sich die Kräfte der mitgeführten Akkumulatoren bei den vielen fruchtlosen Versuchen schon ziemlich erschöpft hatten; man mußte also auch hier äußerst haushälterisch zu Werke gehen, zumal der Doktor später noch vom Cerro San Miguel die Verbindung nach Santa Cruz herzustellen hatte, bevor seine Maschine in Tätigkeit treten konnte.

So wurde endlich beschlossen, daß man sich durch die Vernichtung der Hydrolvorräte von dem ursprünglichen Plan, nur alle acht Tage einen Hilferuf nach Süden auszusenden, nicht abbringen lassen wollte. Es schien rätlicher, eher einige Tage und einige Zugtiere zu verlieren, als die unersetzliche elektrische Energie nutzlos zu vergeuden.

Dann mußte daran gedacht werden, den für den Augenblick hilflosen Ballon durch ein anderes Mittel zu ersetzen, um die Senderdrähte in eine entsprechende Höhe zu tragen. Daß dies möglich war, hatte zum Glück Mr. Bopkins nicht gewußt, und es daher auch den Indianern nicht verraten können.

Schani, der als echtes Wiener Kind in der Kunst des Drachenbauens besonders erfahren schien, wurde nun von dem Doktor in die Geheimnisse eines Hargravedrachens eingeweiht. Er begriff rasch die ihm gestellte Aufgabe und brachte innerhalb zwei Tagen das gewünschte Meisterwerk zu stande.

Die notwendigen Stangen für das Gestell mußten zwar mit einiger Gefahr aus einem Bambusdickicht außerhalb der Schlucht geholt werden, was die Indianer zu einem ziemlich heftigen Vorstoß veranlaßte. Um die Windflächen aber war Schani nicht verlegen; in der Überzeugung, daß jede Tat ihre gerechte Strafe finden müsse, deckte er, ohne lange um Erlaubnis zu fragen, Mr. Bopkins' vereinsamten Wagen ab und zerschnitt dessen wasserdichte Blahe in entsprechende Streifen.

Der fertige Drachen maß ungefähr zweieinhalb Meter in der Höhe und mußte bei einigermaßen günstigem Winde seinen Zweck vollständig erfüllen. Von den Streben herabhängend brachte dann der Doktor die Senderdrähte an. Umsponnener und doppelt zusammengedrehter Kupferdraht, der beinahe sechshundert Meter in der Länge maß, sollte als Leitung und Fangschnur zugleich dienen.

Nun handelte es sich nur noch darum, den Drachen in die Höhe zu bringen. Von der Schlucht aus war dies nicht möglich, da wenigstens auf ihrem Grund eine beständige Windstille herrschte. Der mächtige Drache verlangte aber besonders beim Aufstieg einen ziemlich starken Luftdruck; daher mußte versucht werden, ihn auf die Prärie hinauszubringen und dort emporgehen zu lassen.

Auch zu diesem nicht ungefährlichen Wagestück erklärte sich der brave Schani bereit. Ja, als der Doktor einen der Peones damit betrauen wollte, fühlte jener sich sogar beleidigt und erklärte, als Schöpfer des Kunstwerkes das erste Anrecht auf das Flottmachen seines Luftseglers zu besitzen. Da mußte ihn der Doktor gewähren lassen.

Als wieder eine Woche seit dem letzten Ballonaufstieg verstrichen war, ging man um vier Uhr Morgens daran, den Drachen zu erproben. Schani packte sich das ziemlich schwere Gestell auf die Schultern und marschierte damit wohlgemut aus der Mündung der Schlucht hinaus, an welcher die Peones zu Pferde halten blieben, um ihm im Notfalle zu Hilfe zu kommen.

Der niederrauschende Regen verschlang fast vollständig das Geräusch seiner Tritte und auch das leise Zischen, das die Leitungsschnur beim Nachschleifen durch das Gras verursachte. Dennoch mochte wenigstens die ungewöhnliche Bewegung am Eingange der Schlucht von den Wachen der Indianer bemerkt worden sein; denn als Schani nach etwa hundertfünfzig Schritten anhielt, um einen günstigen Windstoß abzuwarten, hörte er seitwärts in geringer Entfernung zwei unterdrückte Stimmen, die eifrig miteinander sprachen.

Während er nach ihnen hinhorchte, ohne sie natürlich verstehen zu können, gab er auf den Drachen weniger acht. Ein plötzlicher Luftzug, der sich in der Leinwand verfing, warf diesen um; er schlug mit einem dumpfen, aber leider nur allzu vernehmlichen Krach auf den Boden. Sogleich verstummten die Stimmen, und es blieb kein Zweifel, daß ihre Besitzer mit ihren scharfen Sinnen den Feind trotz der tiefen Finsternis bald entdecken mußten, wenn es diesem nicht gelang, sie noch rechtzeitig zu verscheuchen. Aber der wackere Schani ließ sich nicht so leicht verblüffen.

