Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Schluß

Die Bohrmaschinen zermalmten den Berg in den atlantischen Stollen und täglich kamen die Tunnelköpfe einander näher und näher. Die letzten dreißig Kilometer waren eine Sträflingsarbeit. Allan war gezwungen, für zwei Stunden zehn Dollar zu bezahlen, denn kein Mensch wollte hinein 394 in den »Krater«. Der Mantel dieser Stollenabschnitte mußte mit einem Netz von Kühlröhren übersponnen werden. Nach einem Jahr furchtbarer Arbeit war auch dieser Stollen bewältigt.

Der Tunnel war fertig. Die Menschen hatten ihn unternommen, die Menschen hatten ihn vollendet! Aus Schweiß und Blut war er gebaut, rund neuntausend Menschen hatte er verschlungen, namenloses Unheil in die Welt gebracht, aber nun stand er! Und niemand wunderte sich darüber.

Vier Wochen später nahm die submarine pneumatische Expreßpost den Betrieb auf.

Ein Verleger bot Allan eine Million Dollar, wenn er die Geschichte des Tunnels schreiben wolle. Allan lehnte ab. Er schrieb lediglich zwei Spalten für den Herald.

Allan machte sich nicht bescheidener als er war. Aber er betonte wieder und wieder, daß er nur mit Hilfe solch ausgezeichneter Männer wie Strom, Müller, Olin-Mühlenberg, Hobby, Harriman, Bärmann und hundert andern den Bau habe vollenden können.

»Ich muß indessen bekennen,« schrieb er, »daß mich die Zeit überholt hat. Alle meine Maschinen über und unter der Erde sind veraltet und ich bin gezwungen, sie im Laufe der Zeit durch moderne zu ersetzen. Meine Bohrer, auf die ich einst stolz war, sind altmodisch geworden. Man hat die Rocky Mountains in kürzerer Zeit durchbohrt, als ich es hätte tun können. Die Motorschnellboote fahren heute in zweieinhalb Tagen von England nach New York, die deutschen Riesenluftschiffe überfliegen den Atlantic in sechsunddreißig Stunden. Noch bin ich schneller als sie und je schneller Boote und Luftschiffe werden, desto schneller werde ich! Ich kann die Geschwindigkeit leicht auf 300–400 Kilometer die Stunde steigern. Zudem fordern Schnellboote und Luftschiffe Preise, die nur der reiche Mann bezahlen kann. Meine Preise sind 395 populär. Der Tunnel gehört dem Volke, dem Kaufmann, dem Einwanderer. Ich kann heute vierzigtausend Menschen täglich befördern. In zehn Jahren, wenn die Stollen alle doppelt ausgebaut sein werden, achtzig- bis hunderttausend. In hundert Jahren wird der Tunnel den Verkehr nicht mehr bewältigen können. Es wird Aufgabe des Syndikats sein, bis dahin Parallelstollen zu bauen, die relativ leicht und billig herzustellen sein werden.«

Und Allan kündigte in seinem schlicht und unbeholfen geschriebenen Artikel an, daß er genau in sechs Monaten, am ersten Juni des sechsundzwanzigsten Baujahrs, den ersten Zug nach Europa laufen lassen werde.

Um diesen Termin einhalten zu können, peitschte er Ingenieure und Mannschaften zu einem tollen Finish an. Monate hindurch rasten Züge voll alter Schwellen und Schienen ans Licht. Die Geleise für die Tunneltrains wurden instand gesetzt, Probefahrten in allen Stollen ausgeführt. Ein Bataillon von Führern wurde ausgebildet, wozu Allan Leute wählte, die an hohe Geschwindigkeiten gewöhnt waren: Automobil- und Motorrad-Rennfahrer und Flugzeugführer.

In den Stationen Biskaya und Mac City waren in den letzten Jahren gespenstische Riesenhallen emporgewachsen: die Tunnel-Wagenbau-Fabriken. Diese Wagen riefen eine neue Sensation hervor. Sie waren etwas höher als Pullmancars, aber nahezu zweimal so lang und doppelt so breit. Panzerkreuzer, die auf einem Kiel von vier Doppelpaaren dicker Räder liefen und Kreisel, Kühler, Behälter, Kabel und Röhren, einen ganzen Organismus im Bauche hatten. Die Speisewagen waren Prunksäle. (Kinematographische und musikalische Vorführungen sollten die Reise durch den Tunnel verkürzen.)

Ganz New York stürmte Hoboken-Station, um in diesen neuen Wagen vorerst wenigstens bis Mac City zu fahren. 396 Die Tunneltrains selbst waren für die ersten drei Monate bis auf den letzten Platz seit vielen Wochen belegt.

