Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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4.

Die Männer mit den beschmutzten gelben Gesichtern, die aus dem Tunnel kamen, wurden umringt und mit tausend Fragen bestürmt, die sie nicht beantworten konnten. Hundertmal mußten sie erzählen, was sie von dem Unglück wußten, und es war doch mit zehn Worten zu sagen. Frauen, die ihren Gatten fanden, warfen sich ihm an den Hals und zeigten ihre Freude ganz offen den andern, die noch in entsetzlicher Ungewißheit schwebten. Die Angst irrte in ihren Zügen, sie wiederholten hundertmal die Frage, ob man ihren Mann nicht gesehen habe, sie weinten still, sie liefen hin und her und schrien und stießen Verwünschungen aus, und wieder standen sie still und starrten die Trasse hinab, bis sie die Angst von neuem umhertrieb.

Man hoffte noch immer; denn daß »alle in den letzten dreißig Kilometern tot waren,« hatte sich schon als Übertreibung herausgestellt.

Endlich kam auch jener Zug herauf, dessen Abfahrt Ingenieur Bärmann so lange verhindert hatte, bis man ihn niederschoß. Dieser Zug brachte den ersten Toten mit, einen Italiener. Aber dieser Italiener hatte nicht bei der Katastrophe sein Leben eingebüßt. Er hatte mit einem Landsmann, einem amico, ein verzweifeltes Messergefecht um einen Platz auf einem Waggon geführt und den Landsmann niedergestochen. Der stürzende amico hatte ihm den Leib aufgeschlitzt und auf der Ausfahrt war er gestorben. Immerhin war er der erste Tote. Der Photograph der Edison Bio kurbelte.

Als der Tote in das Stationsgebäude getragen wurde, ereignete sich eine seelische Explosion in der Menge! Die Wut flammte auf! Und plötzlich schrien alle (genau wie die 213 Leute im Tunnel). »Wo ist Mac? Mac muß bezahlen!« Da bahnte sich eine hysterisch schreiende Frau den Weg durch die Weiber und rannte dem Toten nach, während sie sich die Haare in Büscheln ausriß und den Bettkittel zerfetzte.

»Césare! Césare –!« Ja, es war Césare.

Als die erregten Arbeiterhorden des Bärmannschen Zuges (zumeist Italiener und Neger) aber erklärten, daß kein Zug mehr käme – wurde es ganz still . . .

»Kein Zug mehr?«

»Wir sind die letzten!«

»Was seid ihr?«

»Die letzten!! Wir sind die letzten!«

Es war, als sei ein Hagel von Kartätschen über die Menge niedergegangen. Alle stürzten hin und her, sinnlos, verstört, die Hände an den Schläfen, als seien sie in den Kopf getroffen.

»Die letzten!! Sie sind die letzten!«

Weiber fielen zu Boden und jammerten, Kinder weinten; bei andern flammte aber sofort die Rachgier auf. Und plötzlich setzte sich die ganze ungeheure Menge in Bewegung und eine Wolke von Geschrei und Lärm zog über ihr her.

Ein dunkelhäutiger viereckiger Pole mit martialischem Schnurrbart stieg auf einen Steinblock und brüllte: »Mac hat sie in einer Mausefalle gefangen – in einer Mausefalle – Rache für die Kameraden!«

Der Haufe tobte. In jeder Hand befand sich plötzlich ein Stein, die Waffe des Volkes, und Steine gab es hier genug. (Einer der Gründe, weshalb man in Großstädten gerne asphaltierte Straßen anlegt!)

In den nächsten drei Sekunden war kein Fenster des Stationsgebäudes mehr ganz.

»Heraus mit Harriman!« 214

Aber Harriman ließ sich nicht mehr sehen.

Er hatte nach der Miliz telephoniert, denn die paar Polizisten der Tunnelstadt waren machtlos. Nun saß er bleich und keuchend in einer Ecke und vermochte nicht mehr zu denken.

Man stieß Schmähungen gegen ihn aus und machte Miene, das Haus zu stürmen. Da aber hatte der Pole einen anderen Vorschlag: Die Ingenieure alle zusammen waren ja schuld! Man sollte ihnen die Häuser über dem Kopfe anzünden und ihre Weiber und Kinder verbrennen!