In seinen Jugendtagen hatte er viele freie Stunden in dem Tiergarten beim kaiserlichen Lustschloß Schönbrunn zugebracht. Namentlich die verschiedenen Käfige der lebenden Löwen und Tiger hatten stets einen unwiderstehlichen Reiz auf ihn ausgeübt, so daß er lange Zeit fest entschlossen gewesen war, seine zukünftigen Lorbeeren als Tierbändiger zu erringen. Als Vorschule zu diesem schweren Geschäft hatte er die Nachahmung der verschiedenen Tierstimmen angesehen und es darin zu einer wahren Meisterschaft gebracht, die ihm zuerst in der Schule eine Reihe wohlverdienter Strafen, nachher beim Regiment aber den Beifall und die Bewunderung seiner Kameraden eingetragen hatte. Nun sollte ihn diese jugendliche Spielerei aus einer ernsten Gefahr retten.

Sowie er die Tritte der heranschleichenden Indianer zu vernehmen glaubte, kauerte er sich nieder, ließ das Pfauchen eines erzürnten Puma hören und schlug zugleich mit seiner Mütze mehrmals heftig auf den Boden, als ob sie der Schweif einer solchen gefürchteten Katze wäre. Das klang so täuschend und naturgetreu, daß die beiden Späher einen lauten Schreckensschrei ausstießen und in höchster Angst davonstoben.

»Dö hab i g'höri ausg'wischt, dö Rabenbratln,« murmelte Schani sehr zufrieden vor sich hin; dann tastete er sich nach seinem Drachen zurück, um ihn nicht mehr aus der Hand zu lassen.

Nun mußte er ziemlich lange warten, ehe sich der Wind wieder zu genügender Stärke erhob. Schon fürchtete er, unverrichteter Dinge wieder zurückkehren zu müssen, weil ein schwacher Schimmer den kommenden Tag bereits anzukünden begann. Die Indianer durften ja den Drachen erst bemerken, wenn er hoch in den Lüften stand, sonst wäre es schwer gewesen, ihn ein zweites Mal steigen zu lassen, falls sich auch jetzt keine Verbindung mit Yuquirenda herstellen ließ.

Doch wie gewöhnlich brachte der Morgen eine frische Brise, die zugleich den dichten Wolkenschleier ein wenig zerstreute. Da schob Schani den zusammengebogenen Finger in den Mund, ließ den verabredeten Pfiff hören, und als er gleich darauf fühlte, wie die Fangschnur angezogen wurde, warf er den Drachen ohne langes Besinnen in die Höhe. Nach einigem unentschiedenen Hin- und Herschwanken stieg dieser rasch empor, und die Männer am Eingange der Schlucht konnten, während sie langsam die Drahtleine ablaufen ließen, ins Lager zurückkehren.

Auch Schani verweilte nicht länger auf seinem Platze. Der Pfiff war drüben bei den Indianern gehört worden; schon nach wenigen Sekunden stürzte ein dichter Schwarm roter Krieger aus den verschiedenen Ranchos hervor, um den kecken Feind abzufangen. Doch sie kamen viel zu spät. Schani war längst in Sicherheit, als sie an dem Platze anlangten, wo er kurz zuvor den Puma gespielt hatte.

Das Ereignis wurde sofort dem alten Kaziken gemeldet und dieser ließ unverzüglich seinen Gefangenen herbeischleppen, um Auskunft über dieses neue Rätsel zu erhalten. Als Mr. Bopkins den Drachen sah, der beinahe schon seinen höchsten Standpunkt erreicht hatte, erriet er rasch den Zusammenhang, und gefällig wie immer, setzte er auch diesmal dem Kaziken die Sachlage auseinander.

siehe Bildunterschrift

Der Drache stand hoch am grauen Himmel.

Zum Dank überschüttete Chiatzutak den Yankee mit einer Flut von Verwünschungen, weil er ihn nicht schon vorher von der Möglichkeit des Drachenbaues unterrichtet hatte, gab ihm einige wohlgezielte Hiebe und ließ ihn dann zu seinem Baume zurückschaffen, nachdem er ihm noch die ärgsten Folterqualen angedroht hatte, falls die Weißen nun dennoch ihre Absicht durchsetzen und die ersehnte Hilfe herbeirufen konnten. Dann ließ er seine gesamte Leibwache antreten und schickte sie nach dem Rande der Schlucht mit dem Auftrage, wenn irgend möglich die Schnur zu zerschießen, von welcher das gefährliche Flugtier der Weißen gehalten wurde. Dieses Auskunftsmittel war natürlich ziemlich aussichtslos und konnte nur durch einen reinen Zufall zu einem Erfolg führen, aber es war eben das einzige, und daher mußte es versucht werden.

Die Krieger eilten davon und Chiatzutak wartete in fieberhafter Spannung auf den Boten, der ihm das Gelingen seines Planes anzeigen sollte.