So kam der erste Juni heran . . .

New York hatte geflaggt. London, Paris, Berlin, Rom, Wien, Peking, Tokio, Sidney hatten geflaggt. Die ganze zivilisierte Welt feierte Allans erste Fahrt wie ein Völkerfest.

Allan wollte um Mitternacht die Reise antreten und um Mitternacht des zweiten Juni (amerikanische Zeit) in Biskaya eintreffen.

Schon Tage vorher liefen Extrazüge von Berlin, London und Paris nach Biskaya, von allen großen Städten der Staaten nach Mac City. Flotten von Dampfern gingen nach den Azoren und Bermudas in See. Am ersten Juni flogen von frühmorgens an stündlich zwanzig Züge nach Mac City, vollgestopft mit Menschen, die mit eigenen Augen sehen wollten, wie sich der erste Amerika-Europa-Flieger in den Tunnel hineinstürzte. Die großen Hotels in New York, Chikago, San Franzisko, Paris, Berlin, London veranstalteten Bankette, die um zehn Uhr ihren Anfang nehmen und volle achtundzwanzig Stunden dauern sollten. Edison-Bio wollte in allen diesen Hotels ihren Riesentunnelfilm vorführen, der sechs volle Stunden dauerte. In den Varietés und Concerthalls traten Chöre von früheren Tunnelmen auf, die die Tunnellieder sangen. Auf den Straßen wurden Millionen von Postkarten mit Allans Porträt verkauft, Millionen von »Tunnel-charms«, kleine in Metall gefaßte Gesteinsplitter aus den Stollen.

Allan startete Punkt zwölf Uhr nachts. Die ungeheure Bahnhofhalle von Hoboken-Station, die größte der Welt, war bis auf den letzten Quadratfuß mit erregten Menschen angefüllt und alle reckten die Hälse, um einen Blick auf den mächtigen Tunneltrain zu werfen, der zur Abfahrt bereit stand. Grau war er wie Staub und ganz aus Stahl. 397

Der Zug, der mit dem Führungswagen aus sechs Waggons bestand, war hell erleuchtet, und die Glücklichen, die nahe genug standen, blickten in prächtige Salons. Es waren Salonwagen. Man vermutete, daß Ethel die erste Fahrt mitmachen werde, denn trotz phantastisch hoher Angebote waren Passagiere abgelehnt worden. Ein Viertel vor zwölf wurden die eisernen Rolläden heruntergezogen. Die Spannung der Menge wuchs mit jeder Minute. Zehn Minuten vor zwölf bestiegen vier Ingenieure den Führungswagen, der an ein Torpedoboot mit zwei runden Augen am scharfen Bug erinnerte. Allan mußte nun jeden Augenblick erscheinen.

Allan kam fünf Minuten vor zwölf Uhr. Als er den Perron betrat, brandete ein solch donnerndes Geschrei durch die Halle, daß man hätte glauben können, Hoboken-Station krache in sich zusammen.

Als junger Mann hatte Allan den Bau begonnen und nun stand er da, schneeweiß, verbraucht, mit fahlen, etwas schwammigen Wangen und gutmütigen, blaugrauen Kinderaugen. Mit ihm kam Ethel heraus, die den kleinen Mac an der Hand führte. Hinter ihr ein kleiner gebückter Mann mit aufgestülptem Mantelkragen und weiter Reisemütze, die tief übers Gesicht sank. Er war kaum größer als der kleine Mac und man hielt ihn allgemein für einen farbigen Groom. Es war Lloyd.

Die meterhohe Mumie gab Ethel und dem kleinen Mac die Hand und kletterte behutsam in den Waggon: Lloyd also war der Passagier! Nicht ein Kaiser oder König, nicht der Präsident der Republik, die Großmacht Lloyd, das Geld, war der erste Passagier!

Ethel blieb mit ihrem Knaben zurück. Sie hatte den kleinen Mac von Rawley herübergebracht, damit er diesen großen Augenblick miterlebe. Allan verabschiedete sich von seinem Sohn und Ethel, und Ethel sagte: »Well, good bye, Mac. I hope you will have a nice trip!« 398

Die Kreisel begannen zu rotieren und füllten die Halle mit einem hohlen, pfeifenden Sausen. Die Stützbacken lösten sich automatisch, als die Kreisel die erforderliche Tourenzahl erreicht hatten – und der Zug glitt unter dem tobenden Jubel der Menge aus der Halle. Die Scheinwerfer schleuderten ihre bleichen Lichtkegel über Hoboken, New York und Brooklyn, die Sirenen der Dampfer in den Docken, auf dem Hudson, der Bai, dem East-River tuteten und heulten, die Telephone klingelten, die Telegraphen spielten – – New York, Chikago, San Franzisko brausten auf, der Jubel der ganzen Welt begleitete Allan auf die Reise. Zur gleichen Zeit blieben alle technischen Betriebe der Welt auf fünf Minuten stehen, alle Schiffsschrauben, die in diesem Augenblick die Weltmeere peitschten, zur gleichen Zeit heulten und tuteten die Pfeifen und Sirenen aller Eisenbahnzüge und Dampfer, die unterwegs waren: ein brutaler, gewaltiger Schrei der Arbeit, die ihrem Werk zujubelte.

