Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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3.

Lloyd selbst hatte S. Woolf an die Spitze des Syndikats geschoben, und damit war S. Woolfs Name für ewige Zeiten mit dem Tunnel verknüpft.

Sein Porträt erschien in den Abendblättern: ein würdevoller, ernster, etwas fetter Gentleman von orientalischem Typus. Wulstige Lippen, eine starke, gekrümmte Nase, kurzes, schwarzes, gekräuseltes Haar und kurzer schwarzer Bart; dunkle hervorquellende Augen von leicht melancholischem Glanz.

»Beginnt als Händler mit alten Kleidern – jetzt finanzieller Leiter des A. T. S. mit zweihunderttausend Dollar jährlich. Spricht zwölf Sprachen.«

Die Sache mit den alten Kleidern war ein Märchen, das S. Woolf selbst einmal scherzweise in die Welt gesetzt hatte. Aber ohne Zweifel kam S. Woolf von »da unten« herauf. Bis zu seinem zwölften Jahre hatte er als Samuel Wolfsohn 115 den Schmutz eines ungarischen Nestes, Szentes, an den Füßen herumgeschleppt und sich von Zwiebeln ernährt. Sein Vater war Leichenwäscher und Totengräber. Mit dreizehn Jahren kam er als Lehrling in eine Bank nach Budapest, wo er fünf Jahre blieb. Hier in Budapest begann ihn zuerst »der Rock zu zwicken,« wie er sich ausdrückte. Ausgehöhlt von Ehrgeiz, Verzweiflung, Scham und Machtgelüsten war er, krank von tollen Wünschen. Er sammelte sich zu einem verzweifelten Sprung. Obacht, nun kam er! Und Samuel Wolfsohn schuftete Tag und Nacht, die Zähne zusammengebissen, mit wütender Energie. Er lernte Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Russisch, Polnisch. Und siehe da, sein Gehirn saugte diese Sprachen ohne große Schwierigkeiten auf wie ein Löschblatt die Tinte. Er machte sich an Teppichhändler, Orangenverkäufer, Kellner, Studenten, Taschendiebe heran, um sich in der Aussprache zu üben. Sein Ziel war Wien! Er kam nach Wien, aber auch hier zwickte ihn der Rock. Er kam sich wie mit tausend Riemen gefesselt vor. Sein Ziel war Berlin! Samuel Wolfsohn ahnte die Marschroute. Er nagelte noch weitere hunderttausend Vokabeln in sein Gedächtnis und lernte die ausländischen Zeitungen auswendig. Nach drei Jahren gelang es ihm, gegen einen Hungerlohn als Korrespondent bei einem Börsenmakler in Berlin anzukommen. Aber auch in Berlin zwickte ihn der Rock! Hier war er plötzlich Ungar und Jude. Er sagte sich, daß der Weg über London führen müsse und bombardierte die Londoner Bankhäuser mit Offerten. Ohne Erfolg. Die in London brauchten ihn nicht, aber er, Samuel Wolfsohn, wollte sie zwingen, ihn zu brauchen. Sein Instinkt wies ihn auf Chinesisch hin. Sein Gehirn saugte auch diese schwierige Sprache auf; die Aussprache übte er mit einem chinesischen Studenten, dem er als Entgelt Briefmarken verschaffte. 116 Samuel Wolfsohn lebte elender als ein Hund. Er gab nie einen Pfennig Trinkgeld, er hatte den Mut, die frechste Schnauze eines Berliner Kellners zu überhören. Er nahm nie eine Elektrische, sondern schleppte sich heroisch auf seinen elenden, schmerzenden Plattfüßen, die voller Hühneraugen waren, dahin; er gab Sprachstunden für achtzig Pfennig, er übersetzte. Geld! Seine tollen Wünsche schüttelten ihn, sein Ehrgeiz knirschte, die kühnsten Verheißungen blendeten sein Hirn. Keine Pause, keine Erholung, kein Schlaf, keine Liebelei. Demütigungen und Züchtigungen, die das Leben über ihn verhängte, konnten ihn nicht mürbe machen, er krümmte den Rücken und richtete sich wieder auf. Entweder, oder! Plötzlich aber setzte er alles auf eine Karte! Er kündigte seine Stellung! Er bezahlte einem Zahnarzt dreißig Mark für eine Plombe und das Reinigen seines Gebisses. Er kaufte elegante Schuhe, ließ sich bei einem ersten Schneider einen englischen Anzug bauen und dampfte als Gentleman nach London. Nach vierwöchigen fruchtlosen Bemühungen stieß er hier bei Tayler and Terry, Bankers, auf einen Wolfsohn, der schon die Metamorphose hinter sich hatte. Dieser Wolfsohn sprach genau so viele Sprachen wie er und machte sich einen Spaß daraus, dem jungen Schwung das Genick zu brechen. Aber er brach es nicht. Es war der größte Erfolg seines Lebens. Der arrivierte Wolfsohn ließ einen chinesischen Dolmetsch kommen und versteinerte, als er hörte, daß die beiden eine regelrechte Unterhaltung führten. Drei Tage später war Samuel Wolfsohn wieder in Berlin, aber – if you please! – nicht, um dazubleiben! Er war nun Mr. S. Wolfson (ohne h) aus London, sprach ausschließlich Englisch und fuhr am selben Abend als nobler Reisender, der die Bedienung des Schlafwagens tyrannisierte, nach Schanghai weiter. In Schanghai fühlte er sich schon wohler. Er sah Luft, den 117 Horizont. Aber immer noch zwickte ihn der Rock ein wenig. Hier war er kein Engländer, so peinlich genau er auch seine Klubgenossen kopierte. Er ließ sich taufen, wurde Katholik, obgleich es niemand von ihm verlangte. Er machte Ersparnisse (der alte Wolfsohn konnte seine Leichenwäscherei aufgeben) und ging nach Amerika. Endlich konnte er frei atmen! Er hatte endlich einen weiten Rock an, in dem er sich wohlfühlte. Die Bahn war frei, alle Geschwindigkeitsenergien, die er in sich aufgespeichert hatte, konnte er entfesseln. Resolut stieß er die Endsilben seiner Namen ab, wie eine Eidechse den Schwanz, und nannte sich Sam Wolf. Damit aber niemand auf den Gedanken kommen sollte, er sei ein Deutscher, schob er noch ein o ein. Er verleugnete seinen englischen Akzent, ließ sich den englischen Schnurrbart rasieren und sprach durch die Nase; er gebärdete sich laut und gutgelaunt, er war der erste, der den Rock auszog und in Hemdärmeln über die Straße ging. Er lag wie ein Vollblutamerikaner im Thronsessel der Schuhputzer. Damit war aber die Zeit vorbei, da man ihn in jede beliebige Form pressen konnte, dreieckig, viereckig, kugelförmig, wie es sein mußte. S. Woolf stoppte ab. Er hatte diese Verwandlungen nötig gehabt, um er selbst zu werden. Punktum! Einige Jahre schuftete er an der Baumwollenbörse in Chikago, dann kam er nach New York. Ausgerechnet von hinten her, um den Erdball herum, war er dahin gekommen, wohin er gehörte. Seine Kenntnisse, sein Genie, seine unerhörte Arbeitskraft brachten ihn rasch in die Höhe, und nun preßte er mit seinen Patentsohlen fest und gehörig auf die Schultern unter ihm, genau so, wie man ihn gepreßt hatte. Er legte den lauten Brokerton ab, er wurde würdevoll, und zum Zeichen, daß er arriviert sei und tun könne, was er wolle, schaffte er sich ein individuelles Gesicht an: er ließ sich einen kurzen Backenbart stehen. 118