Zur selben Zeit herrschte bei den Mitgliedern der Expedition eine nicht minder große Aufregung. Wohl stand der Drache hoch am grauen Himmel und schaukelte sich mit ruhigen Schwingungen vor dem kühlen Nordwinde, aber noch war es zweifelhaft, ob er endlich die heißersehnte Nachricht bringen werde, daß ihr Notsignal drunten in Yuquirenda gehört wurde.

Mit beinahe zitternden Händen klopfte der Doktor auf den Zeichengeber, während alle anderen, soweit sie nicht Wache standen, mit verhaltenem Atem auf die Glocke blickten, welche die beglückende Antwort geben sollte. So verstrichen gegen zehn Minuten, während der Doktor immer neue Wellen in die Lüfte sandte. Da plötzlich ein scharfes Klingeln, und ein Jubelschrei aus tiefstem Herzen brach von aller Munde: sie waren gehört worden!

Hastig gab der Doktor Antwort, und bald war ein lebhaftes Gespräch im Gange, dessen Inhalt Doktor Bergmann seinen lauschenden Zuhörern in kurzen abgerissenen Worten verdeutlichte.

Don Rocca hatte Yuquirenda und auch Asuncion glücklich erreicht, dort aber mancherlei Schwierigkeiten gefunden, ehe er die Apparate für die drahtlose Telegraphie zur Stelle schaffen konnte. Dann war er ohne Verzug nach Yuquirenda zurückgekehrt, um dort den unerläßlichen Senderturm zu errichten; das war keine leichte Arbeit gewesen, besonders weil sich außer ihm niemand auf Telegraphie und ähnliche wissenschaftliche Dinge verstand. Erst vor zwei Tagen war er mit seinen Vorbereitungen zu Ende gekommen.

Auch Kapitän Artigas hatte nicht gefeiert, sondern aus den verschiedenen Estancias eine stattliche Schar von Reitern, großenteils ehemalige Grenzsoldaten, um sich versammelt, die unter seiner bewährten Führung gerne bereit waren, neue Lorbeeren gegen die Indianer des Chaco zu erringen. Schon seit vierzehn Tagen harrten sie, an zweihundert Mann stark, auf den Ruf zur Tat.

In Erwiderung auf diese tröstlichen Nachrichten berichtete der Doktor über die hauptsächlichsten Erlebnisse der Expedition und ihren gegenwärtigen Zustand, sowie über ihren jetzigen Standplatz, den er während der Zeit des Wartens genau genug hatte bestimmen können.

Der telegraphische Verkehr war noch nicht lange im Gang, da wurden die Männer beim Apparat durch ein lebhaftes Gewehrfeuer erschreckt, das plötzlich oben von beiden Rändern der Schlucht losbrach und sie zunächst auf die Meinung brachte, es sei auf ihre Personen abgesehen. Eilig griffen sie zu ihren Waffen, um sich zu verteidigen. Da erkannte der Oberst durch das Fernrohr, daß sich die feindlichen Flintenläufe alle nach aufwärts richteten. Er brach in ein herzliches Lachen aus und rief: »Sie wollen nur unseren Drachen totschießen!«

Da senkten die anderen wieder ihre Gewehre und stimmten in seine Heiterkeit ein; selbst der Doktor sagte: »Sie können ihre ganze Munition verpuffen, ehe sie den dünnen Faden treffen, an dem unser Drache hängt. Wer weiß, ob sie ihn überhaupt gegen die grauen Wolken unterscheiden können.«

Aber das für unmöglich gehaltene trat doch ein, allerdings erst nach einer geraumen Weile, als die notwendigsten Mitteilungen bereits hin und her geflogen waren und nur mehr nebensächliche Einzelheiten vereinbart wurden. Der straffgespannte Draht, der im Windhauch leise summte wie eine schwach angestrichene Saite, gab plötzlich nach, und mit einem mächtigen Satze sauste der Drache davon, um bald in der Ferne und der Erde sich zuneigend zu verschwinden.

»Macht nichts!« tröstete der Doktor seine Gefährten, die dem Flüchtling mit überraschten und zum Teile bestürzten Blicken folgten. »Das Notwendigste haben wir erreicht und obendrein den Vorteil errungen, daß unsere Gegner ein gut Teil ihrer Pulvervorräte verbraucht haben, die sich hier in der weltabgeschlossenen Einsamkeit kaum rasch genug wieder ersetzen lassen.«

»Und wenn Kapitän Artigas noch so zu reiten versteht wie früher,« fügte der Oberst hinzu, »können wir in längstens acht Tagen darauf rechnen, die wehenden Ponchos seiner Männer im Süden auftauchen zu sehen; die sechshundert Kilometer, die uns trennen, sind für sie ein Kinderspiel!«

»Hoffentlich werden sie von unseren Feinden nicht zu früh entdeckt und können über sie herfallen wie ein Blitz aus heiterem Himmel,« schloß der Doktor, während er mit vergnügter Miene seine Apparate wieder zusammenpackte.


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