Der alte Lloyd ließ sich entkleiden und legte sich zu Bett.

Sie waren unterwegs. –

In den Hotels hatten Tausende von Menschen um zehn Uhr diniert und erregt über den bevorstehenden Start gesprochen. Musikkapellen konzertierten. Das Fieber wuchs und wuchs. Man wurde exaltiert und sogar poetisch. Man nannte den Tunnel »die größte menschliche Tat aller Zeiten«. »Mac Allan hat das Epos vom Eisen und der Elektrizität gedichtet.« Ja, Mac Allan wurde sogar im Hinblick auf seine Schicksale in den fünfundzwanzig Jahren des Baus »der Odysseus der modernen Technik« genannt.

Zehn Minuten vor zwölf flammte die Projektionsfläche der Edison-Bio auf und darauf stand: »Ruhe!«

Sofort wurde alles vollkommen still. Und augenblicklich begann der Telekinematograph zu arbeiten. In allen Weltstädten der Erde sah man zur gleichen Sekunde die 399 Bahnhofhalle von Hoboken-Station, schwarz von Menschen. Man sah den gewaltigen Tunneltrain, man sah, wie Allan sich von Ethel und seinem Sohn verabschiedete – die Zuschauer schwingen die Hüte: der Zug gleitet aus der Halle . . .

Ein unbeschreiblicher, donnernder Jubel, der minutenlang währte, erhob sich. Man stieg auf die Tische, Hunderte von Sektgläsern wurden zerbrochen und zertreten. Die Musik intonierte das Tunnellied: »Three cheers and a tiger for him! . . .« Aber der Lärm war so ungeheuer, daß niemand einen Ton hörte.

Hierauf erschien eine Schrift auf der Leinwand: »Die fünfundzwanzig Köpfe.« Allan, als er den Bau begann, Allan, wie er heute aussah. Ein zweiter Orkan der Begeisterung brach los. Hobby, Strom, Harriman, Bärmann, S. Woolf, der »fette Müller«, Lloyd. Dann begann der eigentliche Film. Er begann mit dem Meeting auf dem Dachgarten des »Atlantic«, dem »ersten Spatenstich«, er führte im Laufe der Nacht mit Unterbrechungen durch alle Phasen des Baus, und so oft Allans Bild erschien, erhob sich neuer, begeisterter Jubel. Der Riesenfilm zeigte die Katastrophe, den Streik. Man sah wieder Mac Allan durch das Megaphon zu dem Heer von Arbeitern sprechen (und der Phonograph brachte Teile seiner Rede!), die Prozession der Tunnelmen, den großen Brand. Alles.

Nach einer Stunde, um ein Uhr, erschien auf der Projektionsfläche ein Telegramm: »Allan in den Tunnel eingefahren. Ungeheure Begeisterung der Menge! Viele Menschen im Gedränge verletzt!«

Der Film ging weiter. Nur von halber zu halber Stunde wurde er durch Telegramme unterbrochen: Allan passiert den hundertsten Kilometer – – den zweihundertsten – Allan stoppt eine Minute. Ungeheure Wetten wurden abgeschlossen. Niemand sah mehr auf den Film. Alles rechnete, 400 wettete, schrie! Würde Allan pünktlich in Bermuda eintreffen? Allans erste Fahrt war zu einem Rennen geworden, zu einem Rennen eines elektrischen Zuges und zu nichts anderem. Der Rekordteufel wütete! In der ersten Stunde hatte Allan den Rekord für elektrische Züge gedrückt, den bis dahin die Züge Berlin-Hamburg behaupteten. In der zweiten war er den Weltrekorden der Flugmaschinen auf den Leib gerückt, in der dritten hatte er sie geschlagen.

Um fünf Uhr erreichte die Spannung einen zweiten Höhepunkt.