In New York widerfuhr ihm ein zweites Mal ein ähnliches Glück wie vor Jahren in London. Er stieß auf einen zweiten S. Woolf, aber auf einen S. Woolf von ungeheurem Kaliber. Er stieß auf Lloyd! Damals war er bei der Union-Exchange, keineswegs in erster Stellung. Aber das Glück wollte es, daß er ein kleines Manöver gegen Lloyd einzuleiten hatte. Er machte ein paar geschickte Schachzüge, und Lloyd – beschlagen in allen Eröffnungen dieser Art von Schachspiel, ein Kenner – fühlte, daß er es hier mit einem Talent zu tun hatte. Das war nicht die Taktik W. P. Griffith' und T. Lewis', nein –und als Lloyd anklopfte, kam S. Woolf heraus, und er sicherte sich dieses Talent. S. Woolf stieg und stieg – sein Auftrieb war so gewaltig, daß er nicht stillstehen konnte, bevor er nicht ganz oben war. So landete er im Alter von zweiundvierzig Jahren – etwas fett schon und asthmatisch, hartgebrannt vom Ehrgeiz – im Atlantik-Tunnel-Syndikat.

S. Woolf hatte auf seinem Weg nur einmal eine kurze Pause gemacht, und sie war ihm teuer zu stehen gekommen. Er hatte sich in Chikago in eine hübsche Wienerin verliebt und sie geheiratet. Aber die Schönheit der Wienerin, die seine Sinne entzündete, war bald verblüht, und nichts war geblieben als eine zänkische, arrogante, kränkelnde Ehefrau, die ihn mit ihrer Eifersucht bis aufs Blut peinigte. Genau vor sechs Wochen war diese Frau gestorben. S. Woolf trauerte ihr nicht nach. Er brachte seine zwei Söhne in eine Pension, nicht nach Europa etwa, sondern nach Boston, wo sie zu freien, gebildeten Amerikanern erzogen werden sollten. Er richtete einer lichtblonden Schwedin, die Gesang studierte, ein kleines Appartement in Brooklyn ein – und dann nahm er einen tiefen Atemzug und begann seine Tätigkeit im Syndikat.

Am ersten Tag schon kannte er Namen und Personalien 119 seines ungeheuren Stabs von Subdirektoren, Prokuristen, Kassierern, Buchhaltern, Clerks, Stenotypistinnen, am zweiten Tag hatte er sämtliche Zügel in die Hand genommen und am dritten Tage war es, als ob er diesen Posten schon seit Jahren bekleidete.

Lloyd hatte S. Woolf empfohlen als den bedeutendsten Finanzpraktiker, den er in seinem Leben kennen gelernt habe, und Allan, dem die Persönlichkeit S. Woolfs fremd und wenig sympathisch war, mußte schon nach wenigen Tagen gestehen, daß er, wenn nicht mehr, zum mindesten ein bewundernswerter Arbeiter war.

 


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