»Tausende, Tausende sind tot!«

»Alle müssen sie hin werden!« schrie die Italienerin, deren Mann erstochen worden war. »Alle! Rache für Césare!« Und sie rannte voran, eine Furie aus Kleiderfetzen und zerzausten Haaren.

Die Menge wälzte sich über das Schuttfeld in den grauen Regen hinein, umheult von wirrem Lärm. Die Gatten, die Ernährer, die Väter tot – Not, Elend! Rache! Aus dem Lärm klangen Fetzen von Gesang, Rotten sangen an verschiedenen Stellen gleichzeitig die Marseillaise, die Internationale, die Union-Hymne. »Tot, tot, Tausende tot!«

Eine blinde Wut zu zerstören, niederzureißen und zu töten war in dem erregten Volkshaufen entflammt. Geleise wurden aufgerissen, Telegraphenstangen niedergemäht, die Wächterhäuser weggefegt. Sobald es krachte und splitterte, brandete ein wilder Jubel empor. Die Polizisten wurden mit Steinblöcken bombardiert und ausgepfiffen. Es schien, als hätten alle in der Wut plötzlich ihren Schmerz vergessen.

Voran aber stürmten die wildesten Rotten, wildgewordene fanatische Weiber, den Villen und Landhäusern der Ingenieure entgegen. 215

 

Zu dieser Zeit aber ging das verzweifelte Rennen unter dem Meer weiter. Alle, die das stürzende Gestein, Feuer und Rauch am Leben gelassen hatten, rannten unaufhörlich vorwärts, vor den Zehen des Todes her, der seinen beizenden Atem vorausschickte. Einzelne Wanderer gab es da drinnen, die zähneklappernd, mit gesträubten Haaren vorwärtsstolperten, Paare, die schrien und weinten, Horden, die mit pfeifenden Lungen hintereinander herkeuchten, Verwundete, Krüppel, die um Barmherzigkeit bittend am Boden lagen. Manche blieben stehen, gelähmt von der Angst, daß niemand diese ungeheure Strecke zu Fuß zurücklegen könne. Manche gaben es auf. Sie legten sich hin, um zu sterben. Es gab aber gute Läufer, die ihre Schenkel wie Pferde schwangen und die andern überholten, beneidet, verflucht von den Erschöpften, deren Knie wankten.

Die Rettungszüge ließen die Glocken gellen, um zu signalisieren, daß sie kämen. Aus der Dunkelheit stürzten Menschen auf sie zu, schluchzend vor Erregung, gerettet zu sein. Da der Zug aber in den Tunnel hineinfuhr, so wurden sie nach einer Weile von der Angst geschüttelt und sprangen ab, um den zweiten Zug zu Fuß zu erreichen, der, wie man ihnen sagte, fünf Meilen entfernt wartete.

Der Rettungszug kam nur langsam vorwärts. Denn die entsetzten Mannschaften der letzten ausfahrenden Züge hatten, um Platz in den Waggons zu gewinnen, viel Gestein hinausgeworfen, so daß die Strecke erst freigelegt werden mußte. Und dann kam der Rauch! Er ätzte, beizte, das Atmen wurde schwer. Aber der Zug fuhr vorwärts, bis die Scheinwerfer die Mauer von Qualm nicht mehr zu durchdringen vermochten. Auf diesem Rettungszug befanden sich kühne Ingenieure, die ihr Leben in die Schanze schlugen. Sie sprangen vom Zug, eilten mit Rauchmasken versehen weiter in den verqualmten Stollen hinein und 216 schwangen Glocken. In der Tat gelang es ihnen, kleine erschöpfte Truppe, die schon jede Hoffnung aufgegeben hatten, zu der letzten Anstrengung, noch tausend Meter bis zum Zug zurückzulegen, anzupeitschen.

Dann mußte auch dieser Zug weichen. Eine ganze Anzahl dieser Ingenieure erkrankte an Rauchvergiftung und zwei starben über Tag im Hospital.

 


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