Auf der Projektionsfläche erschien telekinematographisch übermittelt die von greller Sonne durchflutete Bahnhofhalle der Bermudastation: wimmelnd von Menschen und alle sehen gespannt in die gleiche Richtung. Fünf Uhr zwölf taucht der graue Tunnelzug auf und fliegt herein. Allan steigt aus, plaudert mit Strom, und Strom und Allan steigen wieder ein. Fünf Minuten und der Zug fährt weiter. Ein Telegramm: »Allan erreicht Bermuda mit zwei Minuten Verspätung.«

Ein Teil der Banketteilnehmer ging nun nach Hause, die meisten aber blieben. Sie blieben über vierundzwanzig Stunden wach, um Allans Fahrt zu verfolgen. Viele hatten auch Zimmer in den Hotels gemietet und legten sich auf ein paar Stunden schlafen, mit dem Befehl, sie augenblicklich zu wecken, »im Falle etwas passierte«. Über die Straßen regneten schon die Extrablätter nieder. –

Allan war unterwegs.

Der Zug flog durch die Stollen, daß sie meilenweit vor und hinter ihm dröhnten. Der Zug legte sich in den Kurven zur Seite wie eine meisterhaft konstruierte Segeljacht: der Zug segelte. Der Zug stieg, wenn es in die Höhe ging, gleichmäßig und ruhig wie eine Flugmaschine: der Zug flog. Die Lichter im dunkeln Tunnel waren Risse in der Dunkelheit, die Signallampen buntglitzernde Sterne, die sich 401 in die runden Bugfenster des sausenden Torpedoboots stürzten, die Lichter der Stationen vorbeischwirrende Meteorschwärme. Die Tunnelmänner (verschanzt hinter den eisernen Rolltüren der Stationen), feste Burschen, die die große Oktoberkatastrophe trockenen Auges mitgemacht hatten, weinten vor Freude, als sie »old Mac« vorüberfliegen sahen.

Lloyd ließ sich um acht Uhr wecken. Er nahm sein Bad, frühstückte und rauchte eine Zigarre. Er lachte, denn hier gefiel es ihm. Endlich war er ungestört, endlich war er fern von den Menschen und an einem Ort, wohin niemand kommen konnte! Zuweilen promenierte er durch sein lichterblitzendes Appartement, zwölf Gemächer, die die Maschine hinter sich herschleppte und die von einer köstlichen, ozongesättigten Luft erfüllt waren. Um neun Uhr telephonierte ihn Ethel an und er unterhielt sich zehn Minuten mit ihr. (»Don't smoke too much, Pa!« sagte Ethel.) Dann las er die Telegramme. Plötzlich hielt der Zug. Sie stoppten in der großen Station im »heißen Stollen«. Lloyd sah durch ein Guckloch und unterschied eine Gruppe von Menschen, in deren Mitte Allan stand.

Lloyd dinierte, schlief und wieder hielt der Zug und die Fenster seines Salons waren geöffnet: er sah durch eine Glaswand hindurch auf ein blaues Meer hinaus und auf der andern Seite über eine unübersehbare Menschenmenge, die begeistert schrie. Azora. Sein Diener berichtete ihm, daß sie vierzig Minuten Verspätung hätten, da ein Ölbehälter leck geworden sei.

Hierauf wurden die Fenster wieder geschlossen. Der Zug stürzte sich in die Tiefe, und der alte, vertrocknete, kleine Lloyd begann vor Vergnügen zu pfeifen, was er seit zwanzig Jahren nicht getan hatte.

Von Azora an führte Strom. Er schaltete den vollen Strom ein und der Geschwindigkeitsmesser stieg auf 402 zweihundertfünfundneunzig Kilometer die Stunde. Die Ingenieure wurden unruhig, aber Strom, dem die Hitze in den heißen Stollen wohl die Haare abfressen konnte aber nicht die Nerven, ließ sich nicht ins Handwerk pfuschen.

»Es wäre eine Blamage, wenn wir zu spät kämen,« sagte er. Der Zug fuhr so rasch, daß er stillzustehen schien; die Lichter schwirrten ihm wie Funken entgegen.

Finisterra.

 

In New York wurde es wieder Nacht. Die Hotels füllten sich. Die Begeisterung raste, als das Telegramm die ungeheure Speed meldete. Würde man die Verspätung einholen oder nicht? Die Wetten stiegen ins Unsinnige.

Die letzten fünfzig Kilometer führte Allan.

Er hatte vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, aber die Erregung hielt ihn aufrecht. Bleich und erschöpft sah er aus, mehr nachdenklich als freudig: viele Dinge gingen ihm durch den Kopf . . .

In wenigen Minuten mußten sie ankommen und sie zählten Kilometer und Sekunden. Die Signallampen fegten vorbei, der Zug stieg . . .

Plötzlich blendete weißes, grausames Licht ihre Augen. Der Tag brach herein. Allan stoppte ab.

Sie waren mit zwölf Minuten Verspätung in Europa eingetroffen.

 

Ende

 


 << zurück